Biographie von Rabbi Mosche Sofer (Chatam Sofer) SZL
geschrieben von seinem Enkel Rabbi Schlomo Sofer SZL
übersetzt von Dr. Leo Prijs SZL
In der Stadt Frankfurt am Main in Deutschland lebte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein jüdischer Mann, sein Name war Rabbi Schmuel, Sohn des Rabbi Mosche Sofer, sein Andenken sei zum Segen. Dieser Mann war ein äußerst wissensreicher, talmudkundiger Gelehrter, ein Gerechter, dessen Wege vollkommen und dessen Handlungen fromm waren. Er war vornehmen Geschlechts: väterlicherseits stammte er aus einer Familie von Weisen und Torakundigen, Gerechten und Männern der Tat von Geschlecht zu Geschlecht, bis hinab zur Wurzel ihrer Abstammung, unserem großen Lehrer Rabbi Schimon von Frankfurt, dem Verfasser des“Jalqut Schimeoni”, sein Andenken zum Segen. Dieser seinerseits zählt zu den Nachfahren Raschis, sein Andenken zum Segen, dessen Ursprung zurückgeführt wird auf den G-ttlichen Mischnalehrer Rabbi Jochanan den Schuhmacher, sein Verdienst stehe uns bei, welcher vom König David abstammte, — Friede sei mit ihm.
Mütterlicherseits war Rabbi Schmuel Tochtersohn des Gaon, der Leuchte des Exils und des G-ttlichen Kabbalisten Rabbi Schmuel Schotten, des Kohen, sein Andenken zum Segen, des Verfassers des Buches“Becher des Heils”, eines Kommentars zur Talmudordnung Nesikin. Sein Name ist geläufig unter der Bezeichnung Meharscheschach.
Er war Rabbiner von Darmstadt, und dann Vorsitzender des Gerichtshofes und Leiter des großen Lehrhauses in Frankfurt am Main, durch Kinderheirat verschwägert mit dem heiligen Gaon, dem Wahrzeichen seiner Generation, Rabbi Josef Schmuel, sein Andenken zum Segen, Vorsitzendem des Gerichtshofs von Frankfurt am Main, der im Munde der Leute genannt wurde Rabbi Schmuel Rabbi Chajim Jeschaija’s.
Die Frau des Rabbi Schmuel Sofer war Reisl, ihr Andenken zum Segen, die Tochter des großen, G-ttlichen Rabbiners und berühmten Kabbalisten Rabbi Elchanan, sein Andenken zum Segen, der seinen dauernden Wohnsitz in Frankfurt am Main hatte und der zum Segen für seine Nachwelt einen Kommentar zur kabbalistischen Gebetsordnung hinterließ. Sie aber war eine bekannt fromme Frau, jeden Tag ständig mit Wohltätigkeit beschäftigt, mit Sammeln von Geld und mit dessen Verteilen an bedürftige Toragelehrte und sonstige Arme. Weithin war sie unter dem Ehrennamen“die fromme Reisl“bekannt. Leibesfrucht schien ihr G-tt versagt zu haben und sie gebar ihrem Mann zunächst nicht, bis endlich G-tt ihrer zum Guten gedachte und sie schwanger wurde. Am 7. Tischri des Jahres 5523 (1762), am Freitag, kurz vor dem Herannahen der Schabbatbraut, gebar sie einen Sohn.
Als sie die Wehen überkamen, schickte sie zum damaligen Oberrabbiner, Rabbi Abisch Chaßid, sein Andenken zum Segen:
Sie erbitte um ihrer selbst willen und erflehe um der Gemeinschaft willen, er möge anordnen, dass man in der Synagoge mit dem Empfang des Schabbat warte, bis die Geburt vorüber sei, damit nicht der Schabbat durch die bei der Geburt notwendigen Handlungen entweiht werden müsse. Und der Gaon gewährte denn auch ihre Bitte, indem er, dem Zukünftiges sich enthüllte, sagte: es ist angezeigt zu warten, denn der Sohn, der dieser Frau geboren wird, wird die Augen der Weisen durch seine Gelehrsamkeit erleuchten und Israel durch sein Gebet helfen.
