Der grosse Mekubal Rabbi Mosche Chajim Luzzato sZl. (Ramcha“l) schreibt in seinem bekannten Mussar-Sefer Messilat Jescharim:
„Achtsam muss der Mensch sein. Bei allem, was er unternimmt, muss er auf der Hut sein, auf jeden Schritt und auf jede seiner Handlungen sorgsam achten, ob sie auch recht sind, damit die Seele nicht ‚chalila‘ der Gefahr des Verderbens ausgesetzt ist. Das sagt einem ja auch der gesunde Menschenverstand! Hat der Mensch die Erkenntnis und die Vernunft, sich selbst und seine Seele vor dem Untergang zu retten, wie sollte er da sein Auge vor der Rettung schliessen? Das wäre ja die größte Torheit![1]
Was führt den Menschen zur Achtsamkeit? „Torah mewi’a lijde Sehirut“ – „Die Torah bringt zur Achtsamkeit“, heisst es im bekannten Spruch von Rabbi Pinchas ben Ja’ir[2].
Aber es gibt drei Dinge, die der Achtsamkeit hinderlich sind und ihr im Weg stehen: Geschäftigkeit, Scherz und Spottlust (Leichtsinn), und schlechte Gesellschaft…“[3]
Am Ende der Parschat Emor berichtet die Torah über die schockierende Geschichte des „Mekalel“, des Fluchenden. Die Erzählung dieser Tragödie beginnt mit dem Wort (Wajikra 24,10) „Wajeze“ – „Er ist hinausgegangen“.
Raschi zitiert hierzu drei Ansichten unserer Weisen sl.: a) Er trat aus seiner Welt, b) er trat aus der früheren Parscha, da er über die Mizwa der „Lechem haPanim“ (Schaubrote) spottete oder c) er trat schuldig aus dem Gericht von Mosche Rabenu hervor, da der Stamm ‚Dan‘ ihn nicht in ihrem Lager wohnen lassen wollte.
Mit diesem einen Wort lehrt uns die Torah drei wichtige Lehren, die wir aus der Begebenheit mit dem „Mekalel“ ziehen sollen:
Wie kam der Fluchende überhaupt zu einer solch schweren Awera (Sünde)? Chasal lehren uns, dass es nicht der Weg des ‚Jezer haRa‘ (Trieb zum Bösen) ist, den Menschen gleich zu einer grossen Sünde zu überreden, da er dies wohl kaum ohne Weiteres gleich tun würde. Vielmehr beginnt er ihn anfangs zu ganz kleinen Sünden zu verleiten, die kaum erkennbar sind, und geht dann zu immer schwereren Sünden über, wenn der Mensch nicht aufmerksam genug ist, um es zu bemerken. So verstrickt sich der Sünder dann immer mehr in die Sünde, von einer Awera zur anderen, bis es der Jezer haRa auch mit schwerwiegenden Sünden versucht[4].
Das erste Problem beginnt also mit der Unaufmerksamkeit des Menschen seiner Geschäftigkeit wegen, die ihn daran hindert, auch auf die kleinen Dinge in seinem Leben und bei seinen Taten zu achten. Das steigert sich dann durch seinen Leichtsinn, bis er so weit herabgesunken ist, dass er über die Frommen scherzt, die bei allem כחוט השערה (haargenau) ‚Medakdek beMizwot‘ sind (die Gebote genauestens beachten) und sich stets Mühe geben, ihren Pflichten auf die beste Art und Weise nachzukommen, und sie verspottet. Er tut dies, um sein schlechtes Gewissen, das ihn gelegentlich noch plagt, zum Schweigen zu bringen.
Da er aber kein ernster Spötter ist und noch nicht so weit vom rechten Weg abgekommen ist, könnte man ihn noch retten.
Stärkt sich aber der Einfluss des Jezer haRa auf ihn derart, dass er in schlechte Gesellschaft gerät, dann kann mit ihm kein ernstes Wort mehr gesprochen werden, bis er sich nicht von diesen sogenannten „ehrlichen und guten Freunden“ trennt.
