Choreb – Achtung des eigenen Körpers

Datum: | Autor: Rav Schimschon Raphael Hirsch | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Achtung des eigenen Körpers

Der große Retter der deutschen Judenheit Raw S.R. Hirsch verfasste, in erster Linie mit Blick auf die jüdische Jugend in Deutschland zu seiner Zeit, ein großes und heute leider wenig beachtetes Werk über die Mitzwot namens “Choreb” – der Name des Berges, auf welchem die Tora dem jüdischen Volk gegeben wurde. Die Sprache ist uns heute etwas ungewöhnlich, jedoch lohnt es sich, etwas Zeit und Mühe zu investieren und jede Sache mehrmals durchzugehen bis man die Absicht des Verfassers, der ein sehr grosser Talmid Chacham war, zu verstehen.

Achtung des eigenen Körpers:

Selbstmord, Selbstverletzung, Selbstzerrüttung, Selbsterhaltung –  איסור איבוד וסכנת עצמו ומצות שמירת נפשו

Jedoch euer Blut, das euren Seelen Bestimmte, fordere Ich (Bereschit 9, 5)
Hüte dich deinetwillen wohl und achte sehr auf dich selber. (Dwarim 4, 9)
§ 426.

[1]Siehe, du könntest sprechen: Wohl! so will ich gerecht werden jedem Wesen um mich; ich will von dem Menschen bis zum Wurm, von der Erde bis zum Gewande, keines beeinträchtigen in irgend einem Daseinsgute, und keines müßte mich anklagen dürfen vor G-ttes Thron, ist ja Alles und Jedes nicht mein, ist’s ja G-ttes heiliges Eigentum durch und durch; – aber ich selber, mein Körper und die Kräfte desselben, – sie sind doch wirklich mein, mit ihnen darf ich doch wohl schalten nach meiner Willkür, darf sie teilweise nach Gefallen verwenden, vernichten, oder gar sie mir alle rauben – mich ihnen entwinden – denn gegen wen sündigte ich da?

Siehe, da tritt dir G-ttes Lehre, und vor Allem in seinem mündlich mitgeteilten Worte[2], entgegen und spricht: Kein Mensch ist befugt, sich selber zu verletzen, zu zerrütten, zu morden. Jeder trägt die Pflicht, sich körperlich zu erhalten, darf sich nicht schwächen, denn er weiß nicht, wie seine Welt seiner bedürfen werde, – und wenn Menschenrichter da nicht richtet – so richtet G-tt!

Dieses Verbot der Selbstverletzung und Gebot der Selbsterhaltung finden dann unsere Chachomim auch in dem schriftlich Mitgeteilten[3], in dem allgemeinen Ausspruch wieder: daß G-tt Rechenschaft fordern werde für jedes, Menschenseele zu tragen bestimmte Blut, und in dem Gebot: über die Güter des eigenen Geistes und Gemütes zu wachen, die Kräfte des Körpers mit Recht als die äußere Bedingung derselben erkennend.

‎Unsere Willkür gegen unseren eigenen Körper beschränkend, ruft uns also G-ttes Wort zu: “Morde dich nicht!“
“Verletze dich nicht!“
“Zerrütte dich nicht!“
“Gefährde dich nicht!“
“Schwäche dich nicht!“
“Erhalte dich selber!“