Man gab dem Knaben den Namen „Mosche”. Und der Knabe wuchs heran und blühte auf. Bald traten an ihm Zeichen von Reinheit und G-ttgesegnetheit zu Tage. Seine frommen Eltern führten ihn in das Studium ein, wobei sich sein Geist entfaltete nach dem Spruch des Talmud: Die Frucht ist schon an ihrer Blüte zu erkennen. Alle ihre Gedanken waren darauf gerichtet, ihn sorgfältig zu erziehen und ihm gediegenes Wissen beizubringen. Jedesmal, wenn ihn seine Mutter zur Schule brachte, verhüllte sie sein Gesicht mit ihrem Mantel, um seine Augen vom Anblick alles Unreinen fernzuhalten.
Einst kam der berühmte Verfasser des Buches „Schaagat Arje“ (Das Brüllen des Löwen) von Metz nach Frankfurt. Da führte Rabbi Schmuel Sofer seinen Sohn, das Kind, zu ihm, damit er ihn segne. Er redete lange mit dem Kind, nahm es auf seine Knie, wunderte sich ob seiner Klugheit, segnete es, küßte es auf das Haupt und versicherte seinem Vater, dass aus der jungen Pflanze ein mächtiger Stamm sich entwickeln würde.
Als Mosche vier Jahre alt und schon ein eifriger Schüler war, kam er einmal mit betrübtem Gesicht nach Hause, und als ihn sein Vater fragte:
„Mein Sohn, warum bist du heute traurig?“berichtete er ihm, dass ihn sein Lehrer gezüchtigt habe wegen seiner Frage bezüglich des Schriftverses im Schöpfungsbericht: „Wajiqach afar min ha-adamah”, den sein Lehrer übersetzt habe: Er nahm Erde von der Erde. Da fragte ich ihn: Woher denn sonst nimmt man Erde, wenn nicht von der Erde? Was will uns also der Vers mitteilen? Da schrie er mich nur an und gab mir keine Antwort. Als ich ihn zum zweiten Mal fragte, gab er mir Schläge.
Als der Vater die Worte seines Sohnes hörte, entbrannte sein Zorn gar sehr gegen den Lehrer, denn in der Tat stellt bereits Raschi in seinem Kommentar zur oben zitierten Bibelstelle die gleiche Frage. Sorge stieg auf in seinem Herzen wegen seines Sohnes. Er befürchtete, dass die Quellen seines Verstandes verstopft werden könnten dadurch, dass der Lehrer von aufbrausender Natur war und auch weder einer Frage auf den Grund zu gehen, noch einen Gegenstand gehörig zu erklären vermochte.
“Ist Kummer im Herzen eines Mannes, tue er ihn andern kund”, heißt es, und so schüttete er sein Herz aus vor dem heiligen Gaon Rabbi Nathan Adler, dem Kohen, sein Andenken zum Segen, und dieser sagte zu ihm:“Wenn du das Glück hast, einen solch klugen Sohn zu haben, warum erfüllst du nicht selbst das Gebot der Tora:“Und ihr sollt sie (die Toraworte) lehren eure Kinder”? Nimm doch deinen Sohn, den du liebst, und führe ihn hinauf auf die Höhen des Studiums, lerne mit ihm und bei ihm, und wie man einen Ochsen füttert, reichlich versehe ihn mit geistiger Nahrung.”
Und also tat er; wandte sich ab von allen seinen Beschäftigungen und behielt den Knaben bei sich.
