„haKol Hewel“ – „Alles ist nichtig“, schreibt König Schlomo, der weiseste aller Menschen, im Buch Kohelet (1,2/14). Er, der wie kein anderer auf der Welt alles kannte und besass, verwirft alles mit einem Wort: „haKol Hewel“!
Nach gründlicher Analyse aller Wissenschaften, irdischen Vergnügungen und von den Menschen als begehrenswert eingestufte Dinge blieb ihm nur diese Einsicht, mit der er sein Buch schliesst (12,13): „Sof Dawar, haKol nischma, et Elokim jera we’et Mizwotaw schemor, ki seh kol haAdam“ – „Das Fazit [aller meiner Erkenntnisse] lautet: Alles wird von G’tt gehört, [und deshalb], fürchte G’tt und hüte Seine Gebote – denn dies ist der ganze Mensch [dies ist sein ganzer Sinn und das Ziel seines Daseins]!“[1]
Auch Jitro kannte und prüfte alle ‚Awoda Sarot‘ (Götzenkulte) der ganzen Welt[2].
Umso wertvoller und aussagekräftiger sind dann die Worte eines solchen Mannes, dem keine von den Menschen damals vergötterten Ideale verborgen waren, als er verkündete (18,11): „Ata jadati, ki Gadol Haschem miKol haElohim“ – „Jetzt weiss ich, dass Haschem größer als alle Götzen ist….“[3]
Doch wer die menschliche Natur ein wenig kennt, wird gestehen müssen, dass es leicht ist, eine solche Aussage zu machen, es aber viel schwerer ist nach diesen Erkenntnissen zu handeln! Wie Raschi zu Beginn der Parscha den Passuk (18,1) „Wajischma Jitro“ – „Jitro vernahm“ kommentiert, hörte Jitro die wundersamen Ereignisse von „Keriat Jam Suf“ (Spaltung des Schilfmeeres) und „Milchemet Amalek“ (Krieg gegen Amalek). Tausende anderer Menschen hatten von diesen Ereignisse auch gehört, die die gesamte Menschheit erschüttert hatten[4]. Wie Chasal sagen, konnte jeder Mensch das Wunder von „Keriat Jam Suf“ bei sich zu Hause „live“ mitverfolgen, da sich alle Gewässer und selbst das Wasser, dass sich in von Menschen gemachten Behältern befand, spaltete – ob in einem Trinkglas oder Waschbecken[5].
Dennoch drang diese Erkenntnis nur bei einer einzigen Person ins Herz![6]
Nur ein einziger Mann hatte es für wichtig genug befunden, sich auf den Weg zu machen, um den Grund dieser Ereignisse näher zu erkunden. Wer ist dieser allmächtige G’tt und dieses von Ihm auserkorene Volk?
Dies fragte sich Jitro und besuchte den Klall Jisrael in der Wüste. Folglich lobt ihn der Midrasch und sagt: „Nicht jeder der hört, profitiert, doch Jitro hörte und profitierte!“[7]
Hören kann man auf zwei verschiedene Arten: Wenn man vor etwas Neuem und Unbekanntem steht, sich von einem Fachkundigen beraten zu lassen, dessen Ratschläge und Erfahrungen anzuhören, bevor man sich selbst eine Meinung dazu bildet. Man kann sich allerdings auch erst dann erkundigen, wenn man bereits eine eigene Theorie – sprich Vorurteil – gebildet hat. In diesem Fall läuft man jedoch Gefahr, Augen und Ohren vor Tatsachen und der Wahrheit zu verschließen!
Denn eine bereits gefasste Meinung lässt sich immer nur schwer ändern und korrigieren.
Somit ist der Vergleich von Chasal[8] zwischen Jitro und Awraham Awinu gut nachvollziehbar, denn auch Awraham Awinu handelte unbeirrt gemäss seinen Erkenntnissen und ließ sich dabei selbst von Nimrod und seinem Feuerofen weder beeindrucken, noch einschüchtern. Im Midrasch wird in Bezug auf Awrahams „Hören“, wie er G’tt selbstständig erkannte und zu dienen begann, der folgende Passuk angewandt (Tehilim 45,11): „Schim’i Bat ure’i wehati Osnech weSchickchi Amech uBet Owich“ – „Horche auf Tochter, schaue und neige dein Ohr, und vergiss dein Volk und dein Vaterhaus“.
Als Erstes gilt es, wie eine Tochter zuzuhören, noch bevor man sich eigene Meinungen bildet und Vorurteile fasst. Danach muss die Sache genauestens betrachtet werden, um das Gehörte mit dem Gesehenen zu vergleichen. Daraus ergibt sich von selbst der Durst und das Interesse, noch mehr zu sehen und zu wissen – das Ohr wird hingeneigt, um noch besser hören zu können. Auf diese Weise schwinden die bisherigen falschen Eindrücke, und die aufgrund der schlechten Einflüsse der Umgebung in sich aufgenommenen Unwahrheiten werden verworfen.
So erkannte der im Haus des Götzendieners Terach und der schlechten Umgebung der Anhänger Nimrods aufgewachsene Awraham Awinu sehr bald die eigentliche Wahrheit.
