Mitten im Lernen
Als der heilige Tana Rabbi Elieser ben Hyrkanos, der „Große Rabbi Elieser“, schwer erkrankte, besuchten ihn Rabbi Akiwa und seine Freunde. Sie befragten ihn über einige schwierige Halachot aus den Hilchot Tum’ah weTahara (Reinheitsgesetze). Er beantwortete ihnen alle Fragen und hauchte mit dem Wort „Tahor“ seine reine Neschama (Seele) aus[1].
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Von Rabenu Kalonymos aus Lucca (Italien) und Mainz berichten die Ba’ale haTosfot, dass er während seiner Petira drei Stellen im „Schass“ (Talmud) – einer Newuah (Prophetie) gleich – korrigierte![2]
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Über die letzten Stunden des grossen Lehrmeister der Kabbalah, den g‘ttlichen Rabbi Jizchak Lurja, der Arisa“l, wird folgendes erzählt: Die Chawerim versammelten sich rund um das Bett des Todkranken und er segnete jeden von ihnen gemäss seinem „Schoresch haNeschama“ (Wurzel seiner Seele). Dann verlangte er von ihnen, dass auf immer Frieden und Eintracht zwischen ihnen herrschen solle und dass sie von jetzt nur noch auf Rabbi Chajim Vital, den größten seiner Schüler, hören sollen: „Denn meine Torah lebt in ihm!“ Er ließ nach Rabbi Chajim rufen, der von Schul zu Schul eilte, um die Leute zur Tefila für die Genesung des Arisal anzuspornen. Als der geliebte Schüler endlich eintrat, sagte der Meister:
„Schnell, frage mich über alle deine Zweifel, bevor es zu spät ist, denn die Gesera (himmlisches Dekret) meines Todes ist unabwendbar!“
Dann begann der Arisa”l mit seiner letzten Offenbarung von „Sodot haTorah“ (Geheimnisse der Torah), bis er plötzlich verstummte, seine Augen öffnete und folgendes sprach: „Wie herrlich ist dieser Tag, da das ganze Zimmer voll von himmlischer Engel ist. Alle Jeschiwot des Himmels sind geschlossen worden und alle Neschamot der Zadikim mit der Schechina haKedoscha an ihrer Spitze sind hierhergekommen, um meine Neschama an ihrem Ort zu begleiten“.
Da fiel sein Blick auf den in der Ecke stehenden Schüler Rabbi Jizchak haKohen und er sagte zu ihm: „Geh schnell hinaus, denn mir ist keine Zeit mehr geblieben!“ Im selben Augenblick da Rabbi Jizchak die Türschwelle überschritten hatte, gab der Arisa”l seine Neschama dem Schöpfer zurück[3] (5. Aw 5332/1572).
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Der Amoräer Raw Aschi bat den „Mal’ach haMawet“ (Todesengel), ihm einen Zeitaufschub von 30 Tagen zu gewähren, damit er nochmals alles Gelernte widerholen konnte, denn er pflegte zu sagen: „Heil ist demjenigen, der in jener Welt ankommt und sein Gelerntes mit sich trägt!“ – Seiner Bitte wurde stattgegeben[4].
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Rabbi Elijahu sZl., der Wilnaer Gaon, der sein ganzes Leben lang nie sein Torah-Lernen unterbrach, hörte auch während seiner letzten Stunden, als er krank im Bett lag, nicht zu Lernen auf (19. Tischri 5585/1797). Nachdem er von seinem Doktor Reb Jakov Ljubaschitz behandelt wurde und dieser aus seinem Zimmer trat, wurde er von der Familie gefragt: „Nun, wo hält er?“ Sie meinten natürlich den gesundheitlichen Zustand des Gaons. Der Doktor hingegen entgegnete: „Er hält bei Massechet Kelim!“
Als er sein Ohr an das Herz des Patienten legte, hörte er sein stilles Geflüster, wie dieser auswendig die ganze Torah wiederholte[5].
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Außergewöhnliches wird auch vom Ableben des berühmten Rabbi Mosche Schreiber sZl., dem Chatam Sofer und Raw von Pressburg berichtet. Die Krankheit des von allen geehrten Raw wurde immer schlimmer, die Bestürzung der Leute nahm von Stunde zu Stunde zu. Man hatte bereits eine Namensänderung vorgenommen, der Raw lag regungslos im Bett, die Kappe war über den Kopf gezogen, sodass man ihm nicht ins Gesicht sehen konnte. Die Mitglieder der ‚Chewra Kadischa‘ glaubten, dass seine Zeit bereits gekommen war und begannen mit dem Sagen der Tefilot aus dem Sefer „Ma’awar Jabok“.