Bei eifrigem Lernen stieg dieser höher und höher im Wissen und als er 6 Jahre alt war, hatte er bereits sämtliche Vorschriften über die Segenssprüche vor und nach dem Genusse von Speisen gründlich gelernt. Da er wusste, dass es zweifelhaft ist, welcher Segensspruch dem Zucker zukommt, enthielt er sich, obwohl der Tau der Jugend auf ihm war, und er Zucker nach der Art der Kinder liebte, des Genusses von bloßem Zucker und so hielt er es bis zum letzten Tag seines Lebens.
Mosches Vater überwachte offenen Auges seine Entwicklung. Außer seinem ständigen täglichen Unterricht war auch folgendes seine Gewohnheit: jeden Abend, wenn der Knabe im Bett lag, stellte er ihm irgend eine Frage und solang er sie ihm nicht passend beantworten konnte, ließ er ihn nicht einschlafen. Wenn zuweilen der Schlaf das Kind übermannte, weckte er es auf und sagte ihm, dass es sein Pensum noch nicht beendet habe.
Als der Vater sah, dass sein Sohn Fortschritte machte und nunmehr geeignet war, Gesetzeslehre und Reinheit in sich aufzunehmen und Großen in Israel als Jünger zu dienen, brachte er ihn in das Lehrhaus des berühmten Gaon Rabbi Salman Chaßid, sein Andenken zum Segen, zu dessen Schülern er fortan gehörte. Dort kam er noch weiter vorwärts im Lernen und als er etwa 7 Jahre alt war, waren seinem Munde bereits einige Talmudtraktate geläufig. Damals beendete er das Studium des Talmudtraktates Beza. Bei der in solchen Fällen üblichen Schlussfeier suchte er, nach allgemeinem Brauch, eine Gedankenverbindung zwischen Anfang und Schluß des Talmudtraktates.
Er tat dies mit scharfem und logischem Verstand und erntete Anerkennung bei seinen Zuhörern.
Nach ungefähr siebzig Jahren, als er diesen Talmudtraktat mit den Jüngern seiner Talmudhochschule zu lernen begann, trug er ihnen diese Gedankenverbindung vor, und als die Schüler darüber eine Diskussion führten, sagte er ihnen, dass diese Gedankengänge ein Werk seiner Jugend seien, und dass er sie mit 7 Jahren vorgetragen habe. Diese Mitteilung setzte sie in nicht geringes Erstaunen.
Als er acht Jahre alt war, traf in Frankfurt am Main der große Gaon“Pneh Moscheh“ein, so benannt nach dem gleichnamigen Kommentar zum Jerusalemischen Talmud, den er verfasst hat. Rabbi Schmuel Sofer brachte seinen kleinen Sohn Mosche, der zum Lieblingskind aller Torabeflissenen der Stadt geworden war, da er sich durch den oben erwähnten Schlußvortrag einen guten Namen erworben hatte, — vor den Gaon, damit dieser ihn in seinem Wissen prüfe.
Da gab ihm der Gaon ein Blatt Talmud samt Tosafot und anderen Kommentaren zum Durchstudieren auf.
Als er dann das Verlangte vor dem Meister aufsagte, wunderte der sich sehr ob der Richtigkeit des von ihm Vorgetragenen und dachte, dies sei vielleicht nur des Vaters Werk und lediglich kraft des Vaters, der ihn vorbereitet habe, zeige er so viel geistige Kraft. Deshalb wies er ihn an, ein weiteres Blatt Talmud mit Kommentaren aus der Abteilung“Kodoschim“ (Heiligtümer) zu lernen, gestattete ihm aber nicht, sich außerhalb des Zimmers zu begeben. Trotzdem konnte er ihm schon nach kurzer Zeit die talmudische Abhandlung vortragen, wobei er den Gaon in Staunen versetzte durch die Tiefe seines Verstandes und seinen Scharfsinn im Verhältnis zu seinem zarten Alter. Bei dieser Gelegenheit kam dem Knaben die Tatsache gut zustatten, dass sein Vater mit ihm zur Hauptsache Abschnitte aus der Talmudabteilung Kodoschim lernte.
