„We’Ele haMischpatim – Dies sind die Rechte, die du ihnen vorlegen sollst“.
Raschi erklärt zu Beginn dieser Parscha folgende Grundregel: „Jede Stelle in der Tora, die mit „Ele“ beginnt, ist von der vorherigen Parscha abgesondert; hingegen wenn „we’Ele“ steht, so fügt sie dem früheren Abschnitt etwas hinzu. An dieser Stelle möchten es uns lehren, dass so wie die früheren Gesetze von Haschem uns am ‘Berg Sinai‘ gegeben wurden, sind diese ebenfalls am Sinai übergeben worden“.
Vielleicht lässt sich aus der Verbindung dieser Parschjot auch eine weitere Lehre entnehmen:
Bei „Matan Tora“ steht im Passuk (Schmot 19,2) „Wajichan scham Jisrael neged haHar – Jisrael lagerte dort neben dem Berg“. Weil sich die Torah hier in der Einzahlform ausdrückt lehren Chasal daraus : „ke’Isch Echad beLew Echad – wie ein Mann, mit einem Herzen/Sinn“[1], dass im Klall Jisrael damals eine außergewöhnliche Achdut (Einigkeit) herrschte. Es galt nun, diese Einigkeit im Volk auch nach Matan Tora aufrecht zu erhalten.
Dies wird hauptsächlich durch die „Mischpatim“ gefördert, deren Aufgabe es ist, das „ben Adam laChawero“ zu schützen, die Menschen zu lehren, auf ihre zwischenmenschliche Beziehung zu achten.
Daher sagte Rabban Schimon ben Gamliel: „Durch drei Dinge besteht die Welt: Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden…“[2] – Daraus ergibt sich, dass diese drei Grundsätze zusammenhängen und einer vom anderen abhängig sind: Wahr ist nur was gerecht und friedlich ist, Gerechtigkeit wiederum ist nur etwas, das tatsächlich die Wahrheit vertritt und Frieden stiftet, und der Frieden ist nur dann gewährt, wenn Gerechtigkeit auf der Welt waltet und die Wahrheit überall anerkannt wird!
Somit ist die Aussage des Midrasch zu Beginn dieser Parscha verständlich: „Drei Dinge werden [in der Torah] auf den Namen von Mosche Rabenu genannt, weil er sich dafür mit „Messirut Nefesch“ (völliger Hingabe) eingesetzt hat: Jisrael, Torah und Dinim (Gesetze)“[3].
Dass sich Mosche Rabenu immer und selbstlos für das jüdische Volk einsetzte, und die Torah mit Messirut Nefesch vom Himmel hinunterbrachte[4], wissen wir.
Wieso aber forderten die „Dinim“, die Vermittlung der Gesetze, ‘Messirut Nefesch‘ von Mosche?
Weil es bei den Dinim nicht einfach darum geht, dass der Richter seine Entscheide fällt und Staat und Volk mit einem Rechtssystem geführt werden. Ein Rechtssystem verhilft nur dazu, Verbrechen zu verhindern und Streit zu schlichten. Die Aufgabe der Dinim – der Rechte „ben Adam laChawero“ – hingegen ist es, das ‘Achdut‘ im Klall Jisrael zu stärken, dass nichts die Liebe zwischen einem Jehudi und dem anderen stört und so durch die „Ahawat Jisrael“ echter Schalom im Land herrscht. Dieses Ziel kann aber nur dann erreicht werden, wenn die Dinim auf der Wahrheit der Torah basieren, d.h. bis ins kleinste Detail der Halacha.
Da sich Mosche dieser großen Verantwortung bewusst war, versuchte er zuerst alle Rechtsfragen selber zu entscheiden. Sein Schwiegervater Jitro aber gab ihm zu verstehen, dass er dies nicht auf die Dauer alleine machen konnte. Stattdessen riet er ihm, geeignete „Dajanim“ (Richter) auszubilden und für dieses Amt einzusetzen (18,21): „Wähle dir aus dem Volk tüchtige Männer, G’ttesfürchtige, Männer von Wahrhaftigkeit, Feinde der Gewinnsucht….“
Eigentlich ist die Erwähnung der „Midat haEmet“ – Männer der Wahrhaftigkeit – unnötig, denn er sagte bereits, dass sie g’ttesfürchtig sein mussten.
