Baalschem von Michelstadt – Kapitel 8 – Goldsticker und die Räuber

Datum: | Autor: Judäus (Rabbiner Dr. Herz Naftali Ehrmann) | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Goldsticker

Kapitel 8

Als Schotten und Goldsticker von den Segenswünschen des Rabbi begleitet, diesen verlassen hatten, waren beide so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie einige Minuten schweigend nebeneinander hergingen. Schotten brach das Schweigen zuerst.

„Ich werde mit der nächsten Post nach Frankfurt fahren, wo ich heute noch vor Einbruch der Nacht einzutreffen hoffe, und was gedenkt Ihr zu tun? Ihr werdet doch dem Rat des Rabbi folgen?“

„Es bleibt mir nichts anderes übrig“, entgegnete Goldsticker, „denn ich müsste mir ja ewig Vorwürfe machen, wenn ich es nicht täte und mir das Geringste auf dem Wege passierte. Aber ich gestehe Euch, dass es mir leid ist, den Rabbi gefragt zu haben. Habt Ihr schon einmal so etwas gehört? Ich, der ich froh bin, wenn die Räuber mich in Ruhe lassen, ich soll sie jetzt noch selber aufsuchen! Meint man nicht, der Rabbi stünde in irgendeiner Verbindung mit den Räubern, wenn man ihn reden hört, und das glaubt Ihr doch selber nicht.“

„Ich begreife Euch nicht, Reb Sander, wie Ihr so reden könnt“, entgegnete Schotten. „Wenn Euch der Rabbi seine besten Segenswünsche mitgegeben hätte, so hättet Ihr sie doch nicht für viel mehr als fromme Wünsche gehalten. Jetzt gibt Euch der Rabbi einen direkten Auftrag, den Ihr nur zu befolgen braucht, um von den Räubern nicht gefährdet zu werden, und Ihr besinnt Euch noch?“

„Aber Ihr werdet doch zugeben, dass das ein höchst eigentümlicher Auftrag ist.“

„Gewiss gebe ich das zu; es ist mir so unverständlich wie Euch. Aber was will das sagen? Werdet Ihr Bedenken tragen, das unverständliche, lateinische Rezept Eures Doktors in der Apotheke herstellen zu lassen und es dann zu nehmen, um Eure Gesundheit wieder zu erlangen? Habt Ihr zudem Rabbi nicht wenigstens dasselbe Vertrauen, das Ihr zu einem Arzt habt? Je unerklärlicher uns das Ganze ist, umso verständlicher und klarer ist es dem Rabbi. Ich bin sicher, Ihr werdet auf Eurer Reise die Lösung des Rätsels erfahren, und ich hätte nur die Bitte an Euch, wenn dies der Fall sein wird, mir davon auch Mitteilung zu machen.“

Mit diesem Wunsch und der Zusage ihn sicher zu erfüllen, verabschiedeten sich die beiden Freunde. Goldsticker hatte den Wagen, in dem er mit Schotten gekommen war, behalten, um mit ihm direkt nach Koblenz zu fahren. Bis nach Kreu nach ging die Reise glatt ohne jedes Hindernis vor sich. Schotten hatte die Absicht, in Simmern, das ungefähr in der Mitte zwischen Kreuznach und Koblenz liegt, zu übernachten und hoffte noch vor Einbruch der Nacht dort einzutreffen.

Etwa eine Stunde von Simmern entfernt wurde der Wagen plötzlich von einem bewaffneten Räuber angehalten.

„Im Namen unseres Hauptmannes Johannes erkläre ich den Hebräer und seine ganze Habe, die er mit sich führt, als Eigentum des Hauptmannes. Wenn er gutwillig alles herausgibt, so lasse ich ihm Ross und Wagen, und er kann mit seinem Kutscher weiterfahren. Bei dem geringsten Widerstand schieße ich ihn und den Kutscher nieder; wir vergießen aber sehr ungern Blut und Ihm wird es wohl auch so gehen.“

Während dieser Worte nahm der Kutscher unbemerkt unter seinem Brette eine geladene Pistole hervor und schoss sie auf den Räuber, ohne ihn jedoch zu treffen. Der Schuss lockte sofort drei in der Nähe postierte Räuber herbei, die auf den Kutscher lossprangen und ihn fesselten.

„Habt Ihr’s Euch überlegt?“ fragte der erste Räuber an Goldsticker gewandt.

„Wenn Sie im Auftrage Ihres Herrn Hauptmannes handeln, so gehört nicht nur all mein Geld und Gut, sondern auch Ross und Wagen Ihrem Herrn; jedoch nur unter einer einzigen Bedingung.“

„Bedingungen zu stellen, das ist unsere Sache, wir lassen uns keine vorschreiben,“ unterbrach ihn barsch der Räuber.

„Vielleicht besinnt Ihr Euch doch eines andern,“ entgegnete Goldsticker mit einer zur Schau getragenen Gleichgültigkeit und entschiedener Festigkeit, „wenn Ihr meine Bedingung hört.“

„Wir haben nicht viel Zeit,“ fuhr ihn der Räuber unwillig an, „sagt Euer Sprüchlein her, aber macht’s kurz.”

„Ich reise hier durch den Wald, weil ich einen Auftrag an Hauptmann Johannes durch den Wald habe, den ich selber übermitteln muss. Ihr kommt mir gerade recht. Führt mich mit meinem Wagen zu Eurem Herrn. Wenn ich ihn sprechen und meinen Auftrag ausrichten kann, so ist mir das wichtiger als alle Wertsachen, die ich bei mir habe. Wenn Ihr wirklich im Auftrag Eures Herrn kommt, so soll dieser über alles, was ich bei mir habe, nach Gutdünken verfügen.“

Die Räuber wechselten einen kurzen überraschten Blick.

Die Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit welcher ihr Gefangener sich plötzlich in einen Gebieter verwandelt hatte, imponierte ihnen. Aber so schnell fügten sie sich nicht.

„Da könnte jeder kommen“, hub einer von ihnen bedenklich an, und könnte sich als Vertrauten des Hauptmannes ausgeben. Meint Er denn, wir seien dazu noch so dumm und verraten den Aufenthalt des Herr und Meisters? Und wenn Er nun ein lumpiger Spion ist, der den Aufenthalt unseres Herrn auskundschaften möchte, um ihn dann zu verraten? So gescheit wie die Hebräer sind wir auch. Wenn Er wirklich den Hauptmann aufsuchen will, so muss Er ja wissen, wo er ist, und dann braucht Er unsere Führung nicht. Wie heißt Er denn? von wannen kommt Er und wohin zieht Er? Nein, aus dem Handel wird nichts!“

Der Räuber gab seinen Genossen ein Zeichen, die Kisten und Koffer aus dem Wagen zu nehmen.

Goldsticker trat zwischen den Wagen und seine Plünderer und sagte ihnen:

„Ihr seid schlechte Diener Eures Herrn; wenn Ihr nur wenigstens so gescheit wäret, mich und meinen Kutscher auf der Stelle tot zu schlagen. Denn wenn Ihr das nicht tut, so habt Ihr Euch selber eine böse Suppe eingebrockt. Ich werde Euren Herrn früher oder später finden und ihm dann erzählen, was er für ein Gesindel befehligt. Wie könnt Ihr nur so dummes Zeug schwätzen und mich als Spion verdächtigen!“

„Habt Ihr schon einmal gehört, dass ein Hebräer den Schinderhannes verraten hat? Und wenn ich ein Verräter wäre, habt Ihr nicht Mittel und Wege genug, mich zu entlarven und dann zu bestrafen? Wenn es sich herausstellt, dass ich keinen Auftrag an Euren Herrn habe, so wird er wohl Mann genug sein, mich zur Rechenschaft zu ziehen und braucht nicht erst auf solche Helfershelfer zu warten, wie Ihr seid. Das sind lauter Finten und Ausflüchte. Ihr wollt meine paar Silbersachen gar für Euch allein bei Seite schaffen und die Beute nicht Eurem Herrn bringen, das alles werd’ ich ihm sagen, wenn Ihr mich nicht auf der Stelle niederschlägt.“

Eine solche Redeweise war den Räubern noch nicht vorgekommen, sie waren verdutzt und wussten nicht, was sie tun sollten. Sie traten zur Seite und berieten sich einige Minuten leise miteinander. Als sie mit ihrer Beratung zu Ende waren, trat ihr Wortführer wieder vor Goldsticker hin und sprach:

„Wie können wir mit Euch verhandeln, wir wissen ja nicht einmal, wer Ihr seid, wie Euer Name und Euer Wohnort ist?“

Diese Worte waren bereits in einem ganz andern Tone gesprochen, der Goldsticker mehr als die gesprochenen Worte sagte, dass er Herr der Situation war.

„Schwätzt doch nicht so kindisch,“ erwiderte er dem Sprecher. „Dass Ihr mich nicht kennt, braucht unsere Unterhaltung nicht zu stören. Ich kenne Euch ja auch nicht und verhandle doch mit Euch, ich habe nicht einmal ein Verlangen danach, Euch kennen zu lernen. An dem, was ich von Euch bis jetzt gesehen, habe ich mehr als genug, um nicht mehr wissen zu wollen. Wenn Ihr aber nicht so denkt und über mich mehr wissen wollt, so sollt Ihr es erfahren, aber nicht von mir, sondern von Eurem Herrn. Wenn er Eure Neugierde befriedigen will, so habe ich nichts dagegen, aber jetzt haltet mich nicht unnötig auf und führt mich zu Eurem Herrn. Zwei von Euch haben noch in meinem Wagen Platz, der dritte kann sich zum Kutscher auf den Bock setzen und nun nehmt aus meiner Feldflasche noch einen Schluck echten Nordhäuser, dann aber wollen wir weiter.“

Der Nordhäuser hatte die letzten Bedenken der Räuber hinweggespült, und in wenigen Minuten hatte sich die eigentümliche Gesellschaft auf den Weg gemacht. Kurz vor Simmern bog der Weg rechts ab und fuhr nun in eine Landstrasse, die Goldsticker unbekannt war, und die er auch wegen der inzwischen eingebrochenen Nacht nicht genauer ins Auge fassen konnte. Sie fuhren fast fünf Stunden kreuz und quer durch große dichte Wälder und hielten dann in einer Waldlichtung, in der ein großes Lagerfeuer brannte, um welches sich etwa zwanzig Räuber zum Teil mit geschwärzten Gesichtern gelagert hatten.

Hier machte der Wagen Halt.

Die Räuber verließen den Wagen und wechselten einige Worte mit den am Feuer hingestreckten Genossen; dann kam einer von ihnen zu Goldsticker mit der Mitteilung zurück, der Hauptmann weile heute Nacht in einer eine halbe Stunde von da entfernten Felsenhöhle. Der dahinführende Weg sei unfahrbar, er solle seinen Wagen und Kutscher ruhig hier zurücklassen. Seine Sachen seien hier so sicher geborgen, wie die Bibel auf dem Altar, er solle ihm nur folgen, es sei ein schmaler, steiler Felsenpfad, den sie zu passieren hätten, aber selbst in der Dunkelheit sei der Pfad nicht gefährlich, zumal er jeden Stein hier kenne.

Goldsticker verließ seinen Wagen, der sein ganzes Vermögen enthielt, und ging festen Schrittes neben seinem Führer her. Dieser hob, nachdem sie einige Minuten schweigend aufwärts geschritten waren, plötzlich an.

„Sie werden es uns doch nicht nachtragen, dass wir Sie anfänglich mit Misstrauen behandelt haben und es uns nicht entgelten lassen. Legen Sie für uns ein gutes Wort bei dem Hauptmann ein, das wird uns sehr zu statten kommen, jedenfalls aber erheben Sie keine Klage über uns.“

Goldsticker versprach alles mit der Miene eines Mannes, der das Leben seines bis an die Zähne bewaffneten, ihm an Körperkraft fünffach überlegenen Räubers vollständig in Händen hatte.

In Wirklichkeit war ihm aber bei dem Handel gar nicht wohl. In wenigen Minuten wusste er sich vor dem mächtigen, weit und breit gefürchteten Räuberhauptmann. Was schert sich der um den Baal-Schem von Michelstadt und seine eigentümlichen Aufträge? Dabei war sein ganzes Vermögen bereits in den Händen der Räuber, und er musste sich glücklich schätzen, wenn er nur dieses und nicht auch das Leben verliere. Dieses Vermögen belief sich auf etwa 8000 Gulden, eine Summe, die damals einen Wert repräsentierte wie heute etwa der zehnfache Betrag.

Als sie oben an dem Eingang der Höhle des Räuberhauptmannes angekommen waren, machte Goldsticker Halt und sprach halblaut zu sich selber in der heiligen Sprache:

„Unsere Weisen sagen, man legt sich ein Gelübde auf im Augenblick der Not. Wenn Du, himmlischer Vater, mich und mein Besitztum aus dieser Gefahr errettest, so werde ich die Hälfte desselben den Armen und andern wohltätigen Zwecken zuwenden.“

Dieses Gelöbnis gab ihm neuen Lebensmut und zuversichtlich trat er in die Höhle ein, die von mehreren Kienspänen dürftig erleuchtet war.

Sie war ziemlich geräumig und in der Mitte derselben saß auf einem über zwei Fässern gelegten Brett der Schinderhannes neben einem etwa siebzehnjährigen Mädchen, das ihm als die Frau des Hauptmannes von seinem Begleiter bezeichnet wurde. In der Höhle lagen Kleider, Teppiche und Geräte aller Art in Unordnung umher. Auch ein Tisch und eine Kommode sowie ein Bett befand sich darin, aber durch den Rauch der Kienspäne, der keinen rechten Abzug hatte, war der Hauptmann selbst auf den ersten Blick nicht sichtbar.

Als Goldsticker sich einige Schritte genähert hatte, trat auch die Person des Räuberhauptmannes und seine Genossin aus dem dichten Qualm deutlicher hervor. Goldsticker, der einen wetterfesten, im besten Mannesalter stehenden Riesen erwartet hatte, war erstaunt, als er einen jungen, schmächtigen Menschen erblickte, der kaum älter als zwei- bis dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. Aber es war kein Zweifel, er hatte den leibhaftigen Schinderhannes vor sich, denn sein Begleiter trat einen Schritt vor und meldete mit der Haltung eines Soldaten vor seinem Vorgesetzten:

„Dieser Hebräer hat mich um Vorführung vor den Herrn Hauptmann ersucht, er habe eine direkte Botschaft zu überbringen. Sein Wagen und Kutscher halten am Lagerplatz.“

Nach diesen Worten trat der Räuber zurück und Goldsticker trat vor den Hauptmann.

Dieser schien nach seinem geröteten Gesicht und seinen glühenden Augen viel getrunken zu haben. Die Botschaften, die er in der Regel erhielt, waren Mitteilungen über Güter und Bauernhöfe die zu brandschatzen waren, oft auch waren es Warnungen vor Verfolgungen, welche die Behörden gegen die Räuberbande planten. Der Schinderhannes mochte ähnliches erwartet haben und fragte, nachdem er einen musternden Blick auf Goldsticker geworfen hatte, mit zur Schau getragener Gleichgiltigkeit und Nachlässiskeit:

„Von wem habt Ihr mir eine Botschaft zu bringen?“

„Von dem Manne“, erwiderte Goldsticker, „der dem Herrn Hauptmann zwischen Seligenstadt und Babenhausen einmal Reis zu essen gab.“

Bei diesen Worten schnellte der Räuberhauptmann mit einer Plötzlichkeit in die Höhe, dass das Brett, auf dem er mit seiner Gefährtin saß, das Gleichgewicht verlor und diese zu Boden fiel. — Schinderhannes gab dem noch immer am Eingang postierten Räuber ein Zeichen, dass er mit dem Frauenzimmer die Höhle verlassen solle, was sofort geschah.

„Wenn Ihr von diesem Manne kommt“, begann der Hauptmann, der alle Trunkenheit abgelegt zu haben schien, „so habt ihr mir gewiss eine Mitteilung unter vier Augen zumachen. Um was handelt es sich?“

„Mein Auftraggeber“, entgegnete Goldsticker, „lässt den Herr Hauptmann durch mich an sein Versprechen erinnern, die Juden zu schonen. Er hat nämlich gehört, dass dieses Versprechen wiederholt gebrochen worden ist.“

Diese wenigen Worte machten auf den Räuber einen Eindruck, der alle Erwartungen hinter sich zurück ließ. Lautlos stand er mit niedergeschlagenen Augen einige Minuten wie ein abgekanzelter Schulknabe da. Dann erhob er den Blick und heftete ihn wie bittend auf Goldsticker, indem er fragte:

„Wo lebt der Mann? Wie heißt er? Welche Stellung bekleidet er?“

Diese vollkommene Unkenntnis machte Goldsticker stutzig. Seine Eigenschaft als Baal-Schem war es also nicht, die dem Auftrag seines Auftraggebers einen solchen Einfluss verlieh. Wenn aber der Baal-Schem Ursache hatte, den Räuberhauptmann über sich nicht aufzuklären, so glaubte sich Goldsticker zu derselben Zurückhaltung verpflichtet. Er erwiderte deshalb kurz:

„Zur Beantwortung dieser Frage habe ich keinen Auftrag.“

„Keinen Auftrag?“ wiederholte finster der Räuberhauptmann. „Wenn ich Euch aber hiermit den Auftrag dazu gebe, werdet Ihr Euch auch dann noch weigern?“

„Auch dann würde ich mich weigern, bis ich die Erlaubnis von der einzigen Seite hätte, die mich dazu allein beauftragen kann,“ entgegnete furchtlos Goldsticker.

„Respekt vor Euch!“ rief ihm der Hauptmann zu. „Ihr seid ein wackerer, furchtloser Mann. Hat er Euch die Geschichte mit dem Reis erzählt?“

„Nein, davon weiß ich nichts. Ich weiß nicht mehr, als ich dem Herrn Hauptmann berichtet habe.“

„Das ist schön von Eurem Herrn, dass er sie Euch nicht erzählt hat. Aber ich will sie Euch erzählen, damit Ihr wisst, woher meine Achtung vor Eurem Herrn datiert, ob ich nun seinen Namen und Wohnung weiß oder nicht.“

Bei diesen Worten legte der Schinderhannes das Brett wieder auf die Fässer und lud seinen Gast ein, neben ihm Platz zu nehmen, um sein Abenteuer zwischen Seligenstadt und Babenhausen anzuhören.

Fortsetzung folgt ijH

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