Als der große Gaon so der Befähigung des Knaben zum Studium gewahr wurde, sowie auch der G-ttesfurcht, die seine Züge veredelte, stellte er an den Vater das Ansuchen, ihm den Sohn anzuvertrauen. Er würde ihn in seine Räume einführen, in die geistigen Räume der Tora. Im Lande des Lebens, nämlich im Heiligen Lande, sei sein Haus und dort würde er mit ihm lernen und ihm ein autoritativer Erzieher sein, als wäre er sein eigener Sohn. Auch käme er auf für alle seine Bedürfnisse. Der Vater gab hierzu seine Einwilligung, aber die Mutter konnte sich nicht entschließen, denn allzu schwer wäre ihr die Trennung gefallen.
Zudem sah sie voraus, dass ihrem Sohn vom Schicksal Größeres bestimmt sei im Lande seiner Geburt.
Zu jener Zeit erklomm Mosche eine weitere Sprosse auf der Stufenleiter des Wissens, indem er in das Lehrhaus des großen, adlers gleich seine Zeitgenossen überflügelnden Rabbi Nathan Adler, des Kohen, sein Verdienst stehe uns bei. Dieser König der Torawelt nahm ihn bei sich auf; er durfte ihn bedienen und aus dem Born seines Wissens die lebendige Weisheit der Tora gleich frischem Wasser schöpfen. Gleich den anderen Schutzbefohlenen des Meisters, ja vielleicht in besonderem Maß, genoss er seine fürsorgende Aufsicht. Obwohl er noch sehr jung war, stand sein Können demjenigen der anderen, älteren Jünglinge nicht nach, und er erfasste die Lernmethode seines Lehrers, des Hohenpriesters, in ihrer ganzen Tiefe. Bei einem solch engelsgleichen Lehrer ist es andererseits auch kein Wunder, wenn der Schüler Fortschritte macht, und so erwarb sich denn Mosche immer mehr Kenntnisse, stieg höher und höher.
Damals war der Brauch bei den Schülern des Gaon Rabbi Nathan Adler eingeführt, dass sie während der Woche neben ihrem regulären Pensum noch einen frei gewählten, in sich geschlossenen Talmudabschnitt durchnahmen, welchen sie abwechselnd, jeweils am Schabbat, in einem öffentlichen Vortrag erörterten und mit neuen Gesichtspunkten bereicherten. Als nun die Reihe am jungen Mosche war, und sich die Zuhörer, darunter stadtbekannte Kapazitäten, versammelt hatten, erwähnte Mosche unter anderem eine schwerwiegende juristische Frage (Kuschjah), die sein Großvater, der Gaon Schmuel Schotten, aufgeworfen hatte. Wenn die Zuhörer über die Bedeutung und Tragweite der Fragestellung staunten, sagte er, dass sein Großvater, der ihm diese Worte verzeihen möge, sich geirrt habe und die Fragestellung jeder Grundlage entbehre.
Als der ebenfalls anwesende Vater diese Worte aus dem Munde seines Sohnes hörte, entbrannte sein Zorn und er schlug ihn auf die Backe:
Wie könne er sich seinem Großvater gegenüber, der ein großer Gaon und ein Wahrzeichen seines Geschlechtes war, zur Behauptung erdreisten, er habe sich geirrt. Der Knabe schämte sich und versteckte sich zwischen den Folianten des Lehrhauses. Nachdem die Schüler zu ihrem Lehrer gekommen waren und dieser sie über den Lernvortrag des Mosche befragt hatte und so von dem Vorgefallenen und der väterlichen Ohrfeige erfuhr, da gebot er seinem Schüler Mosche, nicht mehr mit seinem Vater zu reden.