Da regte sich der Chatam Sofer und sagte zu seinem zweiten Sohn, Rabbi Schimon, dem späteren Krakauer Rabbiner sZl.: „Ich weiss nicht, was sie von mir wollen. Geht nach Hause, denn es ist noch lange Zeit. Morgen werden wir die Gebete gemeinsam verrichten! Nicht vor halb acht Uhr!“ Und dann sagte er: „Diese Leute lenken mich nur ab, denn jetzt ist die Zeit gekommen, alles zu wiederholen, was ich je gelernt habe, und sie stören mich“. Dann wandte er sich an seine Schüler und fragte:
„Warum weint ihr? Heil dem, der seine Jahre so wie ich ausgenutzt hat. Heil dem, der in jene Welt mit seiner Gelehrsamkeit eintritt!“
Während der Nacht verabschiedete er sich von seiner ganzen Familie, seinen Bekannten und seinen zahlreichen Schülern. Am Morgen legte er Tallis und Tefillin an, und schenkte danach die Tefillin seinem treuen Diener. „Morgen werde ich sie nicht mehr benötigen, denn ich werde von allen Mizwot entbunden sein“, erklärt er.
Danach bat er, dass einige Talmide Chachamim an einem Tisch bei seinem Bett Torah lernen mögen, damit er mit ihr aus dieser Welt scheide. Später, als die Zeit gekommen war, rief er dreimal den Passuk „Schma Jisrael“ aus, zuerst laut und dann allmählich schwächer, bis er mit dem Wort „Echad“ seine reine Seele aushauchte[6] (25. Tischri 5600/3. Okt. 1839).
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Auch von Rabbi Jakov (‘Jejkele‘) Weidenfeld sZl., dem Hrimlover Raw (Galizien, heute Ukraine) und Verfasser des „Kochav miJakov“ (Vater des Tschebiner Raw sZl.), wird Ähnliches berichtet. An seinem letzten Lebenstag bemerkte seine Familie, wie er fortwährend etwas murmelte. Auf die Frage seiner Tochter erwiderte er: „Ich flüstere keine Geheimnisse, ich wiederhole nur ‚Schass‘ (Talmud)…[7] (21. Schwat 5654/1894).
‚Drascha‘ in der himmlischen Jeschiwa (מתיבתא דרקיע)
Der Pressburger[8] Raw, der Gaon Rabbi Mosche Meschulam Igra sZl. aus Tysmenitz[9], Vorgänger des Chatam Sofer sZl., lag einige Tage vor seiner Petira (Tischri 5562/1801) krank und bewegungslos im Bett, nur seine Lippen bewegten sich. Er wiederholte auswendig alles was er gelernt hatte. Plötzlich erhob er sein Haupt und fragte die vor ihm sitzenden Schüler: „Wer kann sich an meine Drascha, die ich damals an jenem Ort gesagt habe, erinnern?“ Sie konnten sich aber nicht erinnern.
Da trat sein Lieblingsschüler, Rabbi Mordechai Benet sZl., der Nikolsburger[10] Raw, ein. Er war gerade in Wien, als ihn die Kunde von der schweren Krankheit seines Rebben erreichte, worauf er sich sofort auf den Weg machte. Bei seinem Eintreten hörte er gerade die Worte des Rebben und begann sogleich den gewünschten ‚Pilpul‘ (scharfsinnige talmudische Beweisführung) zu rezitieren. Noch bevor er diesen beendet hatte, erschien ein Lächeln auf den Lippen des Gaons, und er verschied.
Seine Schüler meinten danach, dass sich Rabbi Meschulam für seine ‚Drascha‘ in der himmlischen Jeschiwa vorbereitet hatte…[11] .
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Rabbi Schalom Mordechai haKohen Schwadron sZl., der Breschaner[12] Raw und einer der grössten Posskim Galiziens, wollte am Vortag seiner Petira, dem „Tu biSchwat“, keine Medikamente oder Wein zur Linderung seiner Schmerzen einnehmen. Er befürchtete, dass die Klarheit seines Verstandes darunter leiden würde und dies konnte er sich jetzt nicht leisten: „Ich muss jetzt meine Drascha für die kommende Welt vorbereiten“, erklärte er seinem Sohn[13] (gest. 16. Schwat 5671/1911).
