Wer war das?
Als er dem Landgrafen vorgestellt wurde, war dieser gerade in ein Schachspiel vertieft. Er zeigte dem Grafen, wie er den Gegner in drei Zügen matt setzen könne.
Eigentlich war es nicht das erste Zusammentreffen der zwei Männer. Als zehnjährige Knaben waren sie aneinander geraten, und beide hatten das nie vergessen.
Der eine war damals der Kronprinz Hessen-Kassels, dem man als zukünftigen Herrscher auch das Ghetto der Juden zeigen wollte. Ein gepflegtes Kind, das einer eleganten Kutsche entstieg, um unter der Anleitung eines Barons, seines Erziehers, die ärmsten seiner zukünftigen Untertanen kennen zu lernen. Der andere Knabe, sehr ärmlich gekleidet, doch stolz und klug, fühlte sich dem Fremden gegenüber keineswegs unterlegen. Eine Münze als Geschenk lehnte er verächtlich ab. Doch nachdem er den Adligen geholfen hatte, sich im Labyrinth der Gässchen des Ghettos zurechtzufinden, sah er sich berechtigt Geld als Fremdenführer zu verlangen. Gegen Abend machte er den Baron darauf aufmerksam, dass die Tore des Ghettos mit Sonnenuntergang geschlossen werden: „Sie müssen sich beeilen”.
Beim Abschied sagte der fremde Knabe:
„Würdest du meine Religion annehmen – so würde ich dir beistehen, dich aus dieser Armut zu befreien”. Der jüdische Junge lachte: „Ich bin ein Jehudi, der seine Religion und sein Volk liebt. Falls aber der Prinz ihn einmal brauchen sollte, so stehe er zur Verfügung.“ Beleidigt wandte sich der junge Graf seiner Karosse zu: Er sollte diesen Judenjungen in Anspruch nehmen?
Jener jüdische Knabe verlor seine Eltern, als er zwölf Jahre alt war. Er lernte damals in der Jeschiwa in Fürth, ein wichtiges Torazentrum. Es oblag ihm, nun schnellstens seiner Familie zu helfen. Er lernte in Hannover im Hause des Bankiers Oppenheim das Fach des Geldwechslers. Fünf Jahre später kehrte er in seine Geburtsstadt zurück. Dort begnügte er sich nicht mit den Aufgaben eines Geldwechslers, sondern sammelte alte Münzen und Antiquitäten. Auf diese Weise erneuerte sich der Kontakt mit dem gleichaltrigen Landgrafen Wilhelm IX., dem Knaben von „damals“, der inzwischen regierender Fürst geworden war. Dieser erinnerte sich gut an die Gradlinigkeit seines Gesprächspartners, erkannte dessen geschäftliche Ehrlichkeit, Lauterkeit und Tüchtigkeit und ernannte ihn zu seinem Hofagenten.
Ausserhalb des Ghettos veränderten sich die politischen „Landschaften” sehr schnell.
Hatte zuvor der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763) getobt, in dem Maria Theresia Schlesien an Preussen verlor, so war es nun der Schrecken Napoleons, der Europas Fürsten von ihren Thronen jagte und Europa auf den Kopf stellte. Im Jahre 1806 erschütterte die Schlacht bei Jena, in der Napoleon Preussen besiegte, auch die an Preussen grenzenden Lande, darunter auch Hessen-Kassel. „Die Franzosen kommen“, hallte und schallte es durch Europa.
Eines Nachts hielt eine Kutsche vor seinem bescheidenen Haus in der Judengasse. Als man ihm einen Gast meldete, sagte der erschöpfte Kaufmann, er müsse erst Maariw ’oren’, für Geschäftliches sei es überhaupt zu spät. Da hörte er eine traurige Stimme aus dem Nebenzimmer: „Hattest du mir nicht versprochen, falls ich jemals in Not sei……” Er erkannte die Stimme des Landgrafen und bat den Diener, ihn mit dem späten Gast allein zu lassen. Mit einer Maske vor dem Gesicht, als Bauer verkleidet, betrat Wilhelm IX. den Raum. Er müsse fliehen.
Napoleon trachte ihm nach dem Leben.