Denn es war zu befürchten, dass bei einer abermaligen väterlichen Züchtigung sein Lerneifer gedämpft würde. Mosche lebte dem Befehl genau nach, so als käme er vom König. Er begab sich zur Mutter und erzählte ihr von dem, was ihm sein Lehrer anbefohlen. Der fromme Vater aber, als er von dem Verbot erfuhr, das ausdrücklich vom großen Kohen ausgesprochen wurde, respektierte seinerseits dessen Wort und nahm es in Ergebung auf sich. Sein Sohn ehrte ihn, wie es seine Pflicht war, aber sprach nicht das Geringste mit ihm von jenem Tag an. Damals nahm ihn sein Lehrer gänzlich in sein Haus: von seinem Brot aß er und von seinem Trunk trank er; er wurde wie ein Angehöriger seiner Familie; er verließ Vater und Mutter und hing seinem Lehrer an in großer Anhänglichkeit.
Und es war zu jener Zeit, da ereignete sich ein furchtbarer Vorfall.
Der heilige Gaon Rabbi Nathan Adler, das Andenken des Gerechten sei zum Segen, lernte gerade mit seinem Schüler in seinem Gemach im oberen Stockwerk, als unten am Tor des Hauses ein Bräutigam und seine Braut standen und miteinander lachten und scherzten. Sie stammten beide aus reichen Häusern der Stadt. Die Sache war ein Stachel des Ärgernisses für Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, da sie bis nach oben vernehmbar waren, und er befahl seinem kleinen Schüler Mosche:“Geh‘, steige hinunter, ermahne sie, ihres Weges zu ziehen und nicht miteinander zu scherzen und zu lachen.
„Da stieg Mosche hinunter und verwarnte sie, wie ihm sein Lehrer befohlen; sie aber hörten nicht auf seine Stimme, sodass sein Lehrer ihm zum zweiten Mal befahl, sie zu verwarnen und darauf aufmerksam zu machen, dass ein bitteres Los ihrer harre, wenn sie seinen Worten nicht Folge leisten würden. Der Schüler führte seinen Auftrag aus, aber der Bräutigam erklärte ihm, dass, wenn er nochmals kommen würde, er ihm einen kräftigen Hieb versetzen würde. Mosche stieg hinauf und berichtete seinem Lehrer, was ihm der Bräutigam so unmissverständlich in Aussicht gestellt hatte. Sein Lehrer schickte ihn nun ein drittesmal; da setzte dieser Nichtswürdige seine Drohung in die Tat um. Es vergingen keine vierundzwanzig Stunden, bis beide, Bräutigam und Braut, eines plötzlichen Todes starben (der Allbarmherzige möge uns davor verschonen).
Die Kunde vom Vorgefallenen drang in die Stadt, und die Stadt geriet in Aufruhr.
Weil beide Verstorbenen aus sehr reichen Familien stammten, wollte man den Gaon Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, von Gerichts wegen bestrafen. Aber der Gaon, Leuchte des Exils, Rabbi Pinchas Hurwitz, der Verfasser des Buches Hafla’ah, sein Andenken zum Segen, der zu jener Zeit Vorsitzender des Frankfurter jüdischen Gerichtshofes war, erkannte, dass dieser Weg nicht gut sei und dadurch großer Streit entstünde. Auch war er um die Ehre seines Kollegen und Freundes, des Gaon Rabbi Nathan Adler, besorgt. Deshalb schickte er vierundzwanzig Gesetzeskundige zu ihm, um ihn zu bitten, freiwillig den Bann auf sich zu nehmen.
Der Gaon Rabbi Nathan Adler aber, sein Andenken zum Segen, wollte den Bann nicht auf sich nehmen.
Da schickte der Hafla’ah zum zweiten Mal Sendboten zu ihm und ließ ihm sagen, dass er ja mit seinem Vorschlag für ihn nur Gutes bezwecke, da er dem Aufruhr ein Ende bereiten wolle. Daraufhin nahm der Gaon Rabbi Nathan Adler den Bann für die Dauer von 6 Wochen auf sich, wodurch die streitbaren Geister sich beruhigten. Als die Zeit vorüber war und die Gelehrten kamen, um den Bann zu lösen, rezitierte der Gaon in ihrer Gegenwart sämtliche Tora-Wochenabschnitte der vergangenen 6 Wochen aus seiner eigenen Torarolle. (Einem in Bann Gelegten ist nämlich jede Beschäftigung mit der Tora verboten.)
