Teil 1. Vom Sinai bis zur Mischna
Kapitel 1
Das Thema dieses Buches kam unter beachtenswerten Umständen zustande. In meinen jungen Jahren, als ich in der Jeschiva lernte, verdiente ich auch beim Sender „Kol Israel“ etwas dazu, in der russischen Abteilung des israelischen Rundfunks, der Programme für die Sowjetunion sendete. Mir wurde die wöchentliche Sendung anvertraut, die dem aktuellen Wochenabschnitt der Tora gewidmet war. Die Sendung wurde um sechs Uhr morgens ausgestrahlt, so dass es höchstwahrscheinlich keine Zuhörer außer meiner Mutter gab, die damals in Moskau lebte. Da aber eine Sendung im staatlichen Rundfunk eine verantwortungsvolle Angelegenheit war, auch wenn es keine Zuhörer gab, wurde mir ein Zensor zugeteilt, der darauf achtgeben musste, dass ich das Vertrauen nicht missbrauchte und keine allzu sehr „obskuren“ Ideen durchschleifte. Mein Zensor war der Schriftsteller und Publizist Isja Nadel, weithin bekannt unter dem Pseudonym ‚Oren‘, ein sympathischer Mensch längst schon nicht mehr jungen Alters. Er verfügte über ein kolossales Allgemeinwissen und es war mir eine richtige Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten. Aber Zensor bleibt Zensor (auch wenn er sich offiziell ‚Redakteur‘ nannte), deshalb mussten wir mehrmals aneinanderstoßen, „wegen ideologischer Fragen“, wie man damals zu sagen pflegte.
Als ich mir einmal seinen Vorschlag anhörte, eine für mich sehr wichtige Textstelle in der Sendung, die auf Tonband aufgenommen wurde, zu ändern, empörte ich mich: “Verstehen Sie, Isja, ich habe nicht vor, die Tora als ein Denkmal der antiken Literatur oder der Folklore der israelitischen Stämme aus der Zeit der „Teilung der Königreiche“ darzustellen. Dazu suchen Sie sich jemand anderen. Für mich ist die Tora die Wahrheit!“
Nadel lächelte. „Ärgern Sie sich nicht, junger Mann. Ich werde Ihnen einen Witz erzählen. Ein Jude sagt zu einem Moslem: „Hör mal, Du bist doch ein intelligenter Mensch, wie kannst du an Geschichtchen glauben, dass ein Engel dem Mohammed den ganzen Koran ins Ohr geflüstert hat?“. Antwortet ihm der Moslem: „Und wie kannst du an Geschichtchen glauben, dass G-tt persönlich auf den Berg Sinai herunterkam und Moses alle Gebote überreichte?“ Da rief der Jude: „Aber das ist doch wahr, dos is emes!“
Diese Anekdote passte zur Situation und wir lachten beide. Natürlich verstand ich, dass man irgendwie widersprechen musste, aber ich wusste noch nicht, wie.
Unterwegs zu Jeschiva führte ich gedanklich den Dialog mit meinem Zensor fort. Wir behaupten tatsächlich, dass der Text der Tora auf eine wundersame Weise dem jüdischen Volk am Sinai übergeben wurde. Aber wer hat das gesehen? Wo sind Zeugnisse oder wenigstens Andeutungen für dieses Ereignis? Kann man den Text der Tora selbst als Zeugen in der Frage der Herkunft der Tora akzeptieren? Woher kommt meine Überzeugung, dass das Buch, das ich in der Jeschiva studiere, auch tatsächlich das Buch ist, dass der Schöpfer dem Propheten Mosche übergeben hat? Sind es vielleicht bloß Märchen vergangener Generationen, die vor uns lebten, Märchen, die weit entfernt sind von den wirklich richtigen wissenschaftlichen Vorstellungen über die Welt? Irrungen und Aberglaube? Früher hatte mich diese Frage nicht beschäftigt. Indem ich mich weiter in die Welt der Tora vertiefte, spürte ich „mit allen Fasern meines Herzens“, dass die Tora und ihr Text kein Werk von Menschenhand ist. Wie aber kann man das beweisen? Wie kann man das den Zuhörern erklären? Seine Empfindungen an einen anderen Menschen weiterzugeben und ihm zu sagen: „Glaub mir, dass es wahr ist!“, ist unmöglich. Es ist ein objektives Zeugnis erforderlich oder irgendein anderer, nicht weniger gewichtiger Beweis.
