Messilat Jescharim – 6 – Über den Eifer und die Trägheit

Datum: | Autor: Rabbi Moshe Chaim Luzatto | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Träg­heit

Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.

Fortsetzung: Sechstes Kapitel.

Über den Eifer

Auf die Achtsamkeit folgt der Eifer. Die Achtsamkeit geht auf das Negative, das Verbot, der Eifer auf das Positive, das Gebot. Die beiden sind die Erfüllung des Satzes: Meide das Böse und tue das Gute. Das Wesen des Eifers ist bald festgestellt: Es ist das Streben, eiligst an die Erfüllung der Gebote zu gehen und an die Arbeit zu ihrer Vollendung. „Die Eifrigen“, sagen unsere Weisen deshalb, „gehen möglichst bald an die Erfüllung der Gebote” (Pessachim 4a). In der Tat! Wie es großer Klugheit und eines umfassenden Blickes bedarf, um sich vor den Schlingen des Jezer hora zu retten und dem Bösen zu entrinnen, dass er nicht die Herrschaft über uns gewinne und in unsere Handlungen sich mische, so bedarf es auch großer Klugheit und Sorgsamkeit nach der positiven Seite, sich die Erfüllung der Gebote zu sichern, dass sie uns nicht entgleiten. Denn ebenso wie der Jezer hora mit allen möglichen Ränken darauf ausgeht, den Menschen in die Netze der Sünde zu verstricken, so gibt er sich auch alle Mühe, ihm die Ge­legenheit zu rauben, ein Gebot zu erfüllen. Und wenn einer schlaff und träge bleibt und nicht alle Kraft zusammennimmt, ihnen nachzujagen und sie festzuhalten, dann geht er gänzlich leer aus. Bedenken wir, dass der Mensch von Natur dem Trägheitsgesetze gehorcht! Aus der groben Erde stammt seine Materie, darum sehnt er sich nicht nach Mühe und Arbeit. Wer in den Dienst Gottes sich stellen will, muss daher gegen seine eigene Natur sich ermannen, muss mit heiligem Eifer gegen sie ankämpfen. Überlässt er sich seiner natürlichen Trägheit, dann wird er es zu Nichts bringen.

So sagt der Mischnalehrer: »Sei dreist wie ein Panter, schnell wie ein Adler, behend wie ein Reh und stark wie ein Löwe, wenn es gilt, den Willen deines Vaters im Himmel zu erfüllen“ (Pirke Awot 5,23).

So haben auch unsere Weisen unter die Dinge, die einer be­sonderen Kraftentfaltung bedürfen, die Thora und die guten Werke gezählt (Brachot 32 b). Und dann steht es ja deutlich genug in der heiligen Schrift: immer und immer wieder wird Josua gemahnt: »Sei stark und fest” (Jehoschua 1,7); denn freilich der bedarf einer besonderen Stärke, wer seine Natur zwingen und ins Gegenteil verwandeln will. Und Schlomo wird nicht müde, das einzuschärfen, er erkannte die schlimme Bedeutung der Trägheit und den schweren Schaden, den sie im Gefolge hat. So sagt er: »Ja noch ein wenig Schlaf, ein wenig Schlummer, ein wenig die Hände in­einander schlagen, um zu ruhen. So kommt, wie ein Land­streicher, die Armut über dich und der Mangel, wie ein ge­wappneter Mann (Mischle 6,10).

Denn wenn auch der Träge nicht positiv Schlimmes übt, bringt er doch Unheil über sich, eben durch sein Nichtstun. Es heisst: “Schon wer sich in seiner Arbeit lässig zeigt, ist ein Bruder von dem, der zu Grunde richtet” (Mischle 18,9). Er richtet nicht selbst zu Grunde, er schafft das Unheil nicht mit eigener Hand, aber glaube nicht, dass er dem so fern steht, er ist sein Bruder, er ist sein guter Bekannter. Be­sonders trefflich erläutert er aber das Laster und Unglück des Trägen in einem Bilde, das uns tagtäglich vor Augen tritt: „Am Acker eines trägen Mannes ging ich vorüber und am Weinberg eines unverständigen Menschen; da fand sich: er war ganz in Nesseln aufgegangen, seine Oberfläche war mit Unkraut bedeckt, und seine Steinmauern waren eingerissen. Ich aber schaute, richtete meinen Sinn darauf, sah hin, nahm eine Lehre an: Ja noch ein wenig Schlaf, ein wenig Schlummer, noch ein wenig die Hände ineinander schlagen, um zu ruhen, so kommt wie ein Landstreicher die Armut über dich und der Mangel wie ein gewappneter Mann” (Mischle 24,30-34).

Der einfache Sinn ist klar, Schlomo gibt Lehren, die vor dem Felde eines trägen Menschen in ihm aufsteigen. Die Weisen geben aber daneben noch eine schöne Deutung: »Er war ganz in Nesseln auf­gegangen“, d. h. er sucht nach einer Erklärung eines Abschnitts und findet sie nicht. »Seine Oberfläche war mit Unkraut be­deckt“: Weil er sich nicht abgemüht, daher erklärt er das Reine für unrein und das Unreine für rein und reißt so den Zaun ein, den die Gelehrten aufgerichtet haben. Und die Strafe hierfür hat Schlomo angegeben: „Wer den Zaun einreißt, den wird die Schlange beißen” (Kohelet 10,8).

