Kommentar zu Pirkey Awot – Die vier Charaktere unter den Schülern

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vier Charaktere

Raw Meir Lehmann SZL war einer der großen Talmide Chachomim Deutschlands in der Zeit des Kampfes des Tora-treuen Judentums gegen den Einfluss der “Reform”, Rabbiner von Mainz, der seine ganze Kraft in die geistige Rettung des deutschen Judentums, v.a. seiner Jugend, legte. Wir setzen fort, Einzelabschnitte aus seinem Kommentar zur Mischna Awot zu bringen.

5. Perek, 13. Mischna: Die vier Charaktere unter den Schülern

אַרְבַּע מִדּוֹת בַּתַּלְמִידִים. מַהֵר לִשְׁמֹעַ וּמַהֵר לְאַבֵּד, יָצָא שְׂכָרוֹ בְהֶפְסֵדוֹ. קָשֶׁה לִשְׁמֹעַ וְקָשֶׁה לְאַבֵּד, יָצָא הֶפְסֵדוֹ בִשְׂכָרוֹ. מַהֵר לִשְׁמֹעַ וְקָשֶׁה לְאַבֵּד, חָכָם. קָשֶׁה לִשְׁמֹעַ וּמַהֵר לְאַבֵּד, זֶה חֵלֶק רָע:
‎„Vier Arten gibt es unter den Schülern: Wer leicht lernt und leicht vergisst, bei dem geht der Vorteil in den Nachteil auf. Wer schwer lernt und schwer vergisst, beidem geht der Nachteil in den Vorteil auf. Leicht lernen und schwer vergessen, das ist ein guter Teil. Schwer lernen und leicht vergessen, das ist ein schlimmer Teil.“

Unsere Mischna enthält trotz ihrer präzisen Fassung und ihres selbstverständlichen Inhalts eine Schwierigkeit, der wir selten sonst begegnen. Die Aussprüche unserer Weisen, auf welchem Gebiete sie sich auch bewegen, haben samt und sonders das Charakteristische, daß sie nirgends auf eine bloße Bereicherung unseres theoretischen Wissens hinzielen, sondern immer das tätige Leben und seine praktische Verwirklichung zum Gegenstand haben. Wo sie uns einen Ausspruch hinterlassen haben, der scheinbar nur das abgezogene Wissen, nicht aber seine Anwendung für das Leben sofort erkennen läßt, wird nach dieser Beziehung mit der Frage nach seiner Verwertung für die Praxis gesucht und auch überall gefunden, die lebendige Tat ist ja Zweck und Ziel alles Wissens, ohne diese Tat ist alle Aneignung von Erfassung und Wissenschaft unfruchtbar und zwecklos. Wenn z. B. in der unmittelbar vorangehenden Mischna ‏von der größeren oder geringeren Veranlagung zum Zorne und seiner Beschwichtigung mit ihrer Folge für unser seelisches und körperliches Wohl die Rede ist, so liegt die Nutzanwendung davon auf der Hand. Sie liegt in dem Sporn, in richtiger Würdigung dieser Wahrheit jede Aufwallung des Zornes zu unterdrücken und uns für die Versöhnlichkeit und Besänftigung nach dem Zorne geneigter zu machen. Wenn aber der vorliegende Väterspruch von der leichteren und schwereren Fassungskraft und von der geringeren und größeren Möglichkeit, das bereits Angeeignete wieder zu vergessen, spricht, durch die sich lernende Schüler unterscheiden, so wird uns eine Wahrheit nahegelegt, die wohl niemand bestreitet, deren Nutzanwendung aber auf den ersten Blick sich kaum ergeben dürfte. Es kann doch nicht der Zweck dieses Ausspruchs sein, uns die Vorteile einer leichten Auffassung deshalb nahezulegen, damit wir uns nun bestreben, das zu Erlernende möglichst rasch aufzufassen, da dies ja nicht in unserer Hand liegt, sondern durch die größere oder geringere geistige Begabung bedingt ist, mit der wir von Natur aus ausgestattet sind, und an welcher wir nichts ändern können.

