Kommentar zu Pirkey Awot – Schwamm, Trichter, Sieb und Schwinge

Datum: | Autor: Rav Meir Lehmann | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
schwamm

Raw Meir Lehmann SZL war einer der großen Talmide Chachomim Deutschlands in der Zeit des Kampfes des Tora-treuen Judentums gegen den Einfluss der “Reform”, Rabbiner von Mainz, der seine ganze Kraft in die geistige Rettung des deutschen Judentums, v.a. seiner Jugend, legte. Wir setzen fort, Einzelabschnitte aus seinem Kommentar zur Mischna Awot zu bringen.

5. Perek, 15. Mischna

אַרְבַּע מִדּוֹת בְּיוֹשְׁבִים לְפְנֵי חֲכָמִים.
סְפוֹג, וּמַשְׁפֵּךְ, מְשַׁמֶּרֶת, וְנָפָה. סְפוֹג, שֶׁהוּא סוֹפֵג אֶת הַכֹּל. מַשְׁפֵּךְ, שֶׁמַּכְנִיס בָּזוֹ וּמוֹצִיא בָזוֹ.מְשַׁמֶּרֶת, שֶׁמּוֹצִיאָה אֶת הַיַּיִן וְקוֹלֶטֶת אֶת הַשְּׁמָרִים. וְנָפָה, שֶׁמּוֹצִיאָה אֶת הַקֶּמַח וְקוֹלֶטֶת אֶת הַסֹּלֶת.
‎„Vier Arten gibt es unter denen, welche vor den Weisen ‏‎sitzen: Schwamm, Trichter, Seihe, Schwinge. Schwamm: ‏‎der alles aufnimmt; Trichter: der hier aufnimmt und‏‎ dort von sich gibt; Seihe: die den Wein von sich gibt und den Hefesatz zurückläßt; Schwinge: die den Mehl-‏‎staub von sich gibt und das Kornmehl zurückhält.[1]

Nicht alle, die in das Beth-Hamidrasch gehen, setzen sich daselbst zu Füßen der dort lehrenden Weisen nieder. Es ist charakteristisch, wie der Gewinn, den der Verkehr zwischen Jüngern und Meistern der Tora zur Folge haben soll, voraussetzt, daß die Schüler vor den Lehrern sitzen. Nicht den ins Beis Midrasch gehenden‎ erschließt sich ohne weiteres der unbegrenzte Weisheitsschatz unserer großen Lehrer. Die Gehenden ‎‎müssen erst Sitzende geworden sein und früh und spät, Tag und Nacht zu Füßen der über ihnen stehenden Meister sitzen, um nun das Wort der belehrenden Weisheit erfolgreich von ihnen hinnehmen zu können. Dieses über den Worten der Weisen hinsitzende Studium, das sich nicht so leichthin und nebenher betreiben läßt, das nur durch unablässige Hingebung sich den Jüngern erschließt, mag wohl dazu geführt haben, daß man den ganzen Kreis wissensdurstiger Tora-beflissener „Jeschiwa“ nennt. Wenn diese Bezeichnung auch zunächst die gemeinsame Beteiligung vieler Lernenden zum Ausdruck bringen will, so liegt ihr doch die durch das Sitzen über einen Gegenstand sich von selbst ergebende Vertiefung zugrunde, die jedes ernste und eifrige Studium begleiten muß. „Je mehr Studium (“Jeschiwa”), desto mehr Weisheit“, lautet in diesem Sinne ein früherer Väterspruch (II, 8.)‎.

