Kommentar zu Pirkey Awot von Raw Meir Lehmann SZL
Raw Meir Lehmann SZL war einer der großen Talmide Chachomim Deutschlands in der Zeit des Kampfes des Tora-treuen Judentums gegen den Einfluss der “Reform”, Rabbiner von Mainz, der seine ganze Kraft in die geistige Rettung des deutschen Judentums, v.a. seiner Jugend, legte. Wir setzen fort, Einzelabschnitte aus seinem Kommentar zur Mischna Awot zu bringen.
5. Perek, 4. Mischna
Wie der Mensch G´tt versucht.
עֲשָׂרָה נִסְיוֹנוֹת נִסּוּ אֲבוֹתֵינוּ אֶת הַמָּקוֹם בָּרוּךְ הוּא בַמִּדְבָּר, שֶׁנֶּאֱמַר (במדבר יד) וַיְנַסּוּ אֹתִי זֶה עֶשֶׂר פְּעָמִים וְלֹא שָׁמְעוּ בְּקוֹלִי:
„Zehn Versuchungen wagten unsere Väter gegen G´tt, gesegnet sei er, in der Wüste, denn es ist gesagt: Sie haben mich nun bereits zehnmal versucht und doch nicht meiner Stimme gehorcht“ (4. B. M. 14, 22).
Diese zehnfachen Versuchungen werden im Talmud (Erchin 15) in folgender Weise aufgezählt: Zweimal am Meere, zweimal beim Fehlen des Wassers, zweimal beim Manna, zweimal bei den Wachteln, einmal beim goldenen Kalb und einmal in der Wüste Paran bei den Kundschaftern. Als Israel vor sich das Meer und im Rücken die Kriegsscharen seiner Feinde gewahrte, als somit das Wunder der Meeresspaltung sich noch nicht vollzogen hatte, damals verzweifelte Israel an G´tt und gab seiner Verzweiflung in den an Mosche gerichteten Worten Ausdruck: „Haben wir keine Gräber in Ägypten, daß du uns herausgenommen hast, um in der Wüste zu sterben ?“ usw. (2. B. M. 14, 11). Aber als selbst das Meer sich schon gespalten hatte und sie im Durchzug durch dasselbe begriffen waren, mitten im Meere, mitten auf der Wunderbahn, die G´tt für unsere Väter geschaffen, regte sich der Kleinmut (Tehillim 106, 7). Sie fürchteten, dass ihre nachfolgenden Dränger ebenso wie sie selber das jenseitige Ufer erreichen könnten und beruhigten sich erst, als das Meer die Leichen ihrer Tyrannen ausspie. „Erst als Israel die Ägypter tot am Meeresufer sah, sah es die große Hand, die G´tt über Mizrajim walten ließ, dann fürchteten sie G´tt und vertrauten auf G´tt und Mosche, seinen Diener“ (2. B. M. ‚14,30, 31). Kaum aber war Israel vom Meeresstrande wieder fortgezogen, so murrte das Volk in Mara gegen Mosche, weil kein Wasser zum Trinken da war (2. B. M. 15, 24).