In jener Zeit kam nach Frankfurt am Main der berühmte Gaon Rabbi Jehuda Lissa, sein Andenken zum Segen, der Verfasser des Buches Mar’eh Kohen (Antlitz des Priesters) und wollte dort eben dieses sein Werk drucken lassen. (Tatsächlich wurde es dort im Jahre 5536 – 1776 gedruckt.) Bevor er es aber der Druckerei übergab, wollte er es noch einmal durchsehen, damit es ohne Fehler ans Licht der Öffentlichkeit gelange. Deshalb ersuchte er seinen Freund, den Gaon Rabbi Nathan Adler, dass er ihm einen begabten jungen Mann an die Hand gebe, der imstande sei, eine talmudische Abhandlung mit gesundem Verstand zu begreifen und ihm zur Seite stehen könne bei der Säuberung seines Buches von Fehlern und Schlacken. Da schickte ihm der Gaon seinen kleinen Schüler Mosche.
Dieser kam also und trat hin vor den Verfasser des Buches Mar’eh Kohen.
Als ihn dieser fragte:“Was ist dein Wunsch, mein Sohn?”, und er wahrheitsgemäß antwortete‘ während sich sein Antlitz mit Schamröte überzog:“Mein Lehrer, Rabbi Nathan Adler, schickte mich zu Seiner Ehrwürden”, — da wurde der Verfasser des Mar’eh Kohen gar ungehalten, denn er urteilte auf den ersten Blick hin, dass dieser Knabe sicherlich bar jeglichen Torawissens sei. Warum, so dachte er, treibt Rabbi Nathan Spott mit mir, indem er mir diesen Knaben schickt ? Und er schickte ihn nach Hause.
Er selbst begab sich nach ihm in das Haus Rabbi Nathan und machte ihm offen Vorwürfe, wie folgt:“Warum nur treibt mein Herr Mutwillen mit mir, als hielte er mich für irgendeinen nichts würdigen Menschen?“Rabbi Nathan aber antwortete ihm:“Nicht so verhält es sich, mein geschätzter Freund, vielmehr ist dieser Knabe stark wie ein Löwe im richtigen Begreifen einer Sache, und mit ihm wirst du dein Ziel erreichen.“Und der Verfasser des Buches Mar’eh Kohen schenkte diesen Worten Gebör und wählte für sich den kleinen Mosche, der das ganze Buch studierte und es mit größter Aufmerksamkeit überarbeitete. Von diesem Zeitpunkt an richtete der junge Mosche sein Herz und sein Augenmerk auf die Vorschriften über Reinheit und Unreinheit (über welche das erwähnte Buch handelt), und schon in seiner Jugend erwarb er sich einen Namen als Kenner dieser schwierigen Materie, ja als einer der größten Kapazitäten auf diesem Gebiet.