‎Die Leute von Alexandrien fragten Rabbi Jose ben Chanina: „Was soll man tun, um weise zu werden? Man studiere anhaltend und schränke sein Geschäft ein, war die Antwort“ (Talmud Niddah 70). Aus den vielen Stellen, aus welchen es sich ergibt, daß „Jeschiwa“ nicht als die äußere Einrichtung vereinigter Tora-jünger zur Aneignung der Tora, sondern als Bezeichnung für das emsige Studium der Tora-Weisheit gilt, möge noch folgende hier angeführt werden: „Resch Lakisch sagte: Siehst du einen Schüler, dem das Lernen hart wie Eisen ist, so liegt es daran, dass er sich den Gegenstand nicht durch vieles Wiederholen geläufig gemacht hat.” Das Mittel dagegen ist emsiges Studium. So hat Resch Lakisch selber sich einen Satz der Mischna vierzigmal wiederholt, entsprechend den vierzig Tagen, während deren die Tora gegeben wurde, und ist dann erst vor seinen Lehrer Rabbi Jochanan hingetreten. Rab Adda bar Ahaba hatte einen Satz der Mischna erst vierundzwanzigmal sich wiederholt,entsprechend den vierundzwanzig Büchern der Heiligen Schrift, und trat dann erst vor seinen Lehrer Raba (Talmud Taanit 8). (Der Hinweis auf die vierzig Tage, Während welcher die Tora Mosche übermittelt wurde, und auf die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift dürften in dem hier betonten Zusammenhang sagen wollen: Ohne wunderbare, übernatürliche Mitwirkung G-ttes ist es nicht denkbar, daß jemand die ganze Tora in ihrem vollen Umfange innerhalb vierzig Tagen sich aneignen könne. Müssen wir somit diese G-ttliche Förderung und Unterstützung voraussetzen, so hätte es wiederum keiner vierzig Tage bedurft, und ein einziger Tag hätte schon genügt. Hat aber G-tt trotzdem seine Tora in vierzig Tagen Mosche gegeben, so hat er damit das, was er ihm auch in einem Tage hätte geben können, zur vierzigmaligen Wiederholung und Wiedererwägung hingegeben und damit alle Jünger der Tora auf dieselbe Beharrlichkeit für die Aneignung der Tora hingewiesen. – Dasselbe tritt uns auch in der vierundzwanzigfachen Gliederung unseres heiligen Schrifttums entgegen. Es ist doch eine und dieselbe Wahrheit, welcher der erste und letzte Prophet Ausdruck gibt. Tritt sie uns dennoch in vierundzwanzigfach verschiedener Form entgegen, so liegt darin für uns der Sporn, die G-ttlichen Toraaussprüche ebenso oft uns zu wiederholen und sie immerwieder unter anderem Gesichtspunkt zu erfassen und sie uns auf diese Weise als unverlierbar zu erhalten.)

Wir sind in diesem Sinne alle ‏יושבים לפני החכמים‎ Sitzende vor den Weisen oder sollten es doch wenigstens sein. Und zwar nicht nur der zeitgenössischen mit uns lebenden und uns persönlich belehrenden Weisen, sondern auch der längst heimgegangenen, aber durch ihr uns verbliebenes Wort in unverwelklicher Frische unter uns fortlebenden ‏Weisen. Es ist das so wenig eine Übertreibung, dass diese Auffassung sogar in der religionsgesetzlichen Praxis Anwendung findet. Aus dem im Schulchan Aruch (Jore Dea Kap. 242) gesetzlich niedergelegten Verbote, in Gegenwart des Lehrers religionsgesetzliche Entscheidungen zu treffen, wird als selbstverständliche Folgerung die Pflicht abgeleitet, keinerlei religionsgesetzliche Entscheidung auszusprechen, ohne zuvor unsere Gesetzbücher darüber befragt zu haben;‎‏‎ „denn unsere Lehrer sind eben die Bücher, die innerhalb Israels verbreitet sind.“

Alle, die zu den Füßen der Weisen sitzen, an ihrem unsterblichen Munde hängen, lassen sich somit in vier Klassen einteilen.

Die einen gleichen dem Schwamm, der alles aufnimmt.

