Kommentar zu Pirke Awot – Dritter Abschnitt – Mischna 7 „Torastudium oder Zeitgeist“

Datum: | Autor: Rav Meir Lehmann | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Zeitgeist

Kommentar zu Pirke Awot von Raw Meir Lehmann SZL

Raw Meir Lehmann SZL war einer der großen Talmide Chachomim Deutschlands in der Zeit des Kampfes des Tora-treuen Judentums gegen den Einfluss der “Reform”, Rabbiner von Mainz, der seine ganze Kraft in die geistige Rettung des deutschen Judentums, v.a. seiner Jugend, legte. Wir setzen fort, Einzelabschnitte aus seinem Kommentar zur Mischna Awot zu bringen.

Pirke Awot – Dritter Abschnitt

Mischna 7

Weiche nicht vom Torastudium ab, um philosophischer Forschung oder dem Zeitgeist zu huldigen.

רַבִּי יַעֲקֹב אוֹמֵר, הַמְהַלֵּךְ בַּדֶּרֶךְ וְשׁוֹנֶה, וּמַפְסִיק מִמִּשְׁנָתוֹ וְאוֹמֵר, מַה נָּאֶה אִילָן זֶה וּמַה נָּאֶה נִיר זֶה, מַעֲלֶה עָלָיו הַכָּתוּב כְּאִלּוּ מִתְחַיֵּב בְּנַפְשׁוֹ: ‎ ‎

„Rabbi Jakob pflegte zu sagen: Wer auf dem Wege wandelt und lernt, aber sein Lernen unterbricht und sagt: Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses Gefilde — dem rechnet es die Schrift an, wie wenn er selbst schuld wäre an dem Untergang seiner Seele.“

In vielen Büchern steht in unsrer Mischna statt Rabbi Jakob Rabbi Schimon; doch ist die von uns wiedergegebene Lesart als die richtigere anerkannt (vgl. ‏.(תוספ‘ י“ט‎ Rabbi Jakob war der Vater des Rabbi Elieser ben Jakob, dessen getreue Wiedergabe der Mischnajot so sehr gerühmt wird. Er lebte in den Zeiten des Rabban Jochanan ben Sackai, also um die Zeit der Zerstörung des heiligen Tempels.

Nach den meisten Erklärern wird in unsrer Mischna die Verpflichtung ausgesprochen, jeden freien Augenblick dem Torastudium zu widmen.

„So jemand auf dem Wege wandelt und lernt und sein Lernen unterbricht und sagt: Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses Gefilde, wiewohl er durch solche Betrachtungen dazu gelangt, den Heiligen, gelobt sei er, zu preisen, der das alles so schön erschaffen hat, so tut er dennoch unrecht, da er das Wichtigere und Heiligere, das Torastudium, dem Unwichtigeren hintansetzt.“

Nach dieser einfachen Erklärung bietet jedoch der Wortlaut unserer Mischna manche Schwierigkeiten. „Selbst wer unterwegs ist,“ so hätte der Weise sagen sollen, „muß lernen und darf sich nicht der Naturbetrachtung hingeben.” Was aber soll es heißen, daß der Weise sagt:

„Wer auf dem Wege ist und lernt und unterbricht sein Lernen usw.?”

Ferner ist es schwer anzunehmen, daß Rabbi Jakob in der Naturbetrachtung, in der Bewunderung der Werke des Schöpfers ein Vergehen gefunden habe. Sind doch in der Heiligen Schrift die herrlichsten Naturschilderungen enthalten; wir erinnern nur an den 104. Psalm (ברכי נפשי), wo im kleinsten Rahmen das Weltall in unvergleichlicher Schöne geschildert wird; fordern doch die Propheten viele Male den Menschen auf, G-ttes schöne Welt zu betrachten, um von ihr auf die Größe und Herrlichkeit des Schöpfers zu schließen; haben doch unsre Weisen dementsprechend Segenssprüche vorgeschrieben, die ohne Naturbetrachtung zu sprechen gar nicht möglich wäre! — Zum dritten ist es sonderbar, daß Rabbi Jakob den Bibelvers nicht anführt, aus dem hervorgehen soll, daß ein solcher den Untergang seiner Seele verschuldet.