Das neugewonnene G´ttvertrauen bestand seine erste Probe nicht angesichts des Wassermangels. Und obwohl G´tt durch das Marawunder zeigte, daß er auch aus glühendem Wüstenfels den kühlenden Wasserborn sprudeln zu lassen vermag, wiederholte sich doch derselbe Kleinmut, als sich später in Refidim ebenfalls der Wassermangel fühlbar machte. Und G´ttes Langmut trägt den Zweiflern an seiner Allmacht Rechnung und gewährt ihr Verlangen, gibt ihnen nicht nur Wasser, gewährt ihnen auch auf ihr Verlangen noch Brot, die wunderbare Himmelspeise, das Manna. Aber auch hier übertritt der Kleinmut die Weisung, am Sabbat das G´ttesbrot nicht zu suchen, und die andere Mahnung, der Gnade G´ttes für jeden Tag neu zu vertrauen und nichts übrig zu lassen für den anderen Morgen! Es fanden sich trotzdem einzelne, die am Sabbat das von G´tt gereichte Brot suchten und von dem Gewährten übrigließen bis zum Morgen. Aus 2. B. M. 16,8 ergibt sich, daß das Verlangen des Volkes sich nicht auf Brot beschränkte, sondern auch noch Fleisch in sich begriff. Aus Vers 13 desselben Kapitels ist ersichtlich, daß auch diesem Verlangen entsprochen wurde, ja es wurde selbst gewährt,- als es sich in noch erhöhtem Maße zum zweiten Male geltend machte, wie es 4. B. M. 11 eingehend berichtet ist. Diesen Verirrungen schließen sich dann die beim goldenen Kalb und als letzte die der Kundschafter an. Erst hier ereilte die sich gegen G´ttes Führung, Auflehnenden ihr Verhängnis. Nachdem G´tt sogar ihrem Kleinmut bisher noch immer Rechnung getragen hatte, verurteilte sie nunmehr die göttliche Verheißung zu vierzigjährigem Aufenthalte und zum Tod in der Wüste.
Die Verirrung der Kundschafter, die hier zuletzt aufgezählt wird, und an welche sich ja das Wort knüpft, „sie versuchten mich nun zehnmal und hörten doch nicht auf meine Stimme -“ fällt noch in das erste Jahr der Wüstenwanderung, denn von ihr leitet sich ja das Verhängnis des vierzigjährigen Wüstenaufenthalts erst her.
In dieselbe Zeit fallen auch die sämtlichen zehn Versuchungen, deren letzte die Verirrung der Kundschafter bildet. Für die oberflächliche Betrachtung scheint dies die Schuld unserer Väter noch zu steigern, daß sie kurz nach dem Auszug von Ägypten, nach der Meeresspaltung, nach der Offenbarung am Sinai, nach allen diesen Zeichen und Wundern noch an G´ttes über sie waltender Vorsehung zweifeln und sie auf die Probe stellen konnten. Aber ein tieferes Eingehen auf die Sache und besonders an den Umstand, daß sich diese zehn Proben auf das erste Jahr beschränkten, dürfte zu einem anderen Ergebnis führen. Wenn man die vielfachen Empörungen und die Ausdrücke der Unzufriedenheit jeder Art gewahrt, in welche unsere Väter in der Wüste ihre Abneigung kleideten, sich rückhaltlos der Leitung G´ttes und seines Dieners Mosche zu fügen, so ist man leicht geneigt, ein hartes Urteil über ihren Geist und Charakter zu fällen. Dem widerspricht die Auffassung unserer Weisen, welche das „Geschlecht der Wüste“ ein ,דור דעה ein intelligentes Geschlecht nennt. Dem widerspricht ferner das Wort des Jirmija (Kap. 2, 2): „Gehe und verkünde vor den Ohren Jerusalems also: so hat G´tt gesprochen: Ich gedenke dir die Hingebung deiner Jugend, die Liebe deines Brautstandes, da du mir nachwandelst in der Wüste, in einem ungesäten Lande.“Es scheint auch in unserem Väterspruch die Wüste als Örtlichkeit der Versuchungen, wo selbst die Väter G´tt versuchten, nicht ohne Absicht besonders hervorgehoben zu sein. Der vierzigjährige Aufenthalt in der Wüste war für Israel die große Schule, in welcher es lernen und an sich erfahren sollte, daß der Mensch nicht vom Brot allein, sondern von allem lebt, was G´ttes Mund entströmt. Und sie standen zur Zeit dieser Versuchungen doch erst im Anfang dieser großen Lehrzeit, im ersten Jahre ihrer Wüstenwanderung. Je wunderbarer jeder Schritt dieser Wüstenwanderung war, je unmittelbarer G´ttes besondere Fürsorge sich hier kundgab, desto auffälliger und unbegreiflicher mußte es unseren Vätern erscheinen, daß ihnen die allernötigsten Mittel zur Erhaltung des Daseins, Wasser und Brot, versagt sein sollten. Ein Volk, das in so wunderbarer Weise seine Freiheit nach jahrhundertelanger Knechtschaft erlangt, steht vor einem Rätsel, wenn es, eingeengt zwischen seinen Zwingherren und dem brandenden Meere, von allen Seiten sich durch den sicheren Tod bedroht sieht. Wenn aber dann vor ihm gar die Fluten des Meeres zurücktreten und der brennende Durst in der glühenden Sandwüste das Volk hinzuraffen droht, wenn durch den Mangel an Brot sich der Hunger geltend macht und nach menschlicher Berechnung keine „Möglichkeit vorhanden scheint, ihn zu stillen, so wird man den Zweifel an G´ttes Vorsehung, wenn auch nicht berechtigt, so doch begreiflich finden.