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Ähnliches sagte auch der Rabbi Jakov Meschulam Ornstein sZl., der Lemberger Raw und Verfasser des „Jeschuot Jakov“, als ihm seine Schüler einige Stunden vor seinem Ableben besuchten und dabei über den Schwerkranken weinten. Er aber hatte jetzt keine Zeit für sie und gab ihnen zu verstehen, dass er jetzt mit der Ordnung gewisser Stellen in „Tosfot“ und einigen Halachot beschäftigt sei, über die er eine Rede im Himmel halten werde[14] (gest. 21. Aw 5599/1839).
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Eine bemerkenswerte Geschichte über das Ableben des Rabbi Jakov Jehoschua Falk sZl., Frankfurter Raw und berühmter Verfasser des „Pne Jehoschua“, wurde vom Rabbi Mosche Teitelbaum sZl., Raw aus Uhely (Ungarn) und Verfasser des „Jismach Mosche“, erzählt:
Einst hatte der Pne Jehoschua einen grossen Streit mit seinen Zuhörern über eine seiner ‚Chiduschim‘ (neue Erklärung), die sie nicht akzeptieren wollten.
Er blieb jedoch eisern bei seiner Meinung, dass er Recht habe und sein Chidusch wahr sei. Nach vielen Jahren, als Rabbi Falk auf seinem Totenbett lag, sahen die um das Bett Stehenden, dass sich seine Lippen bewegen und er irgendwas murmelt. Als sie ihn darüber befragten, antwortete er: „Das Bet-Din-schel-Ma’ala (himmlische Gericht) liess mir eine Nachricht zukommen in der sie mir die Ehre gaben, nach meinem Ableben, im Himmel eine ‚Drascha‘ zu geben. Sie baten mich, diesen ‚Chidusch‘ zu wiederholen, den meine Zuhörer vor Jahren so heftig in Frage stellten. Nun wiederhole ich diesen Chidusch, wie auch mein gesamtes Wissen der Torah, damit es geläufig sei in meinem Mund“[15] (gest. Offenbach a.M. am Erew Schabbat 14. Schwat 5516/1756).
Ableben durch Singen und Loblieder
Der Ba’al Schem Tov sZl. liess sich vor seiner ‚Petira‘ (6. Siwan 5520/1760) eine überaus bewegende und ergreifende Melodie seines Schülers Rabbi Jechiel Michel sZl., der spätere „Slotschewer Magid“[16], vorsingen, die er “Hit’orerut Rachamim Rabim-Nigun” (die ‘großes-Erbarmen-Erweckende’ Melodie) nannte. Reb Mechele sang darauf eine äußerst bewegende und ergreifende Melodie, die er selber komponiert hatte. Danach sagte ihm der Besch”t: „Ich versichere dir für alle kommenden Generationen, dass immer, wenn dieser Nigun mit ‘Gedanken der Teschuwa’ gesungen wird, unabhängig wann, wo und durch wen, ich es im Himmel hören werde, unabhängig davon, in welchem ‘Hejchal’ (Raum) ich mich gerade befinde. Ich werde es hören und mitsingen, und dadurch werde ich von Oben “großes Erbarmen” auf die Ba’ale Teschuwa erwecken!”[17]
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Rabbi Chajim Zanser sZl., Haupt der berühmten „Klaus von Brody“ (Galizien/Ukraine), bat von einem g‘ttesfürchtigen, jüdischen Musikanten, ihm das Vidui (Sündenbekenntnis) bei seinem Sterbebett auf seinen Instrumenten vorzuspielen[18].
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Bekannt und ergreifend ist die Art und Weise, wie der berühmte Rabbi Meyer Schapiro von Lublin sZl., Gründer der Jeschiwa „Chachme Lublin“, inmitten der Versammlung seiner Schüler von dieser Welt verschied (7. Cheschwan 5694/1933). Nachdem er schon geraume Zeit krank war, wussten die Ärzte noch immer nicht, was ihm genau fehlte. Donnerstag nach Mitternacht fühlte er sich etwas besser, bat um ein Glas Tee und trank davon. Die eintretende Rebbezen sah seinen Zustand und versuchte ihn zu ermuntern:
„Nu, bis Schabbat wird der Raw bereits genesen und wir werden einen fröhlichen Schabbat haben“.
