Rav Chaim Schmulewitz

Datum: | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
schmulewitz
Rav Chaim Alter-Refael HaLevi Schmulewitz (5663–6793 / 1902–1979) war ein glänzender Talmudlehrer und Oberhaupt der Jeschiwa Mir in Jerusalem. Nach seiner Mutter stammte er von Rav Josef-Jusl Horowitz[1] ab, einem der geistigen Führer der Mussar-Bewegung.

Geboren ist er zwischen Grodno und Novardok (Novogrudok) im Städtchen Schutschin. Sein Vater, Rav Alter Schmulewitz, war einer der engsten Talmidim des Rav Natan-Zwi Finkel[2] und stand der Jeschiwa in Schutschin vor. Sandak bei seiner Brit Mila war Rav Jitzchak Blaser[3], ein Schüler des Gründers der Mussar-Bewegung Rav Israel Salanter.[4] Tora lernte er unter der Führung seines Vaters. Dabei wurde er unter dem Namen „Iluj [Wunderkind] aus Schutschin“ bekannt. Das Kind verfügte über einen aussergewöhnlichen Verstand und ein phänomenales Gedächtnis – als ob ihm der Begriff „Vergessen“ fehlte.[5]

Im Alter von 16 Jahren verlor er beide Eltern und musste die Jeschiwa verlassen, um für den minderjährigen Bruder und zwei Schwestern zu sorgen.

Tagsüber arbeitete er als Lastträger und verbrachte die verbleibenden Stunden des Tages und einen beträchtlichen Teil der Nacht mit dem eigenständigen Lernen. Sogar während der Strapazen des Arbeitstages hat er nicht aufgehört, über die Tora nachzudenken. Nach Aussagen seiner Geschwister hat sich Chaim nach seiner Heimkehr von der Arbeit sofort an den Tisch gesetzt, um danach mehrere Stunden lang Erkenntnisse und Ideen zu notieren, die er während des Arbeitstages durchdacht hat.[6]

Bereits im Alter von 19 Jahren wurde er Lehrer an der von Rav Schimon Schkop geführten Grodnoer Jeschiwa. Auf Chaims Frage, weshalb Rav Schkop einen so jungen Dozenten eingeladen hat, antwortete ihm der Rosch Jeschiwa: „Natürlich kann ich auch andere Toragelehrte finden, welche die Schiurim nicht schlechter geben würden. Aber unmöglich finde ich einen Zweiten, der in das Toralernen soviel Liebe hineinlegt wie R. Chaim.“ Obwohl seine Talmidim nur wenig jünger als R. Chaim waren, genoss er bei ihnen höchsten Respekt: nach einem Jahr unter seiner Führung weigerten sich die Studenten, in die nächste Klasse (Schiur) zu einem anderen Lehrer zu wechseln und baten die Schulverwaltung darum, die Lektionen Rav Chaims ein zusätzliches Jahr besuchen zu dürfen.[7]

In seiner Freizeit lernte er als Chavruta (zu zweit) mit Israel Gustman, einem der talentiertesten Jeschiwa-Schüler. Üblicherweise lernten sie von zwei bis acht Uhr morgens. Es kam aber auch vor, dass ihr gemeinsames Lernen vom Morgen des einen bis zum Abend des darauffolgenden Tages anhielt – und sie sich in dieser Zeit ein ganzes Talmud-Traktat aneigneten. Jedes Fragment wiederholten sie nicht weniger als zehn Mal und gelangten so zu einem immer tieferen Verständnis des Inhalts.[8]

Zweimal pro Woche besuchte der junge Lehrer den brillianten Unterricht des Rosch Jeschiwa und wurde mit der Zeit so zu einem seiner engsten Talmidim. Er sagte später, dass es „auf dem ganzen Erdball keinen besseren Talmudlehrer als Rav Schimon Schkop gab.“