Woher weiß ich also, dass die Tora wahr ist? Klar, man muss als Erstes die Quelle prüfen, aus der ich meine Kenntnisse schöpfe. Also meine Lehrer prüfen!
Der Rabbiner, mit dem ich in der Jeschiva lerne, unterrichtet Tora als eine Offenbarung des Schöpfers der Welt. Er weiß, dass die Offenbarung am Sinai kein Erguss der Phantasie des Volkes ist. Er spürt es nicht nur, er ist davon wirklich überzeugt. Schon beim ersten Treffen hat mich sein ungewöhnliches Gesicht beeindruckt, in dem – und das haben alle bemerkt – seine die Wahrheit ausstrahlenden Augen auffielen. Anders lässt sich das auch nicht sagen – eben Augen voller Wahrheit – wenn man mit ihm sprach, musste man ihm einfach glauben. Skeptiker werden dennoch dagegenhalten, dass ein ehrliches Aussehen bei Weitem kein Beweis dafür ist, dass das von ihm Gesagte auch wahr ist. Dem stimme ich auch zu.
Aber woher weiß mein Lehrer von der Offenbarung auf dem Sinai? Von seinen Lehrern und so weiter. Mit anderen Worten, das Wissen über die Herkunft der Tora habe ich als Überlieferung, nach der Tradition, erhalten.
Das ist die Antwort! Aber aus meiner Erfahrung heraus wusste ich, dass diese Antwort solche Gesprächspartner wie Isja Nadel nicht besonders beeindrucken würde. Sie sind skeptisch gegenüber Überlieferungen. Natürlich ist Überlieferung nicht gleich Überlieferung. Alle Ethnien haben ihre Traditionen, ihren Epos und ihre Folklore, wobei die Wissenschaftler das Wesen der Herkunft dieser Folklore längst entdeckt haben. In den meisten Fällen steht dahinter eine mündliche literarische Volkskunst. Stämme und Völker sind geneigt, ihre Vergangenheit zu idealisieren. Viele Nationen erfinden ihre Herkunft, d.h. sie beschäftigen sich mit einer direkten Geschichtsfälschung, was eigentlich eine beliebte Beschäftigung der gesamten Menschheit ist. Man braucht sich nur an die ägyptischen Pharaonen zu erinnern. Oder an die Pharaonen einer uns viel näheren Ära — die Herrscher unseres ehemaligen Vaterlandes (Anm. des Übersetzers: der Autor stammt aus der ehemaligen Sowjetunion). Diese betrieben Geschichtsfälschung bewusst und das auch noch erfolglos. Und die alten anonymen Autoren taten das unbewusst und waren sehr erfolgreich. Genauer gesagt haben sie die Geschichte nicht um-, sondern neugeschrieben, denn vor ihrer Zeit existierten gar keine Niederschriften. Warum dann nicht annehmen, dass die Juden im Altertum dasselbe getan hatten?
Ich habe nicht umsonst erwähnt, dass die einen die Geschichte umschreiben und die anderen sie neu erfinden. Eine Fälschung ist nur dann möglich, wenn etwas nicht klar ist, wo die Ereignisse vergangener Epochen vom Nebel der Vergessenheit umhüllt und von Lücken im nationalen Gedächtnis gekennzeichnet sind. Da, wo alles klar ist, ist es sehr schwer, in den Geschichtsgang Ereignisse einzubauen, die es nicht gab. Man traut Überlieferungen nicht, weil man nicht weiß, wo diese herkommen, weil man es nicht vermag, die Kette der Weitergabe dieser Ereignisse nachzuvollziehen. Aber wenn wir es schaffen würden, die kontinuierliche Kette der Traditionsübergabe wiederherzustellen, über die man in jeder Generation Bescheid weiß, wer die Menschen waren, die die Informationen weitergegeben hatten, dann wird man sagen können, dass die Überlieferung vertrauenswürdig ist.
