Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Achtzehntes Kapitel – Die Frömmigkeit
Die Tugend der Frömmigkeit müsste eigentlich sehr eingehend erörtert werden. Denn viele Bräuche und mancher Lebenswandel geht unter der Flagge der Frömmigkeit, und sie sind doch gewissermaßen nur unbehauenes Material der Frömmigkeit, ohne Form, Gestalt und Vollendung. Es ist das eine Folge davon, dass die betreffenden Charaktere nicht tief genug nachdenken und nicht das rechte Verständnis haben. Sie bemühen sich nicht, sie strengen sich nicht an, in reiner und rechter Erkenntnis den Weg, der zu G-tt führt, zu erfassen, sondern treiben ihre eigene Art von Frömmigkeit, wie es sich trifft, wie es ihnen gerade einfällt. Sie dringen nicht in die Tiefe, sie wägen es nicht auf der Wage der Weisheit. Und das sind auch die Menschen, die sowohl bei der Masse wie bei den Verständigen die Frömmigkeit in Verruf gebracht. Die Leute meinen, die Frömmigkeit bestehe in nichtigen Dingen oder in solchen, die gegen den Vorstand oder das klare Denken verstoßen. Sie glauben, die ganze Frömmigkeit bestehe in vielem Beten, in langen Sündenbekenntnissen, im lauten Weinen, im tiefen Sichbücken, in ausgefallenen Kasteiungen, in denen man den Leib abtöte, in Tauchbädern von Eis und Schnee und ähnlichen Sachen. Sicher ist manches von dem Erwähnten von denen auszuführen, die reuige Sünder sind, die die Tugend der Zurückhaltung üben. Aber das alles – und das verstehen eben jene nicht – bildet durchaus nicht die Grundlage der Frömmigkeit. Das Gute an den erwähnten Formen der religiösen Betätigung ist als Begleiterscheinung der Frömmigkeit zu empfehlen, doch will man das eigentliche Wesen der Frömmigkeit richtig erkennen, dann muss man viel mehr in die Tiefe gehen. Und nur der Weise kann es recht erfassen. Denn seine Grundlagen sind: ein Denken, das von großer Klugheit beherrscht wird, und eine Handlungsweise, die die höchste Vollendung erreicht. Darum sagen auch unsere Alten: „Ein Unwissender kann nicht ein Frommer sein (Pirke Awot 2,5)“.
Erklären wir das nun genauer!
Die Wurzel der Frömmigkeit ist in dem Satze der Weisen gegeben: „Heil dem Manne, der mit der Tora sich abmüht und Freude bereitet seinem Schöpfer! (Brachot 17a)“ Der Sinn ist: die Gebote, die allen Jisraeliten auferlegt sind, sind bekannt und ebenso bekannt ist, wie weit unsere Verpflichtung hierin reicht. Wer aber dem Schöpfer, gelobt sei Sein Name, in rechter Liebe zugetan ist, der wird in seinen Bemühungen nicht darauf ausgehen, sich mit der Erfüllung der allgemein bekannten Pflichten, die allen Jisraeliten in gleicher Weise auferlegt sind, zu begnügen. Es wird ihm ebenso gehen, wie es einem Sohn geht, der seinen Vater lieb hat. Hat der Vater ihm gelegentlich ein wenig zu verstehen gegeben, dass ihm an einer Sache etwas liegt, dann wird der Sohn Alles daran setzen, um das Betreffende in weitestem Umfange auszuführen. Wiewohl der Vater es ihm nur ein einziges Mal und mit halben Worten gesagt hat, so genügt diesem Sohne doch schon ein Wink. Da er merkt, wohin der Wunsch seines Vaters zielt, so führt er auch das aus, was Jener ihm nicht ausdrücklich gesagt hat. Er darf ja annehmen, dass er seinem Vater Freude machen wird. Darum wartet er nicht einen ausführlicheren Auftrag ab oder eine Wiederholung des einmal Ausgesprochenen. Das erleben wir ja tagtäglich zwischen Freunden und Ehegatten, zwischen Vater und Sohn. Kurzum, alle die, die wirklich ein festes Band der Liebe umschlingt, die sagen nicht: ich habe keinen weiteren Auftrag empfangen, ich lasse es an dem genügen, was mir ausdrücklich aufgetragen ist. Vielmehr, aus dem Auftrage schließen sie auf den Wunsch dessen, der den Auftrag erteilt hat, und bemühen sich, dem Anderen all das anzutun, was ihm ihrer Meinung nach Freude machen wird.
Genau so wird es dem ergehen, der auch seinem Schöpfer in treuer Liebe zugetan ist. Auch ihn verknüpft ja mit G-tt jenes Band der Liebe. Die allgemein bekannten Gebote werden für ihn den Charakter der Andeutungen annehmen, aus denen er schließt, nach welcher Richtung der Wille und Wunsch G-ttes zielt. Er sagt nicht: Ich begnüge mich mit dem, was ausdrücklich steht, ich entledige mich der Pflicht, die mir nun einmal auferlegt ist. Im Gegenteil! Er sagt: da ich nun klar erkannt habe, dass G-ttes Wille dahin zielt, so soll mir das ein Fingerzeig sein, in dieser Sache weiter zu gehen, sie nach einer jeden Richtung hin auszuführen, von der ich annehmen kann, dass sie dem Willen G-ttes entspricht. Das bedeutet es: seinem Schöpfer Freude machen.
So besteht also das Wesen der Frömmigkeit in einer erweiterten Ausführung der Gebote nach allen Richtungen, die entsprechend, und allen Möglichkeiten, die ausführbar sind.
Man erkennt auch leicht, dass die Frömmigkeit das Gegenstück zur Tugend‚ der Zurückhaltung ist. Letztere mehr negativ auf die Verbote gewandt, erstere mehr auf die Gebote. Beide laufen aber in ihrem Wesen auf dasselbe hinaus: Über das, was ausdrücklich in der Mizwa ausgesprochen ist, soll hinausgegangen werden soweit, wie wir annehmen dürfen, dass es G-tt Freude macht. Das macht den Begriff‘ der echten Frömmigkeit aus. Nun an die Erörterung der wichtigsten Einzelheiten!
Fortsetzung folgt ijH
Übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)