Wenn auch Mosche‘ eigentlicher Lehrer der Gaon Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, war und blieb, so trieb ihn doch sein großer Lerneifer und Lernwille dazu, in Anwendung des Mischnaspruches:
„Wer ist ein Weiser? Der von jedermann lernt”, sich auch unter die Fittiche des oben erwähnten überragenden Gaon Rabbi Pinchas, des Verfassers des Buches Hafla’ah, zu begeben. Er zählte zu dessen vorzüglichsten Schülern und gewann gar viel durch den Aufenthalt in seiner Nähe. Eine volle Portion von der Medizin des Lebens, nämlich Toraweisheit, durfte er hier in sich aufnehmen. Rabbi Pinchas behandelte ihn wohlwollend; seine kristallklaren Augen pflegten mit Wohlgefallen auf seinem Schüler zu ruhen. Gern vermittelte er ihm sein reiches Wissen, wie auch ein Sprichwort sagt: “größer noch als das Bedürfnis des Kalbes zu saugen, ist dasjenige der Kuh zu säugen.“
Obwohl er in der großen Toralehranstalt seines Lehrers Rabbi Nathan Adler einer der allerbesten Schüler war, war die Liebe zu seinen Eltern in ihm übermächtig und verzehrte wie eine Flamme seine Seele. Welche Herzenspein, mit dem Vater in der gleichen Stadt zu wohnen und mit ihm nicht reden zu können; die Anordnung Rabbi Nathans war ja für ihn von bindender Kraft. So beschloß er bei sich, die Stadt seiner Geburt überhaupt zu verlassen in der Hoffnung, dadurch seinem aufgewühlten Herzen Ruhe verschaffen zu können.
So begab er sich im Jahre 5536 (1776) nach Mainz, um dort gleichsam Schutz zu suchen im Schatten eines großen Baumes, nämlich des grossen Gaon Rabbi Tewele Scheuer, sein Andenken zum Segen, des dortigen Oberrabbiners.
Der genannte Gaon nahm ihn gar freundlich auf, denn guter Ruf war dem Neuankömmling vorangegangen, sodass dem Gaon dessen gute Eigenschaften bereits bekannt waren. Zum Überfluß brachte Mosche Zeugnisse seiner Lehrer, der Geonim, mit, worin diese sich nicht damit begnügten, seine hohen Qualitäten schriftlich zu bestätigen, sondern in ehrenden Worten geradezu ein Loblied auf ihn sangen. Bald genug verbreitete sich die Kunde von seinem überdurchschnittlichen Wissen und seiner außergewöhnlichen G-ttesfurcht unter der Stadtbewohnern. Sie bemühten sich, seine materielle Situation zu verbessern und ihm alles Nötige zukommen zu lassen. Für sein leibliches Wohl sorgte besonders ein reicher Mann, der ihn auch sonst mit Gefälligkeiten geradezu überschüttete.
Der Knabe hielt sich bei ihm auf, ein Haus voll Bücher stand ihm zur Verfügung, sodass er dort nicht nur Gelegenheit hatte, dem Studium der Tora nach Herzenslust zu obliegen, sondern auch seinen geistigen Proviant durch all die Hilfswissenschaften zu ergänzen, die für das richtige Verständnis der Tora unentbehrlich sind, da er aus all den Werken schöpfen konnte, die die großen Autoritäten unseres Volkes verfaßt haben. In allen Wissenszweigen war er zu Hause, als stünde er, wenn man so sagen kann, auf vertrautem Fuß mit der Weisheit.
Er fand Gunst und Gefallen in den Augen G-ttes und der Menschen, besonders sein Lehrer war ihm gewogen, und zeigte dies auch dadurch, dass er ihn mit einem Titel auszeichnete, der sonst nur älteren, bewährten Talmudschülern zukam: mit dem Ehrentitel eines Meschuchrar (eines Befreiten), d. h. eines offiziell von jeder Dienstleistung für den Lehrer dispensierten Schülers. Obwohl er damals erst 14 Jahre alt war, erwies ihm sein Lehrer diese große Gunstbezeugung.
Ein „dispensierter“ Jünger hatte Anrecht auf verschiedene bestimmte Stipendien von Seiten der Gemeinde, sowie einzelner privater Gönner.