Studenten der Jeschiwa erinnerten sich, dass Rav Chaim einmal am Purim, als er – minutiös die Anforderungen der Halacha befolgend – mehr als üblich getrunken hat (ad delo jada), einige der letzten Schiurim des Rosch Jeschiwa Wort für Wort wiederholt und zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt hat. Der bei dieser improvisierten „Vorstellung“ ebenfalls anwesende und gerührte Rav Schimon Schkop hat darauf gerührt den geliebten Schüler auf die Stirn geküsst, worauf er sagte: „Es scheint mir, dass ich in deinem Alter nicht zu etwas Ähnlichem fähig gewesen wäre.“[9]

Nach drei Jahren in Grodno heiratete Rav Schmulewitz die Tochter des Rav Elieser-Yehuda Finkel, Rosch Jeschiwa in Mir und wurde zu einem der führenden Lehrer der Jeschiwa.

In den 5690er / 1930er Jahren wurde Mir zu einem der weltweit führenden Zentren des Torastudiums und die Anzahl Schüler wuchs auf fünfhundert an, wobei viele aus anderen Ländern anreisten, darunter auch aus dem fernen Amerika.[10]

In den ersten Monaten des Zweiten Weltkriegs, als sich die Stadt Mir in einer durch die Rote Armee besetzten Zone befand, begab sich Rav Schmulewitz zusammen mit der Mehrheit der anderen Lehrer und Studenten der Jeschiwa nach Wilna (Vilnius). Obwohl die Sowjetische Regierung die Stadt damals der Kontrolle Litauens überließ, rollten bereits im Sommer 5700 / 1940 sowjetische Panzer in Litauen ein und beendeten die kurzzeitige Souveränität Litauens. Sofort begannen staatliche Repressionen gegen jüdische Gemeindeeinrichtungen. Den Studenten aus Mir gelang es indes, Transitvisa für Japan und fiktive Einreisevisa für die karibische Insel Curaçao zu erlangen.

Anfang des Winters 5701/1940 überquerten so Rav Schmulewitz, der Maschgiach der Jeschiwa R. Jechezkel Levinstein und knapp dreihundert Studenten die Sowjetunion von West nach Ost und schifften sich in Vladivostok nach Kobe ein.

Aus dem Hafen von Vladivostok fuhren sie auf dem alten japanischen Schiffchen “Amakuza Maru” – eskortiert von Kreuzern der Sowjetischen Kriegsmarine. “Als wir vom Sowjetischen Ufer wegfuhren, konnten wir unsere glückliche Rettung noch gar nicht wahrhaben,” erinnerte sich Rav Schmulewitz. “Alle saßen schweigend und fürchteten sich davor, die Augen zu aufzuheben oder ihre Gefühle zu zeigen. Als wir schließlich neutrale Gewässer erreicht haben, kehrten die Kriegsschiffe um und entfernten sich. In diesem Moment konnten wir uns einem Freudenschrei nicht länger verwehren: ‘Wir sind gerettet!’ – und alle haben gesungen.”

Einige Monate später deportierte die japanische Regierung die Jeschiwa nach China, wo sie sich in der “offenen Stadt” Shanghai ansiedelte.

Der Unterricht setzte sich in der leerstehenden Synagoge Beit Aharon fort, dessen Bau zehn Jahre vor Kriegsausbruch vom kinderlosen Millionär Silas Hardoon finanziert wurde. Die geräumigen Unterrichtsräume erstreckten sich dabei über zwei Stockwerke und waren mit wunderschönen Möbeln ausgestattet. Die erste Lektion des Sommersemesters 5701/1941 hielt Rosch Jeschiwa Rav Schmulewitz selbst ab. Während seines vierjährigen Aufenthaltes in Shanghai gab er mehr als vierhundert Lektionen.