Was nun die zuletzt angeführte Frage betrifft, so meinen die Erklärer, Rabbi Jakob beziehe sich auf den 4. Passuk des 30. Pereks in Ijow, aus welchem unsre Weisen folgern, daß derjenige ein großes Unrecht begeht, der das Toralernen unterbricht, um sich mit unnützem Geschwätze zu beschäftigen[1]. Rabbi Jakob führe ihn deshalb nicht ausdrücklich an, weil er ihn und seine Deutung als allgemein bekannt voraussetzen durfte. Der erwähnte Vers lautet: ‏הקטפים מלוח עלי שיח ושרש רתמים לחמם ‎„Die da Malven zwischen den‏ Bäumen pflücken, und Ginsterwurzel ist ihre Speise.“ (Vgl. Raschi.) Das Targum gibt diesem Verse eine andere Deutung; nach ihm ist nicht מלוח die Malve und nicht שיח der Baum, sondern מלוח heißt „von der Herzenstafel hinweg“, und שיח bedeutet „das unnütze Geschwätz“.

Das Targum übersetzt:

‏רשבקין פתגמי אוריתא מן לוח לבהון מטול מלי דעלמא עקרי רותמיא מתוקדין ומתעבדין גומרין למזונהון

„Die da hinweglassen von der‏ Tafel ihrer Herzen die Worte der Tora und sie gegen weltliche Reden vertauschen, für sie werden aus Ginsterwurzeln glühende Kohlen zu ihrer Speise bereitet.“ Dem entspricht genau die Deutung unsrer Weisen[2]:‏ ‎„Rabbi Levi sagte: ‎Wer das Toralernen unterbricht, um sich mit Geschwätz‏ ‎zu beschäftigen, dem gibt man glühende Kohlen zu essen, wie‏ ‎es heißt“, und nun wird als Beweis der obenerwähnte Vers‏ ‎angeführt, der dann natürlich so gedeutet werden muß, wie‏ ‎ihn das Targum übersetzt. Maharsch”a (zu der Parallelstelle‏ ‎Awoda Zara 3b) erklärt, was das heißt: „Man gibt ihm glühende Kohlen zu essen.“ Das Geschwätz führt meistens zum לשון הרע, zur Verleumdung, und diese ist [3]den גחלי רתמים „den aus Ginster bereiteten, durch besondere Glut sich‏ ‎auszeichnenden Kohlen“ verglichen, und darum sagt Rabbi Levi‏ ‎nicht שרש רתמים (Ginsterwurzeln) wie es in Ijow heißt, sondern גחלי רתמים (Ginsterkohlen) gleich‏ ‎dem angeführten Psalmverse.

Nach dem Gesagten ist es wohl einleuchtend, daß Rabbi Jakob in unsrer Mischna sich wohl schwerlich auf den erwähnten Vers in Ijow bezieht; denn erstens ist die dahinzielende Deutung des Verses eine fernliegende, nicht dem. einfachen Sinne der Worte entsprechende, und zweitens ist sie auch im Grunde eine andere, wenn auch ähnliche. Betrachtungen: „Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses Gefilde‘“ führen nicht unmittelbar zur Verleumdung. Es bleibt also die Bedeutung der Worte מעלה עליו הכתוב (“dem rechnet es die Schrift an”) noch zu erörtern.

Aus den angeführten Gründen ziehen wir es vor, der Erklärung des Rabbi Schmuel Galanti (in seinem Buche ‏,(בניות ברמה‎ der unserer Mischna eine ganz andere Deutung gibt, zu folgen. ‏

המהלך בדרך ושונה‎ „Wer auf dem Lebenswege fortschreitet und durch Torastudium für die Vervollkommnung seiner Seele Sorge trägt.” Der Prophet Zecharja (3, 6-7) erzählt, daß ein Engel des Ewigen zu dem Hohepriester Joschua gesprochen: So hat gesprochen G-tt: „Wenn in meinen Wegen du gehen, wenn meinen Dienst du beobachten wirst, so sollst auch du richten mein Haus und hüten meine Höfe, מהלכים בין העמדים האלה ‏ונתתי לך‎ und ich werde dir gestatten fortzuschreiten unter den hier Stehenden.“. Der Engel heißt ein עומד, ein Stehender, d. h., der Engel bleibt so wie er erschaffen ist worden; der Mensch aber ist ein מהלך, ein Fortschreitender, der sich von geringen Anfängen zu hoher Vollendung entwickeln kann.