Dazu kommt noch der Umstand, daß die wiederholten Auflehnungen erst in zweiter Reihe sich gegen G´tt, unmittelbar aber sich gegen Mosche und Ahron wenden und immer indem Vorwurf gipfelten, daß ihre Führer sie aus Ägypten geführt hätten. Dieser fortgesetzt gegen die Befreier Israels erhobene Vorwurf scheint im Munde der so wunderbar vom harten Sklavenlos Befreiten schwer verständlich. Es scheint, daß das Volk die Befreiung von dem Sklaven-lose und den Auszug aus Ägypten scharf voneinander schied. Daß das auf ihnen lastende, unerträgliche Joch ihrer Zwingherren gebrochen werde, war sicherlich der sehnlichste Wunsch der Geknechteten. Aber die Liebe zu ihrem zweiten Vaterlande mochte sie das Ideal ihrer Wünsche darin erblicken lassen, den auf ihnen lastenden Druck gebrochen zu sehen, ohne daß sie deshalb den Boden verlassen müßten, der nun seit Jahrhunderten die Gebeine ihrer Väter in sich trug (Der Hinweis des Volkes bei der ersten Versuchung am Meeresgestade in den Worten: המבלי אין קברים במצרים dürfte dies enthalten, es mußte schon die Kinder bestimmen, nicht in der Wüste sterben zu wollen, um wenigstens im Tode nicht von den heimgegangenen Almen und ihrer irdischen Hülle getrennt zu sein), und der, schon seitdem die Ahnen ihn betreten hatten, einen fesselnden Einfluß auf sie ausübte (Vgl. Hirschs Pentateuch-Kommentar 1. B. M. 47, 27.). Hat doch bis in die neueste Zeit hinein keine noch so rohe, an den Israeliten eines Staates verübte Barbarei sie bestimmen können, freudig den Wanderstab zu ergreifen und ihrem Vaterlande gleichgültig den Rücken zu kehren. Die Tränen und der Jammer, unter welchen Juden zu allen Zeiten, trotz aller Zurücksetzung, nur der härtesten Notwendigkeit gehorchend, ihr Vaterland verließen, stehen wahrlich bis auf den heutigen Tag in wunderbarem Gegensatz zu ihrer ,‚Vaterlandslosigkeit“. Es scheint, als ob diese unzerstörbare, unzählige Male in der Verfolgungsgeschichte Israels bewährte anhängliche Treue zu seinem Vaterlande eine alte Eigentümlichkeit ist, wie sie in dem immer wiederkehrenden Verlangen, nach Ägypten zurückzukehren, zum Ausdruck gelangte. Sie vermochten in diesem Verlangen nicht einmal eine unmittelbare Auflehnung gegen G´tt zu erblicken. Daß G´tt sich ihrer angenommen, die Macht der Ägypter gebrochen und die Unterdrückten befreit habe, das war ihnen über allen Zweifel erhaben. Aber der Auszug aus Ägypten und die Führung durch die Wüste erschienen ihnen als ein Werk Mosches. Als sie daher die große G´tteshand sahen, die auch nach dem Auszug aus Ägypten für sie am Meere eintrat, da waren sie nicht nur von G´ttes Walten, sondern auch von der G´ttlichkeit der Sendung Mosches überzeugt. ויאמינו בה‘ ובמשה עבדו. Diese Überzeugung aber wurde schwankend, sobald sich der Mangel an dem fühlbar machte, was zur Fristung des bloßen Daseins doch unbedingt nötig ist. Dieser Mangel, mochten die Väter glauben, dürfe nicht eintreten, könne nicht denkbar sein, wenn es wirklich G´ttes Wille ist, der sie aus Ägypten geführt und in die Wüste gewiesen habe. Ihr G´ttvertrauen war es, das sie G´tt versuchen ließ. Sie waren wohl widerstrebend der Leitung G´ttes gefolgt, aber nur weil sie sich so von G´tt getragen wußten, daß sie ihn sofort vermißten, wenn ihnen die Mittel zur Erhaltung des Lebens versagt schienen. ‚ממרים היתם עם ה Widerspenstig seid ihr gewesen nicht gegen, sondern – mit G´tt, sagt deshalb Mosche in seiner Scheidestunde. Sie waren ,ממרים aber selbst dann waren sie ה‘ עם.