Daraus folgt, dass die G’ttesfurcht und Wahrhaftigkeit zwei voneinander gänzlich unabhängige Eigenschaften sind!
Ein g’ttesfürchtiger Mensch lebt und denkt völlig gemäss seiner Auffassung des g’ttlichen Willen der Torah. Sein Handeln wird immer im Einklang mit seinem Wissen und seiner Kenntniss der Halacha stehen – wenn er weiss, dass etwas verboten ist, dann wird er die Finger lassen. Die Frage ist jedoch, ob sein Wissen tatsächlich auf dem höchsten Stand ist und der uneingeschränkten Wahrheit entspricht?
Für einen richtigen ‘Dajan‘ wird daher auch die Tugend der „Midat haEmet“ benötigt. Ein „Mann der Wahrhaftigkeit“ begnügt sich nicht mit seiner G’ttesfurcht, die manchmal gar einfältig und etwas naiv sein kann. Stattdessen strebt und dürstet er nach der Wahrheit, er sucht und gräbt unermüdlich bis er sie gefunden hat.
Deshalb soll ein Raw nicht einen „Din Tora“ aufgrund seines Wissens voreilig entscheiden, auch wenn er die Quellen dieser Halacha bereits auswendig beherrscht.
Stattdessen lehrten uns die „Ansche Knesset haGedola“: „Hewu metunim baDin – seid behutsam beim Entscheiden“[5]. Der Richter und Gesetzeslehrer soll jeden einzelnen Fall sorgfältig mit Ruhe und nochmaliger Überlegung prüfen und erst dann entscheiden.
Aus diesem Grund betonen Chasal: „Kol Dajan sche‘dan Din Emet la’amito, na’aseh Schutaf laHkb“H beMa’aseh Bereschit – jeder Richter der einen wahren Din seiner Wahrheit nach entscheidet, wird zu einem Partner G‘ttes in Seiner Schöpfung der Welt“[6]. Warum sagen Sie „Din Emet la’amito“ und nicht einfach „Din Emet“ (einen wahren ‘Din‘)?
Weil es eben nicht genügt, wenn der Dajan sich sagen kann, er habe einen „Din Emet“, eine wahre Entscheidung getroffen, weil sie gemäss seiner Kenntnis der Tora gut dünkt.
Vielmehr muss er sagen können, dass er eine wahre Entscheidung gemäss der Wahrheit der betreffenden Halacha getroffen hat!
Er muss den Emet mit „Emet“ suchen, so wie Rabbi Simcha Bunem von Pschis’cha (Przysucha) sZl. den Passuk (Dewarim 16,20) „Zedek Zedek tirdof“ zu verstehen gab: „Mit Recht sollst du dem Rechten nachlaufen!“
Nur wer die Wahrheit um der Wahrheit willen sucht, und ihr auf den Grund geht, um sie mit Messirut Nefesch ans Tageslicht zu bringen und sie der Öffentlichkeit zu verkünden, der ist ein echter Partner von G’tt. Denn nur er bringt den echten Frieden auf die Welt, der auf „Emet und Mischpat“ – auf wahrem Recht – besteht.
Das „Wajichan Jisrael“ – die Einigkeit im Klall Jisrael – kann nur dann intakt bleiben, wenn „neged haHar“ – die Dinim so bleiben, wie sie uns durch Mosche Rabenu am Berg Sinai gegeben und gelehrt wurden, und sie auch weiterhin mit Messirut Nefesch in ihre Wahrheitstreue gelernt, geprüft und entschieden werden!
- Raschi gemäss Mechilta zur Stelle ↑
- Pirke Awot Ende Kap.2 ↑
- Schmot Rabba 30,4 ↑
- Siehe ausführlich Schabbat 86a ↑
- Pirke Awot 1,1 ↑
- Schabbat 10a ↑