Wer sonst in dieser Zeitlichkeit, wo Korn und Spreu, Schein und Sein, Wahrheit und Täuschung nebeneinander und oft miteinander verschlungen auftreten, alles prüfungslos hinnehmen wollte, der wäre ein ‏,פתי יאמין לכל דבר‎ einer, der allen äußeren Eindrücken widerstandslos zugänglich ist, und würde als solcher nichts weniger als weise handeln. Es gibt viele solcher Schwamm-Menschen, die nicht die Einsicht und meistens nicht den Mut eines eigenen Urteils haben, die daher alle Ansichten, Anschauungen, Urteile und Standpunkte ruhig hinnehmen, welche ihnen im täglichen Verkehr begegnen. Während hier Gedankenlosigkeit und oft auch Charakterlosigkeit, jedenfalls aber eine Lebensgemächlichkeit vorliegt, die keiner Ansicht auch nur den Schein einer Gegnerschaft entgegenbringen möchte, um es mit allen zu halten und es mit niemand zu verderben, sind gerade Alltagsmenschen dieses Schlags gern geneigt, ihr Mütchen an unseren Weisen und ihren Aussprüchen zu kühlen. Hier haben sie ja keine Ungunst ihrer Umgebung zu fürchten, hier haben sie ein Gebiet, auf dem sie ihr kritisches Roß ungeniert tummeln können. Diese haben nie zu Füßen der Weisen gesessen, sie haben nie das lautere schlackenreine Gold, das jene uns in silbernen Schalen reichen, zu würdigen verstanden. Eine nach Jahrtausenden zählende Erfahrung bürgt für die Wahrheit dessen, was sie bieten, wie noch keines ihrer Worte unerfüllt zu Boden gefallen ist. Hier würde die Kritik und der Widerspruch ein bedenkliches Licht auf den Kritiker fallen lassen. Hier ist alles rein und edel, wahr und gut. Selbst שיחת חולין של תלמידי חכמים, das nicht in der Absicht zu lehren gesprochene Wort ist voller Gedankentiefe und reich mit bedeutsamem Wert für das Leben ausgestattet. Wie für den Chemiker die kleinsten Moleküle hohe Bedeutung haben, wie der Botaniker kein Unkraut kennt, so saugt derjenige, der die bewährte Weisheit, welche hier geboten wird, zu würdigen weiß, gierig wie der Schwamm alles in gleicher Wertschätzung auf. ‎„Das ist der vollendete Schüler, der dem Schwamm gleich‏ ‎in sich aufnimmt.“

„‏Die anderen gleichen dem Trichter, der hier aufnimmt und dort von sich gibt.

Wer sich wirklich zu Füßen der Weisen niedersetzt, um von ihnen Belehrung zuempfangen, wird nicht das Aufgenommene engherzig in der Brust verschlossen halten, sondern er wird das, was ihm an Weisheit geworden, auch anderen mitzuteilen bedacht sein. Was er hier aufnimmt, gibt er an andere weiter, und zwar wie der Trichter, dessen obere Öffnung weit und dessen Ausfluß eng ist.

Der Schwamm bedarf erst des äußeren Druckes, wenn er von dem, was er aufgenommen hat, wieder abgeben soll. Der Trichter tut dies von selbst, aber immer in dem Maße, daß die Fähigkeit aufzunehmen größer ist als die Ausstrahlung. Dieser Strahl der Toraweisheit, den der Begabte dem Minderbegabten zuwendet, ist das geistige Band, welches Lehrer und Schüler, Meister und Jünger, jede Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet.

Die dritten gleichen dem Sieb, der den Hefesatz zurückhält und den Wein fließen läßt.