Seine Familie habe sich schon nach Dänemark absetzen können. Sein Land sei enteignet worden. Hier habe er seine letzte Barschaft, er möge ihn doch für ihn verstecken, bis sich die Kriegswolken verzogen haben. Er versprach hoch und heilig den fremden Schatz, 600‘000 Pfund zu hüten und zu schützen. Gerührt umarmte ihn der abgesetzte Fürst und verschwand in der Nacht. Die ganze Nacht schleppte er die „Mehlsäcke” in eine unterirdische Höhle. Der Diener betrachtete am Morgen schweigend die beschmutzten Kleider.
Das Geheimnis sickerte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen durch. Die Enge des Ghettos, die nächtliche Kutsche – das Gerücht pflanzte sich fort und erreichte auch die Franzosen. Eines Tages waren sie da; war doch Wilhelm IX. einer der Reichsten Europas. Sie drohten, sie brüllten – er blieb standhaft. Nun griffen sie zur schärfsten Waffe: „Wir werden alle Juden dieses Ghettos aufhängen, wenn du nicht mit dem Schatz des Landgrafen herausrücken wirst“. Er wurde kalkweiß, seine Frau, Gudula, brach zusammen. Da entfernte er ein großes Gemälde von der Wand und öffnete ein fast unsichtbares Türchen. Mit dem Befehlshaber der Truppe stieg er in das Kämmerchen und händigte den Franzosen sein eigenes Vermögen bis auf die letzte Münze aus. Die Belagerer zogen befriedigt ab. Das Geld des Landgrafen blieb in Weinfässern wohlgeborgen, unversehrt. Die nun armen Söhne reagierten: „Vater, wir sind stolz auf dich.“
Napoleon war von der Bühne der Weltgeschichte abgetreten.
In der Reorganisation Europas war der Wirtschaftsaufstieg vom Geldfluss abhängig. Die Hochfinanz entsprach demnach den Bedürfnissen der Zeit. Dieser ehrliche Jere Schamaim[1] und sein Haus konnten den Bau von Eisenbahnlinien und von Handelsschiffen finanzieren. Im Jahre 1802 lieh er dem Staate Dänemark 10 Millionen Taler, 1806 ermöglichte er dem englischen Heer in Spanien, sich gegen Napoleon zu bewaffnen.
Seine Frau, die ihn mit ca. 35 Jahren überlebte, sagte als Greisin einmal zu einer Dame, die sich beklagte, dass man ihren Sohn zum Militär eingezogen hatte: „Ich werde meinen Söhnen sagen, dass sie diesem Staat keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stellen sollten““ Sie weigerte sich bis an ihr Lebensende, ihr bescheidenes Heim in der Judengasse Frankfurt’s, gegen ein ihrem Vermögen entsprechendem Haus, zu vertauschen.
Der Name des Hauses ist ein Synonym für Zdaka und Chessed, in erster Linie für die Armen des eigenen Volkes.
Die Worte, die Raw S.R. Hirsch in seinem Hesped über einen seiner Söhne sprach, galten auch für ihn: „Es war ein G-ttesfürchtiges Gefühl, das ihn so milde und leutselig machte. Es war ein G-ttesfürchtiges Gefühl, dass das Herz ihm rührte und die Hand zum Geben öffnete. Wie groß seine Geschäfte, wie umfangreich seine Verbindungen, wie kostbar seine Zeit auch sein mochten, für den der im Namen der leidenden Menschheit, im Namen eines Haschem gefälligen Werkes zu ihm kam, hatte er immer Zeit, stand seine Türe immer offen“.
Kein Zweifel, Aufstieg und Blütezeit erlebte diese „Weltfirma”, als ihre Treue zur Tora tief in den Mitgliedern des Hauses verankert war. Erbte nicht der älteste Sohn einen doppelten Anteil des Riesenvermögens, so wie die Tora es vorschreibt? Warf er nicht dem frechen nichtjüdischen Strassenbengel eine Münze zu, als dieser ihm „Jude” nachrief. „Bitte, wiederhole deinen Ruf“, bat er stolz und sagte die Bracha: „Schelo osani Nochri[2]”.
Anschel Mayer Rotschild
23 February 1744 – 19 September 1812
- G-ttesfürchtige ↑
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Segensspruch “Gelobt bist Du Haschem … Der Du mich nicht zu einem Nichtjden machtest” ↑