Ich werde folgendes Beispiel anführen: 1991 wurde das 500-jährige Jubiläum der „Entdeckung“ von Amerika durch Kolumbus gefeiert. Es fanden sich Menschen in Skandinavien, denen die Idee des Festes nicht gefiel. Es ist nämlich so, dass eine uralte Sage existiert, die besagt, dass die norwegischen Wikinger es bis an die Küste Amerikas fast schon im elften Jahrhundert geschafft hatten. Leider blieben keinerlei Beweise für diese mutigen Abenteuer erhalten.
Was meinen Sie, was hätten jene kühnen Seefahrer tun sollen, erstens, damit Zeugnisse ihrer Ankunft auf diesem weit entfernten Kontinent die Zeit überdauern, und zweitens, damit diese Zeugnisse in unseren Augen auch wahrheitsgetreu genug sind? Sie werden sagen, dass diese Menschen es nicht nötig gehabt hätten, sich Gedanken über uns zu machen? Dann wiederhole ich meine Frage auf eine andere Art und Weise: Was hätten Sie an ihrer Stelle getan?
Vorschlag Nummer eins: eine Flasche mit einem Zettel drin in der Erde vergraben. Oder noch besser: einen Schriftzug im Felsen einmeißeln (damit man dafür später einen speziellen Saal im Britischen Museum zur Verfügung stellt). Das Allerbeste wäre aber, wenn man nach Amerika kommen, die dortigen Bewohner versammeln und sie bitten würde, eine Deklaration zusammenzustellen, sagen wir, in fünfhundert Exemplaren, auf Bisonhäuten niedergeschrieben, etwa folgenden Inhalts: „Wir, die Unterzeichner, bezeugen hiermit, dass wir an dem und dem Tag diesen oder jenen Mondes, in dem und dem Jahr nach dem Hochwasser auf dem Potomac River Bleichgesichtern begegneten, die behaupteten, von einem weitentlegenen Überseeland Norwegen eingetroffen zu sein“. Oder so etwas in der Art. Kurz gesagt, es geht um ein Dokument. Was machen wir weiter? Wir vereinbaren, dass jeder Besitzer eines der fünfhundert Exemplare sein Exemplar, nachdem er es unterzeichnet hatte, bei sich aufbewahren und vor dem Tod seinem Sohn übergeben wird. Der Sohn wird seinerseits eine Unterschrift unter die Unterschrift des Vaters setzen – „das Falkenauge“ oder „die treue Hand“ — und wird ehrlicherweise dazu schreiben: „Auch wenn ich selbst die Bleichgesichter nicht gesehen habe, habe ich über sie von meinem Vater gehört“. So wird diese Deklaration von einer Generation an die andere weitergegeben, die Liste der Unterschriften würde immer größer werden und die Informationen über die Ankunft der Norweger würden sich innerhalb der lokalen Bevölkerung verbreiten. Schließlich treffen die ersten Spanier ein und bekommen – anstatt einer feierlichen Rede – gut erhaltene Dokumente auf Bisonhäuten vorgezeigt, nach dem Motto „Ihr seid halt zu spät, señores!“
Es geht aber nicht um Kolumbus‘ Weggefährten, sondern um uns. Sagen Sie, wenn nicht Tausende von solchen Deklarationskopien mit langen Listen von den „Falkenaugen“ und „Langen Fingern“ an uns gelangt wären, würden wir nach wie vor denken, dass Amerika von Kolumbus entdeckt wurde?
Man muss also die Generationskette herausbekommen, sie wiederherzustellen! Ich rannte zu meinem Lehrer Rav Eliezer Kugel und fragte, wer ihn in der Tora unterrichtete. Er antwortete, dass er in seiner Jungendzeit beim bekannten Rabbiner von Brest Rav Soloveitschik gelernt hatte, der aus Litauen nach Israel kam, als der Zweite Weltkrieg tobte.
Alle weiteren historischen Untersuchungen führte ich selbst durch. Zuerst stellte sich die Frage, bei wem Rav Soloveitschik gelernt hatte. Daraufhin musste man klären, bei wem seine Lehrer gelernt hatten. So entfaltete sich langsam- ein Kettenglied nach dem anderem- die ganze Kette der Übergabe jüdischer Tradition. Dieses Buch, das der Leser in der Hand hält, ist der Beschreibung dieser Kette gewidmet.
Fortsetzung folgt.
Übersetzung aus dem Russischen: M. und R. Vorobiev