So verhielt es sich auch mit dem „Mekalel“: Zuerst trat er aus seiner Welt, aus der eigenen, ruhigen und bedächtigen Welt, in eine geschäftige Welt ein, in der es keine Zeit für die Beachtung der dem Menschen unwichtig erscheinenden, kleinen Dinge gibt – der erste Schritt in die Fänge des Jezer haRa! Darauf folgten der Leichtsinn, das Scherzen und Spotten. Er zeigte keinen Respekt für die Dinge, die einem Jehudi heilig sind – er spottete über die Mizwa der „Lechem haPanim“. Schließlich wollte man nichts mehr mit ihm zu tun haben, keiner wollte in seiner Gesellschaft sein. Sein einziger Aufenthaltsort konnte nur noch beim ausserhalb des Lagers wohnenden „Erew Raw“ (der aus Ägypten mitgezogene Pöbel) sein.
Doch der „Mekalel“ fühlte sich in seiner Ehre angegriffen:
Bin ich denn weniger Wert als jeder Stammesangehörige des Schewet Dan? Es kam zu einem Din-Torah vor Mosche Rabenu; er verlor seinen Fall und der Schewet Dan musste ihn nicht in seinem Lager dulden, da er nicht zu diesem Stamm gehört (Nur seine Mutter ‚Schlomit‘ stammte von Dan, sein Vater war ein ‘Nochri’]. Da zeigte der Unhold sein wahres Gesicht – und verfluchte Haschem!
Danach setzt die Torah ihre Lektion fort, und zeigt uns das Gegenmittel; Womit und auf welche Art und Weise kann man sich vor der „Unachtsamkeit“ schützen? Durch fleissiges und intensives Torah-Lernen!
Um das erste Hindernis – die Geschäftigkeit – zu verhindern, verbietet die Torah im Schmitta-Jahr die Arbeit auf dem Feld. So wie es während jeder Woche einen Ruhetag am siebten Tag der Woche gibt, an dem man jegliche Arbeit ruhen lassen muss, und sich der Jehudi stattdessen mit der Torah beschäftigen soll, so muss auch in jedem siebten Jahr die Arbeit auf dem Feld ruhengelassen werden.
Was soll man im Schmitta-Jahr tun?
„ושבתה הארץ שבת לה’“ – „Die Erde soll ruhen, ein Schabbat für Haschem“ (32,2). Es soll ein Shabbaton, ein Ruhejahr für Haschem sein, ein Jahr der Besinnung, Einsicht und Achtsamkeit, in dem sich der Mensch von seiner Geschäftigkeit zurückzieht und sich vollständig der Torah und ‚Awodat Haschem‘ widmet. Eine Zeit, die man in „guter Gesellschaft“ verbringt, im Bet haMidrasch, in der Nähe von Talmide Chachamim und Jerej Schamajim (G‘ttesfürchtige), die einem den richtigen Weg zu Haschem zeigen. Somit wird auch das zweite Hindernis – die schlechte Gesellschaft – beseitigt, in der man manchmal gezwungen ist, die Arbeit zu verbringen.
Das Schmitta-Jahr ist aber auch eine Zeit, in der die Emuna und der Glauben an Haschem und Seine Torah gestärkt werden. Denn das von der Torah Versprochene geht wörtlich in Erfüllung, und man wird von Haschem trotz der ganzjährigen Arbeitspause ernährt und sogar regelrecht gesättigt. Da vergeht der letzte Zweifel an G’tt, jegliches Gespött gegenüber der Torah und ihren Mizwot erlischt.
So wird auch das dritte Hindernis – der Leichtsinn und das Gespött – überwunden.
Daher schließt die Parscha mit den Worten (26,2): „Meine Schabbatot sollt ihr hüten und mein Heiligtum fürchten, Ich bin Haschem“. Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Schabbat-Hütung und der Ehrfurcht vor G‘tt?
Gemäss dem Ibn Esra bezieht sich dies auf die Schmitta-Jahre, die so wie der Schabbat eine Zeit der Festigung der eigenen ‚Awodat Haschem‘ sein sollen. Demnach dürfte der Passuk als Abschluss der oben genannten Lehre zu verstehen sein, wie man die Achtsamkeit gegenüber dem Treiben des Jezer haRa verstärkt: „Meine Schabbatot sollt ihr hüten“ – so vergeht die Geschäftigkeit, dann werdet ihr auch „mein Heiligtum fürchten“ – der Leichtsinn und das Gespött, die Frucht der fehlenden G’ttesfurcht gegenüber der Torah und Mizwot, wird vergehen, und so „Ich bin Haschem“ – wird man sich die Zadikim und Talmide Chachamim als Vorbild nehmen und sich bemühen in ihrer „guten“ Gesellschaft zu aufzuhalten, um von ihnen lernen zu können.