Jedenfalls beweisen diese fortwährenden Auflehnungen gegen G´tt, dass es eben ein intelligentes Volk war, von dem sie ausgingen, das nicht blindlings und prüfungslos sich seinen Führern fügte, bis die Zweifler an ihrem Zweifel in der Wüste zugrunde gingen.
Diese mildere Auffassung des Verhaltens unserer Väter in der Wüste findet sich auch in Tana debe Elijahu, Kap. 23, wo es heißt: „Einstmals traf mich auf meiner Wanderung ein Greis, welcher zu mir sagte: Meister, unsere Geschlechter sind doch besser als das Geschlecht der aus Ägypten Gezogenen. Siehe einmal und erwäge es wohl, das Zeitalter Mosches hatte doch nur die Thora allein, aber unsere Zeiten haben die Tora, die Propheten und die übrigen Schriften. Ich antwortete ihm: Nicht doch; denn die Geschlechter seit der Zerstörung des ersten und der Erbauung des zweiten Tempels hatten die Tora, die Propheten, die übrigen Schriften und die an die Worte der Tora sich knüpfenden Auseinandersetzungen, und doch waren sie nicht so vollkomme nwie die aus Ägypten Ausgezogenen. Überzeuge dich doch selbst, was von den aus Ägypten Ausgezogenen gesagt ist: Gehe und verkünde es vor den Ohren Jerusalems, ich gedenke dir die Hingebung deiner Jugend usw. – Es gab nichts in G´ttes Welt, das der Heilige, gesegnet sei er, nicht Israel enthüllte, denn so ist es gesagt usw.“
In der angeführten Stelle des Tana debe Elijahu heißt es nun wörtlich weiter: „Ich rufe Himmel und Erde für mich als Zeugen an, wenn ich täglich und stündlich alle Geschöpfe überdenke, falle ich zu Boden und segne, erhebe, preise und heilige den Namen desjenigen, durch dessen Wort die Welt geworden ist, er verteilt die Nahrung allen Bewohnern der Welt, allen Geschöpfen seiner Hände von Mensch bis Vieh, bis zum Gewürm und den Vögelndes Himmels und den Seelen, die er geschaffen hat“.
Der dunkle Zusammenhang scheint sagen zu wollen:
Dem Israel der Wüste hat G´tt alle Geheimnisse enthüllt, und gerade diese Enthüllung war die Folge, daß sie aus ihrer Höhe zu Boden fielen. Wenn ich mir selbst die Gnadenfülle G´ttes vergegenwärtige, überwältigt mich die Liebesgröße G´ttes, mit der er für alle und alles sorgt, derart, daß ich zu Boden falle. Unsere Väter, vor welchen G´tt das Geheimniss einer ganzen Liebesgröße enthüllt, mögen, überwältigt von dem Geheimnis der G´tteswaltung, aus ihrer Höhe zu Boden gefallen sein, aber selbst in diesem Fall haben sie G´ttes Preis verkündet.