Da wir nun aber wissen, dass uns unsere Weisen nicht einen einzigen Ausspruch hinterlassen haben, der nicht sittigenderi und veredelnden Einfluß auf unser Tun und Lassen hat,so liegt schon in dem Umstand, daß das größere oder geringere Fassungsvermögen, durch das sich Lernende unterscheiden, Gegenstand ihrer Belehrung ist, die Gewähr, daß wir wohl in der Lage sind, selbst an diesem Umstand etwas zu ändern. Wenn unsere Weisen die Vorteile einer raschen Auffassung und der möglichst unverlierbaren Aneignung des Erlernten uns zur Erwägung hingeben, so haben sie selbstredend uns damit ihre tröstliche Überzeugung nahegelegt, daß wir wohlin der Lage sind, unsere geringere geistige Befähigung zu steigern und ihre unbestrittenen Nachteile auszugleichen. Und wenn irgendwo, so ist auf diesem Gebiete das Urteil unserer Weisen maßgebend. Trotz ihrer hohen geistigen Begabung galten sie sich selber nicht als Weise, sondern nur als „Schüler der Weisen“, als ‏.תלמידי חכמים‎ Sie waren die „Schüler“,und wenn irgendwo, so bewegten sie sich auf ihrem eigenen Gebiete, wenn sie über die Abstufungen sich äußerten,durch welche sich lernende Schüler unterscheiden.

Eine reiche Fülle goldener Winke haben uns unsere Weisen hinterlassen, durch die man der Vergesslichkeit entgegentreten und der dauernden Aneignung des einmal Gelernten Vorschub leisten kann. Sie zählen fünf Dinge auf, die die Vergesslichkeit beschleunigen, und ebenso viele, die ihr entgegentreten (Talmud Horioth 13h). Sie erinnern, wie ungezügelte Gemütsstimmungen, besonders der Zorn das Vergessen des bereits Gelernten zur Folge hat (Nedarim 22). (Nebenbei sei daran erinnert, wie dieser Umstand auch den Zusammenhang unserer Mischna mit der ihr unmittelbar vorangehenden erklärt. Ihre bloße Nebeneinanderstellung spricht die Wahrheit aus: “Jeder Zürnende vergisst das Gelernte”‎. Sie betonen besonders, wie die rastlose, emsige Hingebung an den Gegenstand des Lernens das mächtige Mittel ist, das einmal mit Ernst Aufgenommene dauernd zu erhalten. In erster Reihe ist es das stete Wiederholen des einmal Gelernten, dem sie nicht genug das Wort reden können. Man könne einen Gegenstand hundertmal lernen und ihn wieder vergessen, wer aber eine Sache 101 Mal wiederhole, der vergesse sie nicht wieder. (Die Bedeutsamkeit gerade dieser Zahl findet in den Bezeichnungen unserer heiligen Sprache für Denken und Vergessen auch äußerlich ihren sprechenden Ausdruck. Unser ganzes Wissen liegt zwischen Gedenken und Vergessen; ‏זכר‎ [227] und ‏שכח‎ [328]. Der Unterschied, der zwischen beiden liegt, ist 101).

Selbst nach der Ansicht, nach der alle auf das Lernen verwandte Mühe nicht gegen die Möglichkeit des Vergessens schützt und die die dauernde Erhaltung des einmal Erlernten nur von einem besonderen göttlichen Beistande erwartet, ist der geistig weniger gut Beanlagte doch in der Lage, sich diesen göttlichen Beistand durch aufrichtige Rückkehr zu G-tt und durch inniges Gebet zu erringen.

Da wir alle zeitlebens Schüler sind oder es wenigstens sein sollten, so ist es durchaus wichtig, uns die höhere und geringere geistige Begabung, wie sie sich bei Schülern geltend macht, zu vergegenwärtigen, weil wir wohl in der Lage sind,die Lücken und Schäden zu beseitigen, die sich aus dieser unserer Beobachtung ergeben.