Verbot des Selbstmordes

Als ein Heiligtum steht dir des Nächsten Leben da, darfst dem Brudermenschengeist seine Hülle nicht zerstören, – darfst das Band nicht zerreißen, das in deinem Brudermenschen G-tt geknüpft hat zwischen Geist und Körper, – darfst keinen Brudergeist scheuchen von der Erde, so lange G-tt ihn dort erhält, – und du wolltest in deinem Leben nicht gleiches Heiligtum erkennen? – in deinem Leben nicht, wie dort, Von G-tt geknüpftes Band achten? – dir selber, Menschengeist! die Hülle zerstören, und fliehen von der Erde, zu der G-tt dich gesandt – ehe G-tt dich abruft? Nicht mehr Recht hast du an das eigene Leben, an den eigenen Körper, als an des Bruders; G-ttes-Tempel zerstörst du, G-ttes-Geschöpf vernichtest du – Mörder bist du – ob du dich selber – oder den Bruder mordest – G-tt fordert Rechenschaft für jedes Menschenblut! – Auch dein Körper, seine Kräfte, die kleinste Spanne deiner Hierseinszeit – ist nicht dein – nicht mehr dein, als irgend ein Teilchen deiner Welt; Alles, auch dein Körper, ist dir nur zum Werkzeug deiner Pflichterfüllungen gegeben; nur als solches darfst du ihn, wie Alles, nach deines G-ttes Willen verwenden; – aber vernichten, dir das Werkzeug deiner hieniedigen Pflichterfüllung vernichten – nimmer! Vielmehr Rechenschaft trägst du G-tt, – und, wenn G-tt für jedes Kleinste deiner Besitztümer Rechenschaft fordern wird – so wird Er für das Edelste, das sie Alle bedingt, für dein Blut, die strengste Rechenschaft fordern.

Diener G-ttes bist du, Menschengeist, hierhergesandt (in Erde gehüllt, auf Erden, und mit der Erdenwelt), den Auftrag deines G-ttes zu erfüllen. Wie dir die Erdenwelt sich gestaltet, wie sie – freundlich, feindlich, – dir entgegenkommt, Auftrag G-ttes ist es dir, – und du wolltest dich weigern, irgend Einen zu erfüllen? – wenn er dir nicht zusagt mehr – du dir ihn selber erschwert – dich selber vielleicht erschlafft hast – willst du zerreißen das Band, willst du höhnen das G-tteswort, das „hier“ dir zuruft, – und dort vor G-ttes Thron – Empörer! erscheinen??[4]

„Unglück? des Lebens Last?“ Meinst du durch Verbrechen es zu mildern – es zu löschen gar? Kannst du, wie die Erdhülle dir zerstören, auch dich selber vernichten – dich selber Menschengeist! – und dem Gericht entgehen, das dort deiner wartet? Wahnsinn!

„Aber Verbrechen! Scham!“ Willst du Verbrechen mit Verbrechen sühnen? Um Menschentadel zu entfliehen, vor G-ttes Thron im Schuldbewußtsein vernichtet erscheinen? Des Wahnsinns größter! Ja, ist es denn nicht Täuschung nur, daß Selbstmord nur Verbrechen sei gegen G-tt und gegen sich selber – nicht auch Verbrechen sei gegen die ganze Erdenwelt? Ward denn auch nur Ein Teilchen deines Daseins, Ein Splitter deiner Kraft nur dir, ward nicht in Jedem und mit Jedem dir Pflicht, Segen deiner Welt zu werden? Gehörst du ihr nicht an mit deinem ganzen Sein, wardst du ihr nicht geboren, als G-tt dich in’s Hiersein rief, und betrügst du sie nicht um ihre ganze Forderung an dich, wenn du dies Hiersein vernichtest?

(Der böse Trieb spricht zum einsamen Menschen: – Red.) – „Aber du stehst ganz allein in G-ttes Welt, keine Bande der Liebe, der Freundschaft, des Blutes, knüpfen ein Wesen an das Deinige.“

(Antwort:) Sind es denn nur die, die Anspruch an dein Segenwirken haben, ist es nicht Alles, was G-ttes Stempel trägt, ist es nicht jeder Mensch, dem du dienen kannst, jedes Tier, das du erhalten, jeder Baum, des du warten kannst, jedes Erdgeschöpf, dem du angehörst? und wenn in Bezug zu Menschen du allein stehst – ist dies Alleinstehen nicht selber vielleicht schon dein Verbrechen, daß du den Menschen dich entzogen, oder durch Unverstand, oder Schuld, sie von dir gescheucht?

(Der böse Trieb spricht zum einsamen Menschen, der sich wegen seiner Sünden als ausgestossen betrachtet: – Red.) – „Aber du hast bis jetzt nur in Schande und Verbrechen gelebt, warst Fluch deinem Kreise, nicht Segen – und Wohltat, deines Kreises Wohltat wäre dein Ausscheiden aus seiner Mitte?“

(Antwort:) O, siehst du denn nicht, daß, je mehr deine bisherigen Verbrechen, um so größer deines Selbstmordes Verbrechen ist? Denn um so größer ist deine Schuld an die Welt, um so teurer sollte jede Spanne deines noch vergönnten Hierseins dir sein, um mit Zins und Zins der Zinsen wieder zu vergüten, was du bis jetzt der Welt geraubt.