Laut Studenten hat Rav Schmulewitz in Shanghai “tagelang nicht geschlafen” und habe “mit einem Bachur gelernt, danach mit dem zweiten, dritten, ca. zwei Stunden mit jedem, was zweiunddreißig Stunden am Stück entsprach”. Erst danach, “nach einer Tasse Tee, erlaubte er es sich, einzudösen.” Rav Schmulewitz sagte: “Die Tora brennt, die Tora-Gelehrten werden vernichtet – wenn es uns nicht gelingt, Ersatz zu schaffen – ist alles verloren.” Der Lohn seiner selbstlosen Arbeit sollte die Schar neuer Talmudlehrer werden, die es vermochten, die Kette der Tradition an die neue Generation weiterzugeben, die nach dem Krieg in den USA und in Israel geboren wurde.

Um die Jeschiwa mit Büchern zu versorgen, organisierten einige Spezialisten die erste jüdische Druckerei Chinas. Jedoch waren einige Bücher, die als Vorlage für Nachdrucke verwendet wurden, unvollständig. So fehlten beispielsweise auch im einzigen Kommentar-Band zum Schulchan Aruch einige Seiten. Zum allgemeinen Erstaunen vermochte R. Schmulewitz die fehlenden Stellen aus dem Gedächtnis zu reproduzieren – fehlerlos, wie sich danach herausgestellt hat.

Nach Kriegsende gelangte R. Schmulewitz zusammen mit seinen Talmidim in die USA, wo die Jeschiwa den Unterricht wiederaufnahm. Die Überfahrt von Shanghai nach New York dauerte ungefähr einen Monat – in dieser Zeit hat er als Ergebnis des unablässigen Lernens das halachische Werk Torat Hasfina (“Schiffs-Tora”) verfasst.

Einige Zeit später machte R. Schmulewitz zusammen mit einer Gruppe seiner Talmidim Alija nach Eretz Israel und wurde dort zum führenden Lehrer in der Jerusalemer Abteilung der “Mir” Jeschiwa, die von seinem Schwiegervater R. Elieser-Yehuda Finkel in 5704/1944 gegründet wurde. Nach dem Tod seines Schwiegervaters 5725/1965 trat Rav Schmulewitz seine Nachfolge als Rosch Jeschiwa an.

In dieser Zeit lernten im “Mir” mehr als 200 Talmidim. Nach dem Sieg des israelischen Staates im Sechstagekrieg kamen immer mehr Jungen aus den USA in die Jeschiwa und bereits 5730 / 1970 wurde sie mit rund 500 Studenten zu einer der größten und bedeutendsten Jeschiwot der Welt.

5631/1971 begann Rav Schmulewitz zusätzlich zu seinen Talmudvorlesungen mit wöchentlichen Ethik-Ausführungen, welche Zuhörer auch aus anderen Lehreinrichtungen der heiligen Stadt anzogen.

R. Jizchak Silber erinnerte sich, dass er nach seinem Umzug nach Israel “die Schiurim R. Schmulewitzs zu hören pflege” und “wenigstens ein- bis zweimal im Jahr, an Rosch Haschana und Jom Kippur, sich darum bemühte, am gleichen Ort zu davenen wie er”, weil ihm dies “geistige Erneuerung für das ganze Jahr” gab.

Am 3. Tewet 6739/1979 wurde R. Chaim Schmulewitz in die himmlische Jeschiwa berufen. An seinem Beerdigungsumzug nahmen mehr als einhunderttausend Menschen teil.[11]

Die Aufzeichnungen seiner Ausführungen zur Ethik wurden in den Büchern “Sichot Mussar” (Diskurse zur Ethik) zusammengefasst. Das Werk gehört zu einem der am meisten studierten Mussar-Bücher.


  1. Saba aus Novardok.
  2. Saba aus Slobodka.
  3. Rav Jitzele Peterburger
  4. R. Dovid Silber, Noble Lives, Bd. 1, S. 162.
  5. Ibid.
  6. Ibid.; Rav Chaim-Sch. Rosental, Tora jewakschu mipiu, 151.
  7. Rosental, Tora jewakschu mipiu, 151–52.
  8. Ibid., 150.
  9. Ibid., 292–93.
  10. R. Dov Katz, Tnuat amusar, Bd. 3, 54.
  11. R. Dovid Silber, Noble Lives Bd. 1, 163.

TEILEN

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT