Kommentar zu Pirke Awot von Raw Meir Lehmann SZL
Raw Meir Lehmann SZL war einer der großen Talmide Chachomim Deutschlands in der Zeit des Kampfes des Tora-treuen Judentums gegen den Einfluss der “Reform”, Rabbiner von Mainz, der seine ganze Kraft in die geistige Rettung des deutschen Judentums, v.a. seiner Jugend, legte. Wir setzen fort, Einzelabschnitte aus seinem Kommentar zur Mischna Awot zu bringen.
Pirke Awot – Fünfter Abschnitt
Mischna 18 – Die Werber und ihr Los
כָּל הַמְזַכֶּה אֶת הָרַבִּים, אֵין חֵטְא בָּא עַל יָדוֹ. וְכָל הַמַּחֲטִיא אֶת הָרַבִּים, אֵין מַסְפִּיקִין בְּיָדוֹ לַעֲשׂוֹת תְּשׁוּבָה. משֶׁה זָכָה וְזִכָּה אֶת הָרַבִּים, זְכוּת הָרַבִּים תָּלוּי בּוֹ, שֶׁנֶּאֱמַר (דברים לג) צִדְקַת ה‘ עָשָׂה וּמִשְׁפָּטָיו עִם יִשְׂרָאֵל. יָרָבְעָם חָטָא וְהֶחֱטִיא אֶת הָרַבִּים, חֵטְא הָרַבִּים תָּלוּי בּוֹ, שֶׁנֶּאֱמַר (מלכים א טו) עַל חַטֹּאות יָרָבְעָם (בֶּן נְבָט) אֲשֶׁר חָטָא וַאֲשֶׁר הֶחֱטִיא אֶת יִשְׂרָאֵל:
„Wer die Menge zum Verdienstlichen anhält, durch dessen Hand geschieht kein Vergehen, und wer die Menge zur Sünde verleitet, dem wird die Möglichkeit, Buße zu üben, nicht belassen. Von Mosche, der selber verdienstvoll handelte und andere zu verdienstvollem Handeln anhielt, hängt der verdienstwolle Wandel der Menge ab, von dem ist es gesagt: G-ttes Pflichttreue hat er geübt, und seine Rechtsbestimmungen sind noch bei Jisrael. Von Jeroweam, dem Sohn Newats, der selber sündigte und die Menge zur Sünde verleitete, hängt die Sünde der Menge ab, denn es ist gesagt: Wegen der Sünden Jeroweams, die er beging und womit er Jisrael verleitete.“
Unser unmittelbar vorangehender Väterspruch hat uns gelehrt, daß selbst der Streit löblich und wünschenswert ist, sobald sein Endzweck in des Himmels Namen erstrebt wird und auf das Erhalten gerichtet ist.
Wie rühmlich muß erst das Streben sein, das nicht durch Kampf und Streit, sondern durch Einsatz friedlicher Kraft sich geltend macht, um das Bestehende nicht nur zu erhalten, sondern ihm immer größere Kreise zu gewinnen. Das ist der מזכה את הרבים, derjenige, der die Gesamtheit für das Gute zu begeistern strebt. Das Gute zu üben ist Pflicht; wer ihr genügt, hat damit nichts Besonderes, sondern nur seine Schuldigkeit getan. Wer aber das Gute nicht nur für sich übt, sondern auch andere dafür zu gewinnen sucht, der hat damit mehr getan, als ihm persönlich obliegt.
In einer Zeit, die in erster Reihe an sich, die auch in zweiter und dritter Reihe nicht an andere denkt, welche den Egoismus als Tugend und die ausschließliche Rücksicht auf das Selbstinteresse wenigstens als unerlässliche Notwendigkeit hinstellt, in solcher Zeit sind diejenigen, die das Gute bei anderen fördern möchten, zur Seltenheit geworden. Die an der Scholle Haftenden, nur Brot Suchenden glauben zunächst gar nicht an die Redlichkeit derjenigen, die an sich vergessend das Gute bei ihrer Umgebung verbreiten möchten. Eine solche Gesinnung nimmt dieses Streben zunächst nicht einmal ernst und fühlt sich unangenehm berührt, wenn sie doch nicht an seinem redlichen Ernst zweifeln kann.
Diejenigen, die für das Gute gewonnen werden sollen, fangen an, den Gegensatz zu empfinden, der zwischen ihnen und der lauteren Gesinnung klafft, die ihnen hier entgegentritt.
Je reiner und je selbstloser diese Gesinnung sich geltend macht, um so mehr wird sie als stiller und oft auch als lauter Vorwurf bei allen denen empfunden, die ihr zur Zeit noch abhold sind und ihren Neigungen zum Gewöhnlichen und Schlechten nicht so leichten Kaufs entsagen mögen.
Daher kommt es, daß das wackere Fördern des Guten den edlen Förderern mehr Verkennung und Bitternis als Anerkennung und Befriedigung zu jeder Zeit gebracht hat. Alle wahren Wohltäter der Menschheit waren Märtyrer, die ihrem Edelsinn die Ruhe ihres Lebens und oft es selbst opfern mußten. Es ist eine betrübende, aber geschichtlich vielfach begründete Wahrheit, daß mehr unerschrockener Mut dazu gehört, gut zu handeln und die Gesamtheit für das Gute zu gewinnen, als schlecht zu sein und die Menge durch Wort und Beispiel zum Schlechten zu verleiten. Wohl ehrt das Volk die vereinzelt dastehenden Träger seiner Ideale, aber erst nach ihrem Tode.
Die Nachwelt erst windet den edlen Männern Kränze, für die die Mitwelt, nur Steine hatte, So kommt es, daß, wie friedlich und edel auch die Absichten desjenigen sein mögen, der die Gesamtheit zum Guten führen möchte, die ernste Verwirklichung dieser Absicht doch heißen, schweren Kampf bedeutet, der מזכה את הרבים hat sein ganzes Leben einen harten Kampf zu kämpfen, ihm ist wie keinem anderen eine [1]מחלוקת לשם שמים mit allen ihren Freuden und Wehen beschieden.
Soll er den Kampf unterlassen wegen der vielen tiefen Wunden, die keinem seiner Kämpfer erspart bleiben?
Er kann es nicht, er darf es nicht. Er kann es nicht, denn das Gute, Edle, Wahre, welches in ihm glüht und seine ganze Persönlichkeit erfüllt, würde ihn verzehren, wenn er nichts davon für seine Umgebung übrig hätte. Aber er darf es auch nicht, wenn er sich nicht an sich selber und seiner Umgebung versündigen will. Wohl ist jeder einzelne nur zunächst für sich verpflichtet, das Schlechte zu meiden und das Gute zu üben. Aber, wenn dieser Pflicht genügt ist, dann macht sich auch die Pflicht geltend, die jeder seiner Umgebung schuldet. Ja, eine ruhige Erwägung zeigt, daß wir nicht einmal für uns gesorgt haben, wenn wir nur für uns gesorgt haben.
Ich bin z. B. als Vater verpflichtet, mein Kind in G-ttesfurcht zu erziehen, es zur Tora zu führen, es zur Erfüllung der g-ttlichen Pflichten anzuhalten, ihm einst eine Lebensstellung zu sichern, die ihm die Möglichkeit seines Unterhalts bietet und es dann später in die Lage versetzt, selber ein Haus zu gründen.
Habe ich für die G-ttesfurcht meines Kindes genügend gesorgt, wenn ich nur für die seinige gesorgt habe?
Solange es im Elternhause ist, vielleicht. Aber wenn es nur einen Fuß über die Schwelle desselben setzt, so Ist seine G-ttesfurcht gefährdet und dem Einfluß schlechten Beispiels ausgesetzt, wenn die Nachbarkinder nicht von derselben Gesinnung erfüllt sind. Und wenn ich keinen Sinn, kein Herz für die sittliche Verwahrlosung hätte, in welcher andere Kinder aufwachsen, wenn es mir redlich um die Sittlichkeit meines Kindes zu tun ist, so klagt mich die Unwissenheit meines Nachbarkindes an, daß ich ihr nicht mit Rücksicht auf mein eigenes Kind entgegengetreten bin.
Wenn mein Haus, mein Geschäft das einzige wäre, welches sich in den Bahnen bewegt, die G-ttes Gesetz vorschreibt, wo fände ich später die Kreise, in welchen mein Kind sich ausbilden und zum Leben erstarken soll, wo fände es die Gefährtin des Lebens, mit welcher es zusammen einen Baustein in dem עדי עד בנין [2] in dem Bau bilden soll, der in die Ewigkeit reicht?
Sollen wir noch auf die Fülle von Pflichten und Aufgaben hinweisen, die der einzelne gar nicht oder nur ungenügend lösen kann, die deshalb auf Genossen dringen, welche zu erwerben der מזכה את הרבים sich zur Aufgabe seines Lebens stellt?
Wir erwähnen dies alles nur für den Fall, daß selbst die Selbstlosigkeit mit dem Stempel der Nützlichkeit und Notwendigkeit sich versehen muß, um ihre Daseinsberechtigung nachzuweisen. Aber wenn dieses Moment auch wegfiele, die Pflicht der Zurechtweisung unseres Nebenmenschen bleibt auch, wenn sie uns selbst nur Schaden und keinerlei Vorteil brächte. Wir sind alle Kinder eines Vaters, Brüder einer großen Familie, in der niemand leichtsinnig und pflichtvergessen handeln kann, ohne daß der andere davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir sind alle solidarisch haftbar für jedes Unrecht, das in unserem Kreise geschieht und das wir durch ein Wort der Abweisung oder des Zuspruchs hätten hintanhalten können.
„Wem es möglich ist, seinen Hausleuten, seinen Stadtleuten, der ganzen Welt ein Unrecht zu wehren, und wehrt es nicht, der ist für das Unrecht seiner Hausleute, seiner Stadtleute und selbst der ganzen Welt haftbar.“[3]
Welch schmerzliche Erfahrungen sich an die rückhaltlose Übung gerade dieser Pflicht auch immer knüpfen mögen, die herrlichen Verheißungen, welche ihrer Erfüllung folgen, wiegen sie dennoch reichlich auf.
„Wer die Menge zu Verdienstlichem anhält, durch dessen Hand geschieht kein Vergehen.“ Täglich bitten wir G-tt, daß er uns schützen möge vor der Leidenschaft, vor Versuchung und Fehltritt. Wer andere zum Guten anhält, trägt die Bürgschaft für die Erhörung dieses Gebets in sich. Die Welt mag diese unerschrockene Förderung des Guten unrecht, töricht, fanatisch und zelotisch finden, sie mag demjenigen, der sich in ihren Dienst stellt, Laster und Verbrechen andichten, um ihn unmöglich zu machen. Wer die Gesamtheit zum Guten anhält, ist geschützt vor jedem Fehltritt.
“Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen‘‘, aber es ist ein vergebliches Unterfangen. Des sind die großen Helden unserer und aller Geschichte Zeuge, welche der Verbreitung des Wahren und Guten ihr Leben geweiht hatten. Man konnte sie verdächtigen, beschuldigen, anklagen und verurteilen, aber für die Nachwelt stehen sie doch als die hehren leuchtenden Gestalten da, die am Nachthimmel der Menschheit als die bahnweisenden Sterne glänzen, nach dem Prophetenworte:
„Die Einsichtigen werden strahlen wie der Glanz des Firmaments und die, welche die Menge zur Tugend führen, wie die Sterne immer und ewig.“[4]
Unter den vielen Lehrern, Propheten und Meistern, an denen die Geschichte Jisraels so unvergleichlich reich ist, hebt unser Väterspruch unseren ersten und größten Lehrer Mosche hervor.
Er hatte sein Leben dem Ideal geweiht, Jisrael für das Gesetz G-ttes zu gewinnen, und es ist ihm so herrlich gelungen, daß G-ttes Tora noch heute als תורת משה als die Tora Mosches bei uns fortlebt. Es war keine leichte Aufgabe. Er war ein Muster der Bescheidenheit, Weisheit und Nachsicht, aber sein Beruf, die Gesamtheit für die Tugend zu gewinnen, hat ihm doch das Leben oft verbittert, daß er sich lieber den Tod wünschte, als diese Last weiter zu tragen. Man ließ ihn allein mit der G-tteslade in der Wüste stehen, man bedrohte ihn mit Steinwürfen, man verdächtigte dıe Reinheit seines Familienlebens – – und dennoch!
Diese Bitternisse sind erst recht geeignet, den Helden in der unerreichten Glorie seines Heldentums erstrahlen zu lassen! Wie verschwinden doch all die kleinen und kleinlichen Widerwärtigkeiten dieses großen Lebens vor der einen Tatsache: זכות הרבים תלוי בו, daß all das Gute und Herrliche, daß all die Triumphe, welche sein Gesetz noch heute feiert, sein Verdienst, sein Werk, die Folge seiner beispiellosen Hingebung an seinen Beruf sind.
Was will der vorübergehende Erfolg eines Jeroweam, der die Menge zu Leichtsinn und Sünde durch seinen Abfall verleitete, gegen die stille, majestätische Größe eines Mosche bedeuten die mit ihrer Bedeutsamkeit über alle Zeitlichkeit weit hinein in die Ewigkeit reicht! Auch Jeroweam lebt fort, aber mit fluchbeladenem Gedächtnis, erdrückt unter der Wucht der Verantwortung für die Teilung und den Untergang des Reiches, dessen Förderer und Mehrer zu sein, er berufen war. Was ein Mosche Gutes gewirkt hat, kann durch kein Ereignis der Welt wieder in Frage gestellt werden. Was ein Jerobeam verbrochen hat, kann durch keine Reue und Rückkehr wieder gesühnt werden. אין מספיקין בידו לעשות תשובה.
