Birkot Hatora (Bracha auf das Toralernen) – 1. Teil
1. Bracha
ברוך-Gesegnet seist du, Ewiger, unser G-tt, König der Welt, der uns geheiligt durch seine Gebote und uns geboten hat, uns mit den Worten der Lehre zu beschäftigen. Und lasse doch lieblich sein, Ewiger, unser G-tt, die Worte deiner Lehre in unserem Munde und im Munde deines Volkes, des Hauses Jisrael, damit wir und unsere Nachkommen und die Nachkommen deines Volkes, des Hauses Jisrael, wir alle Kenner deines Namens und Erlerner deiner Lehre um ihrer selbst willen seien. Gesegnet seist du, Ewiger, der die Tora lehrt sein Volk Jisrael.
ברוך לעסוק בד“ת Nach den Dank-Segnungen für das täglich neue Geschenk der körperlich-seelisch-geistigen Erhaltung und nach Ablegung des Bekenntnisses zur unbeirrbaren Erfüllung der nationalen Daseinsbestimmung, wendet sich nunmehr das Gebet dem zu, was in allen Zeiten Jisraels Lebensgrundlage ist: der Tora. Diese Reihenfolge wird vom Wilnaer Gaon unter Berufung auf alle älteren Gebetbücher als die richtige bezeichnet. Sie entspricht dem Gedankengang des Satzes: [1]ברוך הוא אלוקינו שבראנו לכבודו (Erschaffung), — [2]והבדילנו מן התועים (nationale Sonderbestimmung),- ונתן לנו תורת אמת[3]. Obwohl die Birkot Hatora, wie aus der talmudischen Quelle (Brachot 11b) hervorgeht, keineswegs als eigentliche Wesensbestandteile des Schacharit zu betrachten sind, sondern nur als einleitende Segensprüche für das tägliche Toralernen, so haben sie dennoch mit vollstem Recht ihren ständigen Platz an dieser Stelle des Gebetes gefunden.
Denn für die Söhne unseres Volkes würden sowohl die Güter des Lebens, denen die bisherigen Brachot gewidmet waren, wie auch das nationale Gemeinschaftsleben, ohne die Tora zur völligen Bedeutungslosigkeit herabsinken. Sie verleiht dem Leben des Einzelnen Richtung und Ziel und der Gesamtheit des Volkes ihre geschichtliche Bedeutung. Deshalb müssen sie darum bitten, daß ihnen G-tt ihren Verstand und Gemüt der Tora erschließe: למען לא ניגע לריק ולא נלד לבהלה „damit wir uns nicht um Vergebliches mühen und Vergängliches schaffen.“
Höchst beachtenswert erscheint sonach der Aufbau dieses ersten Teiles des Schacharit-Gebetes.
Zunächst, von Adon Olam bis Ben Brit steht das Individuum mit seinen Lebensbedürfnissen im Mittelpunkt. Sodann, von Leolam bis Leejnejchem omar Haschem gibt das Schicksal der Nation die Grundlage des Gebetes. Diese unmittelbare Aufeinanderfolge läßt die wechselseitige Abhängigkeit von Individuum und Volksgemeinschaft so recht eindrucksvoll hervortreten. Hier hat die lebendige Volksgeschichte einen Zusammenhang geschaffen, der für die unlösliche Verbundenheit des Juden mit dem Schicksal seiner Nation von überzeitlicher, symbolhafter Bedeutung geworden ist.
Dann aber, ausgehend von den realen Gegebenheiten des Einzel- und des Volkslebens, führt uns das Gebet, weiter vordringend, zum beherrschenden Prinzip hin, zur Tora.
So leitet auch der Gedankengang der Birkot Keriat Schema von den Bedingungen des physischen Daseins (“Jozer Hameorot”) zum Bewußtsein der jüdischen Nationalbestimmung über (“Der sein Volk Jisrael in Liebe erwählt”) und verbindet es mit dem grundlegenden Motiv der Tora (“zu hören, zu lernen, zu lehren etc”).
Es ergibt sich nun weiter aus den einschlägigen Quellen, daß die nachfolgenden Abschnitte aus Tora, Mischna und Talmud nicht etwa angefügt sind, damit auf die Segensprüche über die Tora auch ein Gegenstand des Studiums folge, sondern daß die tägliche Lernpflicht erfüllt werden soll und darum die Birkot Hatora als die gewöhnlichen einleitenden Segensprüche vorausgeschickt werden. Jede andere Auffassung würde ja auch dem Gesamtgeist des Judentums widersprechen. Denn nicht die Verherrlichung die Segnungen der Tora können ihr die entscheidende Bedeutung sichern, die sie für das jüdische Volk besitzt, sondern nur ihr eifriges Studium, das sich von Geschlecht auf Geschlecht überträgt und solchermaßen vor Antiquierung schützt. Daß die Lernpflicht daher als Toragebot gilt, wird von keiner Seite in Zweifel gezogen, wohl aber ist dies für den Segenspruch über die Tora eine umstrittene Frage.