Wer leicht lernt und leicht vergißt, bei dem geht der Vorteil in den Nachteil auf. Die Leichtigkeit der Aneignung ist sogar meistens die Ursache des leichten Vergessens; eine Erfahrung, die sich auch bei materiellen Dingen hundertfach wiederholt. Es ist leichter z. B., einen Nagel in ein Tuch als in ein Brett zu schlagen; aber dafür sitzt er auch fester in dem Brett als in dem Tuch. Die Leichtigkeit, mit welcher der Nagel in das Tuch dringt, ist die Ursache der Leichtigkeit, mit welcher er wieder aus demselben fällt. Nichtsdestoweniger lautet eine Regel: „Man lerne immerhin, selbst wenn man das Gelernte wieder vergißt“ (Talmud Awoda sarah 19). Das Lernen ist eben Selbstzweck und bliebe uns heilige Pflicht, wenn es selbst denkbar wäre, daß man bereits alles zu Lernende in sich aufgenommen hätte. Das geistige Turnier, die sittliche Schulung und die Übung unserer Geisteskräfte sind immerhin ein nicht zu unterschätzender Gewinn, der uns bleibt, wenn auch der eigentliche Zweck des Lernens, die dauernde Aneignung des Lehrstoffes, nicht erreicht würde.  Wenn man wohlriechendes Öl aus einem Gefäß in das andere schüttet, so bleibt an den Wänden des leeren Gefäßes doch der Wohlgeruch haften. Der eigentliche Zweck des Lernens wird bei jemandem, der das leicht Erlernte leicht vergißt, gewiß verfehlt, deshalb heißt es hier, daß der Vorteil durch den Nachteil aufgehoben wird, aber ohne Erfolg bleibt das Lernen für die Schulung des Geistes und Empfänglichkeit des Gemüts deshalb doch nicht.

Wer schwer lernt und schwer vergisst, bei dem wiegt der Nutzen den Nachteil auf. Der Nachteil an Zeit und Mühe, welche der Minderbegabte auf das Erfassen eines Lehrobjektes verwendet, wird vollständig ausgeglichen,wenn infolge der größeren Anstrengung das Gelernte nun auch schwer verlierhares geistiges Eigentum des Schülers bleibt. Von zwei verschieden beanlagten Schülern sprach der weniger Begabte zu dem Fähigeren: Der Unterschied zwischen uns beiden besteht nur in einem kleinen Stück Kerze, das ich abends mehr brennen muß als du, um meine Aufgabe zu bewältigen. Er hätte noch hinzufügen können, daß. dieses Stück Licht reichlich durch die Bürgschaft aufgewogen wird, die in der Schwierigkeit des Lernens für das dauernde Gedächtnis des Erlernten liegt; eine Sicherheit, die dem ohne Schwierigkeit rasch Begreifenden abgeht.

Wer leicht lernt und schwer vergisst, der hat ein gutes Teil. Eine andere Lesart hat hier ‏חכם‎ statt ‏.חלק טוב‎ Man kann diese Lesart als Erklärung der unsrigen ansehen. Das gute Teil, welches dem glücklich Begnadeten hier zugesprochen wird, der leicht lernt und schwer vergisst, besteht eben darin, daß er wie selten ein anderer die wesentlichen Bedingungen in sich vereinigt, um ein ‏חכם‎ zu werden. Durch seine leichte Fassungskraft kann er ohne großen Zeitverlust ein großes Wissen sich aneignen. Durch sein starkes Gedächtnis bewahrt er den rasch, leicht und zahlreich gesammelten Lehrstoff getreu bei sich und ist so jeden Augenblick in der Lage, ihn für das Leben praktisch zu verwerten.

Schwer zu lernen und leicht zu vergessen, ist ein schlimmer Teil. Vielleicht ist auf diese vierte Art das Wort Rabas gesagt, dessen wir schon gedachten, daß man immerhin lernen solle, selbst wenn man das Gelernte wieder vergißt. Ist der Eifer, der auf das Lernen verwendet wird, nicht genügend, um das Gelernte zu behalten, so muß er erst recht voll und ganz eingesetzt werden, um möglicherweise das ersehnte Resultat zu erlangen. Bleibt aber diese Hoffnung selbst unerfüllt, so darf der, welcher redlich das Seine getan, doch das beglückende Bewußtsein treu erfüllter Pflicht haben. Der Erfolg steht bei G-tt. Bleibt er aus, so ist der Lohn doppelt groß ‏,לפום צערא אגרא‎ da der Schmerz über die getäuschte Erwartung eines edlen Zieles, das wir erfolglos mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln anstreben, ebenfalls schwer auf der G-tteswage wiegt.  Mit Rücksicht auf den Erfolg ist die Ausbeute des Schwachbegabten und leicht Vergessenden allerdings unbedeutend. Aber die redliche Absicht darf auch er sich zuerkennen, so. daß alle vier Stufen nach dieser Seite hin, die füglich allein über den sittlichen Wert unseres Tuns und Lassens entscheidet, vollkommen ebenbürtig dastehen.

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