Denn er “hörte und betrachtete“, wollte alles genau wissen und verstehen, und hinterfragte alles Gehörte, alles, was die Menschen behaupteten. Und als er dann die Wahrheit erkannte, beließ er es nicht dabei, sondern “neigte sein Ohr“ noch näher. Er wollte noch mehr wissen und war bereit, für diese Erkenntnis zu leben und zu kämpfen. Ja, er schreckte nicht mal davor zurück, den Glauben “seines Vatershauses zu verleugnen und die Ideale seines Volkes abzuwerfen und zu widerlegen“.
Die Krönung dieser Erkennung der Wahrheit bildete die „Brit Mila“, die Entfernung der ‚Orla‘ (Vorhaut). Der Eintritt in den g’ttlichen Bund, dessen Siegel der absolute „Emet“ (Wahrheit) ist[9], ist eben nur dann möglich, wenn zuerst alles Falsche und Schlechte entfernt und beseitigt wurde.
Auch Jitro “hörte und betrachtete“ die Wahrheit – „Wajischma Jitro“. Einerseits hörte er das Wunder von „Keriat Jam Suf“, und erkannte die absolute Wahrheit der Existenz G‘ttes, andererseits sah er die „Milchemet Amalek“, die irreführende Lüge aller irdischen Verblendungen und Täuschungen. Sofort begab er sich – ohne sich voreilig eine feste Meinung zu bilden – zu Mosche Rabenu in die Wüste, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Den „Scheker“ (Lüge / Trugbild), das Luftgebilde materieller Reize und menschlicher Schwäche, kannte er zur Genüge. Er hatte es daher nicht nötig, sich bei Amalek zu vergewissern – dessen Meinung anzuhören. Einzig allein die Meinung von Mosche und der Bne Jisrael zählte!
Als ihm dann Mosche Rabenu von allen Wundern von Hkb“H erzählte, die mit ihnen geschahen, wurde Jitro von der Wahrheit des jüdischen G’ttes überzeugt[10] und entschloss, sich durch die ‚Brit Mila‘[11] gänzlich vom ‚Scheker‘ zu entfernen.
Jitro, dem Bekenner der Wahrheit, war es daher vergönnt, selber etwas zur Wahrheit beizutragen – er hatte den ‚Sechut‘ (Verdienst) , dass durch ihn die Parscha „we’ata sechese“ (18,21-26) zur Torah hinzugefügt wurde. Als er seinem Schwiegersohn Mosche Rabenu den Rat erteilte, Richter zu ernennen, damit diese ihm halfen, das Volk zu richten. Er erlebte dabei einer der 48 „Kinjane haTorah“ (Grundsätze die zur Erwerbung der Torah verhelfen), die Chasal aufzählen: „biSche‘miat haOsen…, Schomea uMosif – durch richtiges Zuhören…, zuhören und hinzufügen“[12]. Wer nämlich ein richtiger „Schomea“ (Zuhörer) ist und der Wahrheit richtig zuhört – “sein Ohr hinneigt“ – der wird dadurch auch ein „Mosif“ (Hinzufüger), und kann auch seinen Teil zur Verbreitung und Vertiefung der Wahrheit beitragen.
Wie aber soll es jemandem möglich sein, etwas hinzufügen, wenn er überhaupt nicht zuhört? Wie kann man sich etwas anhören, wenn die Ohren bereits mit anderen Meinungen und Irrlehren verstopft sind?
Diese wichtige Regel ist der Schlüssel zur Erkenntnis der Wahrheit!
Dies war das Geheimnis der Mal’achim von „Na’asseh weNischma“, das der Klall Jisrael bei ‚Matan Torah‘ (Offenbarung der Torah) von sich aus erkannte[13]. „Na’asseh“ – das Erfüllen der Torah und Mizwot, kommt vor dem „Nischma“ – vor der eigenen Beurteilung und Meinungsbildung.
In der Gemara wird von Rawa berichtet, der einst vertieft im Torah-Lernen auf seinem Finger saß und nicht spürte, wie Blut aus diesem rann. Ein vorbeigehender Frevler spottete daraufhin über die seines Erachtens übereilte ‚Kabbalat haTorah‘ durch den Klall Jisrael: „Wie kann man eine Sache annehmen, die man gar nicht kennt?“[14]
Er verstand nicht, dass die Torah – die g’ttliche Wahrheit – nur dann anerkannt und erfasst werden kann, wenn man sich selber vergisst – seine eigene Interessen, Ansichten, Neigungen und Gelüste abwirft. Der Verstand des Menschen ist neben der Meinung und der Weisheit der Torah nur zweitrangig. Zuerst muss ihr richtig zugehört werden, und erst dann kann man sie erfassen und begreifen lernen.
- Orchot Zadikim (zu Beginn seiner Einleitung) ↑
- Siehe Raschi 18,11 gemäss Mechilta zur Stelle ↑
- Schem miSchmuel (Parschat Jitro) ↑
- Siehe Schmot (15,14) und Pirke deRabbi Elieser (Kap.52) ↑
- Mechilta (Schmot 14,21), Midrasch Schmot Rabba (21,6) und Midrasch Tehilim 18 ↑
- Sohar haKadosch (Bd2/S.68a) ↑
- Midrasch Tanchuma (Parschat Jitro 2) ↑
- Siehe Midrasch Schmot Rabba 27,6 (איתן מושבך כאברהם) ↑
- Schabbat 55a ↑
- Rabenu Bachja zur Stelle ↑
- siehe Sanhedrin 94a zum Passuk 18,9 ↑
- Pirke Awot 6,6 ↑
- Schabbat 88a ↑
-
Schabbat ibid. ↑