„Ganz recht“, pflichtete ihr der Raw bei, „am Schabbat werden wird uns die wahre Freude erreichen!“ Er schrieb auf einen Zettel, dass ihn die Schüler in das grosse Gästezimmer der Jeschiwa hinübertragen. Diese wollten zuerst den Arzt fragen, ob dies für ihren verehrten Rebbe nicht schädlich sei. Der Raw aber drängte und versuchte vergeblich selbst aufzustehen. So kamen die Talmidim seiner Bitte nach und trugen ihn hinaus. Bei der Türe angelangt, fiel sein Blick auf zwei dort hängende Schilder, auf denen „Bikur Cholim“[19] und „Chessed schel Emet“[20] stand, durch die die Spenden zweier Gemeinschaften für die Jeschiwa in Erinnerung gehalten wurden. Sofort verdunkelte sich sein Antlitz. Die Rebbezen bemerkte diese Veränderung und begann zu weinen. „Weshalb das Weinen?“ fragte ihr Mann.
„Jetzt beginnt doch die wahre Freude!“
Langsam begriffen alle jungen Schüler der Jeschiwa, was vor sich ging und versammelten sich um das Bett des geliebten Rebben. Sein Gesicht begann zu strahlen und er schrieb auf einen Zettel mit wackliger Schrift: „Trinkt bitte alle „leChajim“. Sogleich wurde Schnaps herbeigeschafft, von dem alle ein Gläschen tranken, vermischt mit ihren aus den Augen tropfenden Tränen. Dann trat jeder der Reihe nach an das Bett, der Raw gab jedem die Hand, drückte sie mit Wärme und schaute jeden mit Augen voller Liebe an. Daraufhin bat er, dass sie die von ihm komponierte Melodie auf den Passuk „Becha Batchu Awotenu“ (‚Auf Dich verließen sich unsere Vorväter‘) singen mögen, und inmitten des Gesanges wies er sie dann an, um ihn herumzutanzen.
Ein unbeschreibliches Bild!
Die Gefühle der Tanzenden können kaum nachvollzogen werden. Singend, tanzend und zugleich bitter weinend, drehten sie die Runden um ihren dahinscheidenden geistigen Vater; die Atmosphäre war eine Mischung zwischen der Nacht von „Kol Nidre“ und der Nacht von „Purim“. Die Augen des Zadiks glänzten und das Gesicht leuchtete wie ein g‘ttlicher Engel, und er feuerte sie mit seinen Händen an weiter zu tanzen. Dann, inmitten des Tanzes, ertönten die letzten Worte des Rebbe: „Nur Simcha, nur Freude…“[21]. – זכותם יגן עלינו, אמן – Der Sechut aller erwähnten Zadikim möge uns beschützen, Amen.
- Sanhedrin 68a ↑
- Tosfot zu Menachot 109b und siehe Raschi zu Sewachim 45b! ↑
- Schiwche hoArisa”l haSchalem (Ausgabe Ahawat Schalom 5751/S.122) ↑
- Moed Katan 28a ↑
- ‚haGaon miWilna‘ von Reb Bezalel Landau ↑
- Chut haMeschulasch S.159 ↑
- Aschkavta deZadikaja (Bd1/S.77) ↑
- Pressburg (Ungarn) ist das heutige Bratislava (Slowakei) ↑
- Tysmenyzja ehemals Galizien heute Westukraine ↑
- Nikolsburg (Südmähren) ist das heutige Mikulov (Tschechien) ↑
- Elef Ketaw Bd1/S.203 und Gram haMa’alot (-Knebel, S.24) ↑
- Brzeżany (Galizien) heute Westukraine (Bereschany) ↑
- Ohole Schem und miDarke Schalom S.63 ↑
- Elef Ketaw Bd1/3 ↑
- Kuntrass Tehila leMosche (‚Toldot haJismach Mosche S.31a) ↑
- Zlotschow, Solotschiw (Ukraine) ↑
- Sefer haSichot (5703/S.169) des Rabbi Josef Jizchak Schneersohn von Lubawitsch sZl., der es von seinem Vater hörte, und dieser von seinem Grossvater etc., bis zurück zum Ba’al haTanja, der erste Lubawitscher Rebbe, der es von seinem Rebbe, Rabbi Dov Beer, der Meseritscher Magid sZl., hörte, der bei der Petira des Ba’al Schem Tov dabei war. ↑
- Elef Ketaw Bd2/885 ↑
- Besuch von Kranken ↑
- “Wahre Güte”, da ein Toter einen nicht für die Güte seines Begräbnisses etc. belohnen kann. ↑
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Sichron Meyer S.78 (N.Y. 5714) und Jeschiwat Chachme Lublin (-Mandelbaum, Bd2/Kap.27-28) ↑