Das Laster der Träg­heit tritt nämlich nicht auf einmal in seiner ganzen Stärke auf, sondern entwickelt sich allmählich, ohne dass man es merkt und spürt. So wird der Träge von Stufe zu Stufe ge­zogen, bis er ganz tief in diesem Laster steckt. Zuerst will er sich nur nicht die rechte Mühe geben, das hat zur Folge, dass er nicht genügend Tora lernt, und weil er zu wenig gelernt hat, wird es ihm dann später, wenn er sich in etwas vertiefen will, an dem Verständnis fehlen. Und wenn es nun damit zu Ende wäre, so wäre das gerade genug, aber es wird noch dadurch schlimmer; dass er durchaus den betreffenden Abschnitt erklären will, so erklärt er denn in falscher Weise, verrät die Wahrheit, verkehrt sie in ihr Gegenteil, übertritt die Anordnungen, reisst die Zäune ein, und sein Ende ist der Untergang, wie es jeden trifft, der den Zaun einreisst.

Darum sagt Schlomo: Ich aber schaute, richtete meinen Sinn darauf, d. h. bei eingehender Betrachtung erkannte ich das furchtbar Schlimme daran, dass es wie ein Gift ist, das sich allmählich immer weiter ausbreitet und dessen Wirkung doch erst erkannt wird, wenn der Tod kommt: „Ja noch ein wenig Schlaf, ein wenig Schlummer usw.“ Wir erleben es so oft, dass einer, obwohl er seine Pflicht kennt und ganz genau weiss, was der Rettung seiner Seele dient, was ihm von seinem Schöpfer auferlegt ist, dass er dennoch all dies lässt, nicht aus Unkenntnis über seine Pflicht, nicht aus einem anderen Grunde, sondern weil die Trägheit ihn übermannt. Dann sagt er: Ich will noch ein wenig essen, ein wenig schlafen, oder das Aus­gehen ist mir zu beschwerlich, ich habe mich bereits aus­gezogen, wie soll ich mich wieder anziehen, es ist zu heiss, es ist zu kalt, es regnet, und was es alles für Ausreden und Vorwände gibt, die dem trägen Menschen geläufig sind; und unterdessen liegt die Tora da, der Dienst Gottes wird ver­nachlässigt, und der Mensch verlässt seinen Schöpfer.

Wie Schlomo sagt: „Infolge der Trägheit senkt sich das Gebälk, und infolge der Lässigkeit träufelt das Haus (Kohelet 10,18). Aber wenn du den Trägen fragst, dann wird er dir mit allen möglichen Aussprüchen unserer Weisen, mit Schriftworten und Verstandes­gründen kommen, die alle — nach seiner verkehrten Auf­fassung — ihm die Lehre geben, er solle es sich leicht machen und in seiner trägen Ruhe verharren. Er bedenkt nicht, dass alle diese Beweise und Gründe nicht reiflicher Erwägung ent­springen, sondern ihre Quelle in seiner Trägheit haben, die, wenn sie die Oberhand gewinnt, sein Sinnen und Denken un­merklich auf diese Beweise bringt, sodass er nicht mehr auf die Stimme der Weisen hört und auf die, die sich ein klares Denken bewahrt haben.

Der Träge, sagt Schlomo, dünkt sich “klüger als sieben, die eine verständige Antwort wissen“(Mischle 26,16). Denn seine Trägheit bringt ihn dazu, dass er gar keine Rück­sicht nimmt auf Ermahnungen, er glaubt: die anderen alle irren und verstehen nichts und er allein ist der Weise. Aber bekanntlich gibt es in der Selbstzucht eine Hauptregel, die sich bewährt hat: Jede Erleichterung bedarf einer besonderen Prüfung. Sie kann etwas Rechtes und Gutes sein, aber die Gefahr liegt immer nahe, dass sie den trügerischen Ratschlägen des Jezer entspringt, daher muss man sie ganz besonders unter die Lupe nehmen. Und wenn sie vor dieser Prüfung besteht, dann wird sie das Rechte sein.

Kurz! Es gilt, mit aller Kraft sich zu ermannen, will man eifrig sein in der Erfüllung der Gebote, will man die Trägheit, die mit ihrem Schwergewicht alles hindert, von sich abschütteln.

An den Engeln wird die Tugend des Eifers ge­rühmt. Es heisst von ihnen: ”Helden seid ihr, stark, wenn es gilt, Sein Wort zu vollführen, auf die Stimme Seines Wortes zu hören“ (Tehillim 103,20). Und ferner: „Die Wesen eilten hin und her, wie der Schein des Blitzes“ (Jecheskel 1,14). Freilich, der Mensch ist kein Engel, er kann nicht die Höhe eines Engels erreichen, aber so hoch wie möglich muss er zu steigen suchen. Und der König David rühmt sich für seinen Teil: ”Ich eilte und zögerte nicht in der Erfüllung Deiner Gebote“ (Tehillim 119,60).

übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)

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