„Aber die Kraft dazu?“ gibt G-tt den ernsten Willen! dafür bürgt dir dein Nochhiersein selber, dafür bürgt dir G-ttes Wort, das spricht: für jeden deiner Seele gehörenden Blutstropfen, den du vergießt, fordere Rechenschaft Ich! – „Lebe!“

Pflicht zur Erhaltung der Gesundheit

Aber nicht nur das Leben darfst du dir nicht rauben, auch nicht die kleinste Verstümmelung darfst du deinem Körper beibringen, darfst nicht durch Leichtsinn deine Gesundheit zerütten, darfst nicht durch Entsagung des Erlaubten dich schwächen, darfst nicht mutwillig in Gefahr dich begeben, nicht durch unregelmäßige Lebensweise deine Kräfte schmälern, deine Gesundheit mindern, dein Leben kürzen.

Nur ein gesunder Körper ist tüchtiges Werkzeug für des Geistes Wirken. Für die kleinste unnötige Kraftberaubung bist du G-tt verantwortlich. Jede kleinste Zerrüttung ist ein teilweiser Mord. Daher sollst du selbst, was nur möglicherweise deine Gesundheit gefährden kann, meiden; auch nicht im zweifelhaftesten Fall sie auf’s Spiel setzen, außer wo G-tt es selber fordert; dich, wo es nicht Pflichterfüllung heischt, nicht auf ein schützendes Wunder der Vorsehung verlassen; denn sie schützt den Mutwillen, den Leichtsinn und die Tollkühnheit nicht; und noch größere Entfernung legt dir das Gesetz von Gefahr (Sakonoסכנה) auf, als es sonst von dir fordert.

Einzelne Halachot zur Vermeidung der Gefahr

Merken wir nun noch Einzelnes von dem, was uns in dieser Beziehung zu treuer Beachtung aufbewahrt ist. – Für die Kollision der Pflicht und der Gefahr siehe Kap. 9.

Unsere Chachomim bezeichnen unter Anderem (folgende Sachen) als der Gesundheit gefährdend:
  • für Gegenden der Giftschlangen, Genuß bestimmter aufgedeckt gestandener Getränke;
  • überall aber, Fisch und Fleisch zusammengekocht, und selbst nacheinander zu genießen ohne Mundreinigung;
(Chachomim) warnen:
  • vor Menschenschweiß außer dem des Angesichts;
  • kursierendes Geld in den Mund zu nehmen;
  • mit vor Giftigem, Ansteckendem ungehüteter Hand die Armhöhle zu berühren;
  • Brot unter den Arm zu nehmen des Schweißes halber;
  • baufällige Mauer, Brücke u.s.w. ohne Not zu passieren;
  • freistehendes Wasser im Dunkeln zu trinken;
  • nachtüberstandene geschälte Zwiebeln, Eier, zu genießen;
  • irgend etwas, das Menschen anekelt, zu genießen;
  • oder wovor dich widert (reiche auch Niemanden das Glas, aus dem du getrunken, zum Nachtrinken, ohne den Rand durch darüber ge
  • gossene Flüssigkeit gereinigt zu haben);
  • genieße nichts aus schmutzigen, ekelhaftem Gebrauch bestimmten Gefäßen;
  • nicht mit ekelhaften Händen, auf schmutzigem Tischzeug u. s. w.
So empfehlen sie auch
  • nicht in der Stadt zu bleiben, wo die Pest ist, sondern sie vielmehr anfangs, nicht zu Ende derselben zu verlassen.
  • Warnen vor Genuß von Tieren, die Menschenschädliches genossen, oder von Schlangen getötet oder gebissen worden sind u. s. w.