Und wenn der Verführer zum Schlechten auch das Verbrecherische seines Tuns einsähe, reuig zu G-tt zurückkehrte und alles wieder gut machen wollte, was er vergiftet und zerstört hat, er kann es nicht!
.חטא הרבים תלוי בו Die Sünde der von ihm Betörten klammert sich an ihn; er kann sich bessern, kann für sich das verübte Verbrechen bedauern, aber die Sünden und Verbrechen derjenigen, die durch seine Verführung Sünder und Verbrecher wurden, sie wuchern weiter, sie stehen in seinem Schuldbuch, sie kann er nicht sühnen.
Der Segen selbstlosen Wirkens für das Gute und der Fluch des Werbens für das Schlechte haben unseren großen Lehrern als ergreifendes Beispiel für ihr ganzes Leben und Wirken vorgeschwebt und sie bestimmt, dieser Wahrheit in vielen Variationen Ausdruck zu geben.
Es ist besonders in unserer Zeit am Platze, sich den Ernst zu vergegenwärtigen, mit dem unsere Weisen der Pflicht, öffentlich für das Gute zu wirken, das Wort reden, und wie scharf sie jede Rücksicht verurteilen, die man dem Leichtsinn und der Schlechtigkeit dadurch zollt, daß man vielfach nicht einmal ein zurückweisendes und tadelndes Wort dagegen hat.
Es heißt einmal in den Weisheitssprüchen Schlomos: Wer zum Schlechten sagt, du bist gerecht, den werden die Völker verwünschen, und ein anderer Spruch lautet:
„Zurechtweisenden wird es wohl ergehen, das will sagen: Wenn jemand von einem anderen weiß, daß er schlecht ist, und er schmeichelt ihm der andere ist voller Sünden, und man sagt zu ihm, du bist ein Gerechter, der verdient, daß alle Fluchverheißungen der Tora ihn treffen. Aber wer seinen Nebenmenschen zur Rede stellt, damit er zurückkehrt, der nimmt dafür die Segnungen hin, wie es heißt, den Zurechtweisenden wird es wohl gehen.“
„Der Zurechtgewiesene selber, wenn er die Zurechtweisung hinnimmt und zum Guten zurückkehrt, empfängt dafür ebenfalls die Segnungen des Allgütigen. Deshalb hat Mosche seine Zeitgenossen zurechtgewiesen, und weil sie die Zurechtweisung fürs Leben annahmen, empfingen auch sie den Segen. Salomo hat es hinausgerufen: Das Ohr, welches die Zurechtweisung fürs Leben hinnimmt, in dessen Inneren ruht die Weisheit. Das sind die Zeitgenossen Mosches.“[5]
Es war zu keiner Zeit leicht, dieser Pflicht, die Menge für das Gute durch zurechtweisende Vorstellungen zu gewinnen, mit Takt und Erfolg gerecht zu werden. Sie ist heute noch schwieriger geworden durch die gesellschaftlichen Formen und Lügen, die die Kulturmenschheit im allgemeinen und unser geschäftliches Leben insbesondere beherrschen.
Es ist deshalb dringender als je geboten, das Ideal, wie es aus unseren Vätersprüchen zu uns spricht, in lebendiger Frische zu erhalten.
Es ist schon viel gewonnen, wenn man an dem unbestechlichen Maßstab, den uns unsere Weisen bieten, die Mangelhaftigkeit und die Abhängigkeit einer Zeit inne wird, die sich als Höhepunkt alles Fortschritts dünkt und trotzdem an so vielen Mängeln und Gebresten leidet. Es erforderte eine besondere Darstellung zu untersuchen, wie unsere Zeitungen, unsere Kanzelpredigten und besonders unsere Grabreden und Leichensteine, unser ganzes Auftreten in der Gesellschaft, unser Schweigen und Reden, unser Tun und Lassen sich zu der Wahrheit unseres vorliegenden Väterspruchs stellen.
– Aber wir glauben, daß dem הרבים זכות besser gedient ist, wenn nicht wir, sondern wenn die einzelnen, aus welchen sich die Gesamtheit zusammensetzt, diese Untersuchung anstellen und die rechten Folgerungen daraus ziehen.