Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Neuntes Kapitel. Welche Momente dem Eifer hinderlich sind und wie man sich vor diesen Momenten schütze.
Dem Eifer hinderlich ist alles, was die Trägheit fördert. Das Schlimmste ist da das Streben nach körperlicher Ruhe, die Abneigung gegen jede Mühe und die Vergnügungssucht. Ein solcher Mensch findet natürlich den Dienst seines Schöpfers sehr beschwerlich. Wer seine Mahlzeiten gern in aller Ruhe und Bequemlichkeit einnehmen möchte, sich seinen Schlaf nicht stören lässt und nur sehr langsam fortbewegen will und was dergleichen ist, dem wird es in der Tat schwer ankommen, früh morgens „nach Schul“ zu gehen oder seine Mahlzeit abzukürzen, weil die rechte Zeit zum Minchagebet gekommen oder sich auf den Weg zu einer Mitzwa zu machen, wenn die Zeit ihm nicht passt. Viel weniger noch wird er zu einer Mitzwa oder zum „Lernen“ eilen. Wer sich ein solches Wesen angewöhnt hat, der ist gar nicht mehr Herr über sich selbst, er kann nicht mehr anders handeln, auch wenn er will, denn er ist in Fesseln, die Gewohnheit ist ihm zur zweiten Natur geworden. Aber der Mensch ist eben nicht – und zu dieser Überzeugung muss er sich durchringen – er ist nicht zum Zwecke der Ruhe in dieser Welt, sondern zur Arbeit und zur Mühe, er darf sich nur wie die Arbeiter geben, die im Schutze ihrer Auftraggeber ihr Werk verrichten nach dem Spruche: „Tagelöhner sind wir“ (Nach Ijow: 7,1).
Wie die Soldaten in der Schlachtordnung, ihr Essen in Eile, ihr Schlaf mit Unterbrechung, stets bereit, in die Schlacht zu ziehen.
„Der Mensch“ heißt es in Ijow, „ist zur Mühe geboren“ (Ijow: 5,7). Und wenn er sich an diese Weise gewöhnt, wenn er es an der Übung und Vorbereitung nicht fehlen lässt, dann wird ihm der Dienst leicht vorkommen. In diesem Sinne sagen die Weisen: „Das ist der Weg zur Tora: Brot mit Salz essen, Wasser mit Mass trinken und auf der Erde schlafen“ (Pirke Awot: 6,4). Sie wollen damit so recht den Gegensatz zur Bequemlichkeit und Vergnügungssucht kennzeichnen.
Ein weiteres Hindernis für den Eifer ersteht dem Menschen, wenn er sich allzuviel sorgt und zittert vor Zufallen, die ihm zustossen könnten. Bald fürchtet er sich vor der Kälte oder vor der Hitze, bald vor Leiden und Krankheiten, bald vor dem Wind. Wie Schlomo sagt: der Träge sagt: „ein Leu ist auf dem Wege, ein Löwe auf den Plätzen“ (Mischle: 26,13). Die Weisen tadeln diese Furcht, nur Sünder könnten sie hegen, und auch die Schrift sagt: „Die Sünder beben in Zion, die Heuchler ergreift ein Zittern“ (Jesachaje 33,14). Ja, ein großer Mann sagte einst zu einem seiner Schüler, von dem er beobachtet hatte, dass er stets ängstlich war: Du bist ein Sünder! (Brachot: 60a). Es heisst im Gegenteil: „Vertrau auf G-tt, und tue das Gute!“ (Tehillim 37,4).
Kurz! Die Welt betrachte der Mensch als das Zufällige, den Dienst G-ttes als das Wesentliche.
Er geniesse in Zufriedenheit, was die Welt ihm bietet, und nehme, was ihm zuteil wird, fern von Bequemlichkeit, voll Streben nach Mühe und Arbeit, im felsenfesten Vertrauen auf G-tt, ohne Furcht vor Zufallen, die ihm zustossen könnten.
Ich höre den Einwand: wir finden bei den Weisen überall die Vorschrift, auf sich ganz besonders Acht zu geben, sich nicht in Gefahren zu stürzen, selbst wenn Einer noch so fromm sein will. Sie sagen ferner: „Alles kommt von G-tt ausser Erkältung und Fieber“ (Ketubot 30a), d. h. wer mutwillig sich der Hitze oder allzu großer Kälte aussetzt, hat sich selbst seine Krankheit zuzuschreiben und darf nicht glauben, dass G-tt sie ihm geschickt). Und in der Schrift heißt es: „Nehmt Euer Leben nur sehr in Acht“ (So wird der Vers Dewarim: 4, 15 im rabbinischen Schrifttum gedeutet). Das G-ttvertrauen darf also nicht übertrieben werden, ihre Mahnung, sich zu schonen, gilt ja auch dort, wo es sich um eine Mitzwa handelt.
Der Einwand ist richtig. Es gibt eben verschiedene Arten von Furcht.
Eine vernünftige und eine närrische, und G-ttvertrauen ist etwas anderes als Unvernunft. Der Herr, gelobt sei Er, hat dem Menschen die Gabe des Vorstandes und der Umsicht verliehen, dass er den rechten Weg wandeln und sich vor den Dingen hüte, die schädlich und nur zur Strafe der Frevler geschaffen sind. Wenn aber Einer nicht den verständigen Weg wandeln will, und sich der Gefahr preisgibt, so ist das kein G-ttvertrauen, sondern Unvernunft, ja er ist ein Sünder, denn er handelt gegen den Willen G-ttes, dessen Wille es ist, dass der Mensch sich schütze. Von der Gefahr abgesehen, in die er sich aus Mangel an Vorsicht begibt, setzt er sein Leben eben durch diese positive Sünde aufs Spiel, so führt eben diese Sünde zu seiner Bestrafung. Diese Vorsicht, die Furcht, die auf verständiger Überlegung sich gründet, das ist eben die vernünftige Furcht, von der es heißt: „der Kluge sieht das Unheil und verbirgt sich, die Toren gehen achtlos vorbei und müssen es büßen“ (Mischle: 22,3). Eine närrische Furcht aber ist es, wenn man allzu sehr auf der Hut ist, immer furchtsamer sich gebärdet, nicht vorsichtig genug sein kann und das soweit treibt, dass man darüber das Toralernen und seine Pflicht verabsäumt.