So gewiß die Hefen des Weins ungenießbar sind und, mit dem gegorenen, abgeklärten Wein gemischt, dessen Wert beeinträchtigen, so gewiß sind selbst diese Bestandteile für den Wein unerläßlich. Sie enthalten die geistige Kraft des Weins vielleicht in noch höherem Grade als dieser selbst und bedürfen nur der Destillation, um diesen geistigen Gehalt rein zutage treten zu lassen. Freilich würde der ungeläuterte Hefenansatz, so wie er ist, niemandem munden. So haben die Weisen eine große Zahl tiefer, bedeutsamer Wahrheiten in Formen gekleidet, die dem nur am Äußeren haftenden Blick wenig zusagen. Der wahre Schüler der Weisen wird diese Wahrheiten zunächst für sich behalten und seinen Jüngern nur dasjenige bieten, dessen hoher Wert auch für den wenig tief Eindringenden offen daliegt. Gibt es doch eine große Zahl unbestrittener Wahrheiten, die den Gereiften beglücken, während sie dem minder Reifen bedenklich und geradezu gefährlich sind. Diesem Umstande trägt derjenige Rechnung, der gleich der Seihe die Hefen zurückhält und den klaren Wein seinen Jüngern kredenzt.

 

Die vierten gleichen der Schwinge, die den Mehlstaub von sich gibt und das Kernmehl zurückhält.

Es ist die vollendetste Stufe derjenigen, die zu Füßen der Weisen sitzen. Die Vorsicht derjenigen, die dem Sieb gleich das an und für sich weniger Genießbare zurückhalten und nur den abgegorenen Wein den anderen reichen, geht hier noch einen Schritt weiter. Handelt es sich doch hier um diejenigen Jünger, die den Meistern bereits so nahestehen, dass sie selber die gelehrten Weisheitssprüche zu erwägen und nach ihrem Wert einzustellen verstehen. Dieser Wert kann oft durch persönliche Eigentümlichkeiten des Meisters beeinträchtigt werden. Wenn dein Lehrer einem Engel G-ttes gleicht an sittlicher Vollendung seines Lebenswandels, dann magst du Belehrung aus seinem Munde suchen, lautet in diesem Sinne ein mahnendes Wort der Weisen. Wenn aber der Lehrer mit der Tat seines Lebens die Lehre seines Mundes Lügen straft, dann meide einen solchen Lehrer. Unter den nach Tausenden zählenden Weisen Israels ist uns nur ein einziger genannt, der in seinem praktischen Leben die von ihm gelehrte Toraweisheit verleugnete, dieser eine war Elischah ben Abuja, der berühmte Lehrer des noch berühmteren Schülers Rabbi Meir. Rabbi Meir konnte sich von seinem Lehrer selbst dann nicht lossagen, als er bereits in offenem Abfall vom G-ttesgesetze lebte, und hoffte noch bis in den Tod des Meisters, dass dieser wieder zu der verlassenen Lebenspflicht zurückkehre. Wie durfte Rabbi Meir bei einem solchen Lehrer Tora lernen? Rabbi Meir hatte nur den guten Kern, aber nicht die ungenießbare Schale dessen sich angeeignet, was der Meister bot. Das durfte allerdings nur ein Rabbi Meir sich getrauen, einer von den am meisten mit G-ttlicher Weisheit begnadeten Sterblichen. Er verstand es auf der Schwinge seines Geistes den Mehlstaub von der Kernfrucht zu sondern, er war der Weise, dessen Weisheit ihm gestattete, von jedem zu lernen, ohne die Nachteile eines solchen Lernens fürchten zu müssen. Diese Weisheit war zu allen Zeiten selten, und sie ist nichtsdestoweniger diejenige, welche die meisten sich selber am leichtesten zugestehen!


  1. ‏Wie aus Menachot 76b ersichtlich, wurde das Weizenkorn, nachdem es geschält war, durch wiederholtes Schütteln in einem Sieb von dem die äußere Schicht bildenden ordinären Mehlstaub, ‏,קמח‎ der durch das Sieb durchging, befreit, bis der innere feine Kern, ‏,סולת‎ im Sieb zurückblieb. Dahin ist der Ausdruck der Mischna zu verstehen. (‏סדור תפלות ישראל‎ von Samson Raphael Hirsch S. 507.)

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