Analog dieser Stelle sind die Worte unserer Mischna ‏המהלך בדרך ושונה‎ (“wer auf dem Wege wandelt und lernt”) zu erklären. Sie entsprechen auch dem ersten Verse des 119. Tehillim, wo es heißt: ההלכים בתורת ד‘ ‏אשרי תמימי דרך ‎ „Heil denen, die auf dem Lebensweg Vollkommenheit erstreben, die wandeln in der Lehre des Ewigen.“ Die Eltern haben den Knaben in der Lehre unsres G-ttes unterrichten lassen. Der Jüngling gibt sich eifrig diesem heiligen Studium hin — da kommt die Katastrophe: er lernt noch andere Dinge kennen, die ihm gefallen ‏,מה נאה אילן זה מה נאה ניר זה‎ er hört auf, in der Tora zu forschen, nicht für eine kurze Weile, sondern dauernd; er spricht:

„Wie schön ist dieser Baum!“

Das ist der Baum der Erkenntnis, die Philosophie, welche behauptet, über die höchsten Fragen des Menschengeistes Aufschluß geben zu können, die Menschen zu erheben, zu veredeln, zu vervollkommnen, ohne daß sie das schwerwiegende Joch der G-ttesgesetze auf sich zu nehmen nötig hätten. Oder er spricht: ‏מה נאה ניר זה‎ „Wie schön ist dieses Gefilde!‘“ Was ist das für ein Gefilde? Der Weise gebraucht nicht den gewöhnlichen Ausdruck שדה, sondern ניר ; dieses Wort bezeichnet ein eben erst urbar gemachtes Feld, wie es heißt[4]: „Denn also hat gesprochen der Ewige zu den Männern von Jehuda und Jeruschalajim: Machet euch urbar das Gefilde und säet nicht zwischen Dornen.“

Das Gefilde, von dem Rabbi Jakob hier spricht, das erst neuerdings urbar gemachte Feld, bezeichnet den sich stets verjüngenden Zeitgeist und seine Anforderungen. Der sog. Zeitgeist übt eine große Herrschaft auf die Gemüter der Menschen so lange, bis er veraltet und neuen Ideen und Anschauungen Platz macht. Das Judentum aber ist bleibend und ewig. Dafür wird es von den herrschenden Zeitideen als veraltet und nicht mehr zeitgemäß verschrien. So war es immer, so ist es noch heute. Die modernen Ideen üben, solange sie neu sind, einen mächtigen Zauber aus, und nur schwer kann der einzelne Mensch sich ihnen entziehen oder gar ihnen entgegentreten.

Er sieht, wie die vorzüglichste, Geister ihnen huldigen und sie als große Errungenschaften der Gegenwart ausgeben.

So nun jemand von der Lehre des Judentums wenig weiß, und er wird durch philosophische Forschung oder durch den herrschenden Zeitgeist dahin gebracht, das Joch der G-tteslehre ganz oder teilweise abzuwerfen, so kann er nur als ein Verführter gelten, und seine Verantwortlichkeit ist nicht so groß. Wer aber auf seinem Lebenswege dem Studıum der heiligen Lehre obgelegen und in ihrer Erkenntnis bereits Fortschritte gemacht hat, und er spricht: Wie schön ist dieser Baum, wie schön ist dieses soeben urbar gemachte Feld — er wird durch philosophische Forschung oder durch den herrschenden Zeitgeist dazu gebracht, sich von der Lehre unseres G-ttes loszusagen, dem rechnet es die Heilige Schrift an, wie wenn er selbst schuld wäre an dem Untergange seiner Seele; er ist kein Verführter, da er die Tora kennt und sie zu würdigen verstehen sollte.

Nicht ein einzelner Vers der Tora zeugt gegen ihn, sondern die ganze Heilige Schrift.

Denn die Tora lehrt uns die höchste Wahrheit, die einzig richtige philosophische Forschung. Alle Systeme der größten Denker haben eines das andere verleugnet und gestürzt; die Tora aber enthält die ewige Wahrheit. Die Tora lehrt uns, daß die erhabenen Ideen des Judentums niemals zeitgemäß waren, niemals dem Zeitgeiste entsprochen haben, weil sie das allein Bleibende sind im ewigen Wechsel; wie G-tt ewig ist, so ist auch seine Tora ewig.

[1] Chagigah 12b

[2] Chagigah 12b

[3] Tehillim 120,4

[4] Jirmijah 4,3

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