Und gleichwohl kommen diesen Brachot eine ganz besondere Bedeutung zu, auf die der Schulchan Aruch in seinem einleitenden Paragraph hinweist (Orach Chaim 47,1):“ברכת התורה צריך ליזהר בה מאד“ “Man muss sehr sorgsam mit den Tora-Segnungen sein”.
Tur und Bes Joseph z. St. erklären ihren Sinn unter Bezugnahme auf folgende Talmudstelle (Nedarim 81a): „Warum vererbt sich die Tora so selten auf die Söhne von Talmide Chachamim? Rawina sagte, weil sie nicht zuerst Beracha über die Tora sprechen. Denn R. Jehuda sprach i. N. Raws: Es heißt (Jirmija 9): Wer ist der weise Mann, daß er dies zu ermitteln, wer, mit dem G-ttes Mund gesprochen, daß er dies zu beantworten vermöchte. Weshalb das Land zu Grunde gegangen, öde geworden wie die Wüste, menschenleer?
Diese Frage wurde den Weisen vorgelegt und sie wußten sie nicht zu beantworten, den Propheten und sie wußten sie nicht zu beantworten, bis G-tt sie selber beantwortete, denn also heißt es: „Da sprach G-tt, weil sie meine Tora verließen, die ich vor sie hingelegt hatte und dadurch auf meine Stimme nicht hörten und in ihr nicht wandelten!“ Auf G-ttes Stimme nicht hören und in ihr nicht wandeln, ist dies nicht dasselbe?
Da erläuterte es R. Jehuda i. N. Raws:
שלא ברכו בתורה תחלה sie sprachen nicht zuerst Beracha über die Tora‘‘ Diese schwierige Stelle erklärt Ran (von Bes Joseph z. St. zitiert) wie folgt: „Die Schlußfolgerung, daß das Land zu Grunde ging, weil man nicht zuerst Beracha über die Tora sprach, ergibt sich aus Folgendem: Wäre es geschehen, weil sie meine Tora verließen, wie der einfache Wortlaut sagt, und sich nicht mit der Tora befaßten, warum wußten dann die Weisen und Propheten die an sie gerichtete Frage nicht zu beantworten? Das war doch eine offenbare Sache und leicht zu erklären! Vielmehr hat man sich wohl mit der Tora beschäftigt und eben darum wußten die Weisen und Propheten nicht, warum das Land zu Grunde gegangen war, bis es G-tt selber erklärte, der allein in das Innere des Menschenherzen schaut und wußte, daß man nicht zuerst Beracha sprach.
Das bedeutet, daß die Tora in ihren Augen nicht so vorzüglich war, daß man sie wert fand, eine Beracha über sie zu sprechen, denn man lernte sie nicht mit reiner Absicht und deshalb vernachlässigte man die Beracha. Das heißt: in ihr nicht wandeln, nämlich in ihrem Zweck und in ihrem Sinn.“ Diese Begründung läßt den Sinn der Birkot Hatora mit voller Deutlichkeit erkennen.
Bestimmender als das Lernen selbst ist der Geist, mit dem man lernt!
Jedes Lernen, das nicht dem Zweck dient, den Willen G-ttes aus der Tora zu erkennen und ihn lehrend und erfüllend zu vollbringen, geschieht nicht לשמה und ist unheilstiftend (Taanit 7a). Bedenkt man, wie seit den Tagen des Karäertums über die neutestamentliche Schriftdeutung bis zur (sogenannten) kritischen Bibelforschung unserer Zeit die Tora stets Gegenstand lebhafter Diskussionen geblieben ist, so erkennt man leicht, daß der Geist des Studiums weit mehr Zerstörungswerte für das Judentum enthält, als die Gefahr mangelnden Interesses am Studium selbst. Darum legten die Weisen so großen Wert auf die einleitenden Brachot, die in dem Lernenden erst die rechte Gesinnung wecken sollen. Sie enthalten das Bekenntnis von “Tora vom Himmel” in den Worten [4]בא“י נותן התורה sie betonten, daß die Beschäftigung mit der Tora als ein religiöses Pflichtgebot zu betrachten ist: אשר קדשנו במצותיו וציונו
לעסוק בד“ת[5] und lassen die Bitte aussprechen, daß wir mit reinem Sinn Lernende seien: לומדי תורתך לשמ. So treten wir als Juden und im Namen G-ttes an die Lehre, die uns in wahrem Sinne eine „heilige Schrift“ ist.
Fortsetzung folgt ijH.
- Gesegnet ist Er, unser G-tt, der uns zu Seiner Ehre erschuf ↑
- und uns von den Irrenden trennte ↑
- und uns die Lehre der Wahrheit gab ↑
- Gesegnet bist Du … Der Du die Tora gibst ↑
- Der Du uns mit Deinen Geboten geheiligt hast und uns befahl, uns mit den Worten der Tora zu beschäftigen ↑