Verbot der Askese

Sprich nicht: wenn also Eifersucht und Lüsternheit und Ehrfurcht und so manches im Zusammenleben mit der Welt entstehende Böse den Menschen seiner wahren Bestimmung entführen, – so will ich das gerade Entgegengesetzte erwählen, jedem körperlichen Genuß entsagen, Ehe, Bequemlichkeit und Schmuck fliehen, und Mönchsleben leben; auch wenn du den Weg betrittst, bist du Sünder. Nur was das Gesetz dir verbietet, meide; das Erlaubte benutze weise zur Stärkung und Erhaltung deines Körpers, auf daß er dir rüstiges Werkzeug bleibe, deine Lebensaufgabe zu erfüllen. Wenn du also genießt, wird auch deine körperlichste Handlung G-ttesdienst. Soll aber dein Körper gesundes Werkzeug dir bleiben, so meide Alles, was ihn dir zerstören könne, und nimm Alles in deine Lebensweise auf, das ihm Gesundheit und Kraft zuführt.

Anweisung zur gesunden Lebensführung

  • Iß nur, wenn du hungrig, trinke nur, wenn du durstig bist.
  • Sobald dein Körper Ausscheidung ihm fremdartiger Stoffe fordert, verschiebe es nie.
  • Iß nie dich übersatt, ja nie ganz satt.
  • Iß nie, wenn entgegengesetzt dein Körper Ausscheidung fordert.
  • Wenn du kannst, arbeite oder bewege dich körperlich vor dem Essen.
  • Iß immer sitzend und ruhe nach dem Essen.
  • Schlafe nicht zu wenig, auch nicht zu viel; acht Stunden sind hinreichend genug; und schlafe wo möglich so, daß du vor der Sonne aufstehst.
  • Schlafe nicht auf dem Rücken liegend, auch nicht auf dem Angesicht, sondern auf der Seite.
  • Schlafe nicht unmittelbar nach dem Essen, sondern warte drei bis vier Stunden.
  • Genieße nur gesunde Speisen, von schädlichen gar nichts, von minder gesunden wenig, von den gesunden das Meiste.
  • Richte dich nach Jahreszeit und Örtlichkeit.
  • Arbeit und Mäßigkeit, Vorsicht und Reinlichkeit, sind der Gesundheit Stützen.
  • Berühre nicht mit ungewaschener Hand Mund, Nase, Ohr und Auge; dreimal begieße Morgens früh jede Hand mit reinem Wasser beim Aufstehen; auch nach dem Schlafe am Tage wasche dir die Hand.
  • Und so wie nicht nur Vernichtung des Nächsten Verbrechen ist, sondern auch nur der Vernichtungsanwunsch, der Fluch, also vernichte nicht nur dich selber nicht, sprich auch den Wunsch der Vernichtung nie über dich aus, fluche dir nie.‏

Vor allem an euch, junge Menschen, ergeht der Ruf der Tora: Stürmt nicht los auf eure Gesundheit, eure Kraft, euer Leben! meidet Leidenschaft, meidet die Wollust, meidet den Leichtsinn, meidet die Tollkühnheitl Vergeudet nicht in der Vorhalle des Lebens die Kräfte, die ihr im Ernste des Lebens dann vermissen werdet.


  1. Kurzfassung: Ein Mensch könnte sagen: ich möchte kein Wesen oder sogar Gegenstand auf igrendeine Art und Weise beeintächtigen, ich darf es auch nicht, weil alles G-tt gehört; da ich aber mir selbst gehöre, darf ich mit mir verfügen nach meinem Gutdünken, denn gegen wen sündige ich, wenn ich mich schädige oder sogar vernichte?
  2. in der mündlich überlieferten Tora
  3. in der schriftlich überlieferten Tora (T’nach)
  4. Die Seele eines Menschen wurde in die materielle Welt entsandt, um, in eine materielle Hülle gekleidet, den g-ttlichen Auftrag zu erfüllen. Unabhängig davon, wie die materielle Welt einem Menschen entgegentritt – freundlich oder feindlich – und unabhängig davon, ob der G-ttliche Auftrag einem zusagt, bzw. (selbst verschuldet?) schwer vorkommt, hat der Mensch kein Recht, das Band zwischen ihm und seinem G-tt zu zerreissen (d.h. sich das Leben nehmen) und das G-ttliche Wort dadurch zu verhöhnen; die Folge wäre, dass er vor G-ttes Thron als Empörer erscheint. – Red.

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