Obwohl ihn G-tt also mit allem Guten gesegnet hatte, und ihm nicht das Geringste fehlte in dieser Stadt, fiel es ihm schwer, fern zu leben von seinen Eltern und von seinen Lehrerm dem Gaon Rabbi Nathan Adler und dem Gaon Hafla’ah. Er erkannte, dass doch bei ihnen recht eigentlich der Ort war, wo der Ewige ihm seinen Segen angedeihen lassen und wo er das Heil seiner Seele erwerben würde, seiner Seele, die mit derjenigen seiner Lehrer aufs Innigste verknüpft war. Deshalb machte er sich nach Ablauf von zwei Jahren auf den Heimweg nach Frankfurt am Main, seiner Geburtsstadt.
Er setzte sein Studium in der Talmudhochschule des Gaon Hafla’ah fort und schloß sich auch wieder seinem Lehrer Rabbi Nathan Adler an. Seine Aufmerksamkeit galt beiden in höchstem Maß und ersteckte sich auch auf das ganze Gehaben dieser heiligen Männer, ihre Lebensführung. Ihre Gewohnheiten machte er zu den seinen; sie wurden für ihn vorbildlich und er wich nicht ein Jota breit von ihnen ab.
Im Alter von sechzehn Jahren hatte Mosche den ganzen Talmud durchstudiert. Als er am Ende angelangt war, fragte er seinen Lehrer Rabbi Nathan, was er bei dieser Gelegenheit zu tun habe, wie er dieses Fest feiern solle — denn als Fest durfte er füglich den Tag bezeichnen, an dem er feststellen konnte, dass G-tt ihm vergönnt hatte, sämtliche Tiaktate des Talmud durchzuarbeiten. Sein Lehrer legte ihm ein dreitägiges Fasten auf, unterbrochen durch Nahrungsaufnahme jeweils am Abend nach Eintritt der Dunkelheit.
So fastete er drei Tage lang.
Er erzählte später, dass er am dritten Tag mit seinen Kameraden zwischen den Gärten außerhalb der Stadt spazieren ging und sie sich verspäteten, sodass sie gezwungen waren, mitten auf dem Weg das Nachmittagsgebet zu verrichten. Während er noch in stiller Andacht versunken dastand — die anderen hatten ihr Gebet bereits beendet — kam ein stämmiger Bursche des Weges und wollte gegen sie tätlich werden. Seine Kollegen hatten sich entfernt, während er sein Gebet nicht unterbrach. Der Flegel wartete, weil er neugierig war, wie solch ein Gebet vor sich geht. Nachdem Mosche fertig gebetet und die drei vorgeschriebenen Schritte nach rückwärts getan hatte, nahte sich ihm jener und schickte sich an, ihn zu schlagen. Da erhob der Fastende ohne Zögern seine Hand und versetzte dem anderen einen so kräftigen Hieb auf die Kinnlade, dass er niederfiel.
Es war auch sonst seine Art, lange im Gebet zu verharren, länger als seine Kameraden. Wenn diese ihm nicht ohne Spott vorhielten, dass sie in der Zwischenzeit, während er noch im Gebet verweilte, einen ganzen Paragraphen des Cesetzeskodex Schulchan aruch (Gedeckter Tisch) samt Kommentaren durchstudiert hätten, antwortete er ihnen: Haben nicht unsere Weisen, ihr Andenken zum Segen, gesagt: „Wer sein Gebet in die Länge zieht, dessen Lebensjahre werden vom Himmel verlängert“? Ich werde also Zeit finden, noch viele Paragraphen des Schulchan aruch zu lernen.“
Im Jahre 5539 (1779) wurde ihm sein Stolz und seine Zierde genommen, denn am Sonntag, den 15. Siwan dieses Jahres, wurde sein Vater, der redliche Rabbi Schmuel, Sohn des Rabbi Mosche, in eine andere Welt abberufen.
Er trauerte lange um ihn.
Im Jahre 5542 (1782) wurde sein Lehrer, der Gaon Rabbi Nathan Adler, zum Oberrabbiner und Leiter der Talmudhochschule der Gemeinde Boskowitz, im Lande Mähren, gewählt.
Rabbi Mosche Sofer, der “Chatam Sofer” SZL
Fortsetzung folgt ijH