Sinn der Mizwa von „Orla“ – Eile mit Weile
„Wenn ihr in das Land [Jisrael] kommt und pflanzet irgend einen Baum essbarer Frucht, so sollt ihr seine Frucht als „Vorhaut“ betrachten; drei Jahre soll sie euch als Vorhaut gelten und darf nicht gegessen werden. Im vierten Jahr seien alle seine Früchte ein Heiligtum zur Lobpreisung für Haschem, und im fünften Jahr dürft ihr seine Frucht essen……“ (19,23-25)
Der Ramban erklärt unter anderem, dass diese Mizwa im Prinzip den selben Zweck wie viele andere Mizwot verfolgt – jeweils den ersten Teil des Ertrag seiner Ernte und Besitzes Hkb“H zu schenken. So wie die Abgabe der Erstlingsfrüchte (Bikurim) an den Kohen, die Teruma- und Ma’aßrot-Abgabe der Ernte, die Chala-Abhebe vom Teig, die Ma’aßer-Abgabe der neugeborenen Kälber (Ma’aßar Behema), die erste Schurwolle der Schafe (Reschit haGes) etc. Damit wird G‘tt als der eigentliche Herr und Besitzer all seines Vermögens anerkannt, für Seine grosszügige Güte gepriesen, und zugleich gedankt, dass Er den Menschen als seinen Verwalter eingesetzt hat. Genauso soll mit dem ersten Ertrag eines neu gepflanzten Obstbaumes Haschem als Herr und Meister gehuldigt werden.
Da aber die Früchte in den ersten drei Jahren eines Baumes noch nicht imstande sind, essbare Reife und Qualität zu erlangen, kann ein würdiges G’ttesgeschenk erst im vierten Jahr erfolgen.
Aus diesem Grund können die Früchte der ersten drei Jahre nicht gegessen werden, denn wie kann von einem Baum genossen werden, bevor dessen Herrn gehuldigt und dessen Besitzer anerkannt wurde?!
Einen weiteren Aspekt und Gedankenzug zu dieser Mizwa finden wir im Kommentar von Raw S.R. Hirsch sZl., der den Begriff von „Orla“ im allgemeinen als „Gehindertsein“ betrachtet: der Mensch wird am Gebrauch seiner ihm unterstehenden Objekte und seines Besitzes gerhindert. So wird der Mensch auch mit einer „Vorhaut“ (Orla) geboren, oder er kann auch ein „Aral Lew”, “Aral Sefatajim” oder “Aral Osen“ sein, wie die in der Tora vorkommenden Ausdrücke heißen: D.h. er besitzt manchmal ein „unbeschnittenes/verstopftes Herz“, „verstopfte Lippen“, „verstopfte Ohren“ oder ist überhaupt in seinem ganzen Wesen ein Unbeschnittener, dessen ‘Neschama‘ seelisch mit irdischen Gelüsten und Neigungen verstopft ist. Folglich ist er ein „Orel“, der am richtigen Gebrauch seines Wesen, seiner Neschama oder eines gewissen Objekts gehindert wird. Er kann seinen Körper und Geist nicht richtig entfalten und zum G’ttesdienst einsetzen – er bleibt – G’tt behüte – ein geistiger Krüppel!
Um einen solchen geistigen Untergang entgegen zu wirken, kommt die Mizwa von „Orla“ und lehrt uns den richtigen Weg zur ‘Awodat Haschem‘ (G‘ttesdienst).
Drei Jahre wartet der jüdische Mensch, nachdem er einen Baum gepflanzt hat, bis er von ihm genießen kann. Indem er sich auf G’ttes Geheiß in Enthaltsamkeit hinsichtlich seines Baumes übt, lernt er zugleich drei Jahre lang die für Sittlichkeit des Genuss nötige Selbstbeherrschung. Genauso wie man vom Teig nicht sofort – vor der Abgabe der Chala – geniessen kann, und von der Ernte vor Abgabe der Terumot und Ma’aßrot etc., verlangt die Tora eine Selbstbeherrschung und Zurückhaltung bei einem neu eingepflanztem Baum[1].
Der echte G’ttesdiener geniesst nichts von den Genüssen dieser Welt, ohne zuvor eine gewisse Distanz gezeigt zu haben. Zuerst muss die Frage des Besitzes geklärt werden, um sicher zu gehen, dass man es überhaupt verwenden darf. Dann muss das „Kaschrut“ abgeklärt werden, danach die ‘Haschkafat haTora‘ (Anschauung der Torah) des richtigen Gebrauch der Sache, und dann folgt zumeist eine Beracha vor dem Genuss oder der Nutzung. Oft ist es gar nicht das effektive Verbot des Genusses oder der Benutzung einer gewissen Sache, die das eigentliche Problem darstellt, sondern die Eile des Menschen, das kopflose Hineinstürzen ohne jegliche Bedenken.
„Warte doch einen Moment, überprüfe alles nochmals! Braucht man es wirklich? Wie und wann benutzt man es? Darf man es jetzt überhaupt essen oder benützen? Welche Beracha macht man darüber?“
Selbstverständlich muss man nicht immer drei Jahre wie bei „Orla“ zuwarten und darf es dann erst im vierten Jahr und nur in Jeruschalajim essen oder benutzen. Doch die Lehre ist die Gleiche: Der Jehudi darf nie überstürzt handeln, stattdessen soll er bedachtsam in seinem Handeln und Walten sein. Genau wie die Vorbereitung der Speisen viel länger als der effektive Genuss dauert, benötigen die Mizwot und Taten viel größere Vorbereitungen als deren effektive Ausübung dauert.
Der Mensch muss sich daher vor jeder Sache – wie vor der Orla – zuerst ein wenig distanzieren und sie genauestens abschätzen. Sich innerlich und äußerlich vorbereiten und darauf einstellen, und selbst dann bei der Genuss und Nutzung soll es wie im vierten Jahr des Baumes „Kodesch Hilulim laSchem“, gemäss der ‘Haschakafa der Torah‘ benutzt und genossen werden. So, dass deren Benutzung eine Beracha – eine Huldigung und Lobpreisung zu Hkb“H bedeutet!
Wer in all seinen Taten und Wandeln gemäss der Lehre der Orla handelt, aus dessen Körper und Seele wird jegliche Orla weichen und er wird kein verstopftes Wesen mehr besitzen. Nunmehr wird sein Herz, Lippen und Ohren zum G’ttesdienst geöffnet sein!
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Siehe Gemara Bejza 25b und Raschi zur Stelle ↑