Kapitel 4
Sechs Jahre lag Seckel Löb dem Torastudium in Frankfurt a.M. ob und erfreute sich dort der Achtung und Freundschaft der angesehensten Familien. Der Lokalpatriotismus der alten, eingesessenen Frankfurter, bei welchen der Mensch erst mit dem Frankfurter beginnt, ist bekannt. Wenn Seckel Löb, obwohl kein geborener Frankfurter, dennoch sich einer so hohen Anerkennung und Auszeichnung erfreute, dass dieses in seiner Jugendzeit geknüpfte Freundschaftsband ihn zeitlebens mit den ersten Frankfurter Familien verband, nachdem er Frankfurt längst verlassen hatte, so brauchen wir für den Kenner der damaligen Zeit dem nichts hinzuzufügen.
Diese seltene Auszeichnung unter Hunderten jugendlicher Studiengenossen beweist, dass man in dem Jüngling den einstigen großen Mann bereits zu würdigen wusste.
Ein angesehenes Mitglied der Frankfurter Gemeinde, Isaak Reiss, zeichnete ihn aus, indem er ihm seine Tochter Adelheid zur Frau gab, mit welcher er dann Frankfurt verließ, um sich in Michelstadt niederzulassen. Dort lebte er zunächst nur seinen Studien und teilte mit den Eltern Tisch und Wohnung. Doch bald verlor er seine Mutter und kurz darauf auch den Vater, so dass er im dreiundzwanzig Jahre allein mit Frau und Kindern da stand und durch die Verhältnisse gedrängt wurde, sich einem Broterwerb zuzuwenden.
Trotz Armut und ernster Erkrankung konnte er sich nicht entschließen, von der Beschäftigung mit der Tora zu lassen, ja er ließ sich ihre Verbreitung in einer Weise angelegen sein, die in ihrer Art einzig dasteht. Zum offiziellen Rabbiner des Bezirks wurde er erst 30 Jahre später (1822) ernannt. Aber auch als solcher bezog er nie ein Gehalt, sondern nur die Gebühren von Trauungen u. a. und auch diese nur zur Hälfte, aus Gründen, auf die zurückzukommen sich noch späterhin Gelegenheit finden wird.
Zum Baalschem von Michelstadt hat ihn die jüdische öffentliche Meinung gemacht.
Er selbst hat sich zeitlebens gegen diesen Titel gesträubt, hat sich nie darin gefallen, dem Wunderglauben der Massen Rechnung zu tragen, sondern lebte im Gegenteil so schlicht und plan, trat so anspruchslos einfach im Verkehr mit seiner Umgebung auf, dass man hinter diesem Auftreten alles andere eher als einen Wunderrabbi gesucht hätte.
Freilich den Seelenadel, der aus seinen klugen, milden Augen leuchtete, der jeden Zug seines edlen Angesichts verklärte, die Herzensgüte, die aus jeder Miene, die Weisheit der Tora, die aus jedem Worte sprach, diese Beweise seiner wahren, inneren Seelengröße konnte auch seine Bescheidenheit nicht tilgen. Auch die Demut unseres Lehrers Mosche konnte den Lichtstrahl nicht unterdrücken, der aus seinem Anlitz blitzte, er selbst aber wusste nichts von dem Glanze, der seine Züge verklärte.
Es war in der Tat ein wunderbares Leben, das von Rabbi Seckel Löb Wormser ausging und weit über den engen Kreis seiner örtlichen Wirksamkeit die Augen der jüdischen Gemeinden und Einzelnen auf sich zog.
Zunächst gründete er eine Talmud-Hochschule (Jeschiwa) für Jünglinge, welche sich dem Talmudstudium widmen wollten. In einem kleinen Landstädtchen wie Michelstadt, war das keine geringe Aufgabe. Er konnte von der kleinen jüdischen Gemeinde nicht einmal die Beköstigung seiner Schüler durch Freitische beanspruchen, wie es zu jener Zeit in vielen Gemeinden gang und gäbe war. Denn die Jeschiwa, welche in ihrer Blütezeit von siebzig Hörern besucht wurde, die sich von allen Ländern in Michelstadt zusammenfanden, hatte mehr Schüler als die Gemeinde Mitglieder. Sie wurden ausnahmslos im Hause des Lehrers beköstigt, soweit sie nicht aus wohlhabendem Hause stammten oder sich als Hauslehrer ihren Lebensunterhalt verdienten.
Die körperliche Nahrung wie die geistige war vollständig umsonst. Bei der Langsamkeit und Schwerfälligkeit des damaligen Verkehrs war es auch nicht leicht, wohlhabende auswärtige Kreise für dieses Unternehmen heranzuziehen. Michelstadt hatte damals noch nicht einmal eine Post. Von dem eine halbe Stunde entfernten Kreisort Erbach kam wöchentlich zweimal der Postbote nach Michelstadt. Wie oft blickte Rabbi Seckel Löb in der Richtung nach Erbach sehnsüchtig dem Briefträger entgegen, wenn die Mittel für die Erhaltung der Jeschiwa ausgegangen waren! Dass er diese Hochschule tief in den Bergen des Odenwaldes gründen, leiten und bis an sein Lebensende erhalten konnte, die Hingebung, das G-ttvertrauen und die Menschenliebe, mit derer dieses Wunderwerk zu Wege brachte, das allein hätte genügt, seinen Ruf als Wunderrabi zu rechtfertigen.
Dieser Mann, dessen Nahrung ausschließlich aus einfacher Pflanzenkost bestand, der in seinem Hause mit seiner Familie in den bescheidensten, man darf wohl sagen, ärmlichsten Verhältnissen lebte, dieser Mann speiste siebzig Jünglinge, und ausnahmslos jeden Armen, der das gastliche Haus betrat! Wie war das Wunder möglich?
Der Name von Rabbi Seckel Löb Wormser lebte auf allen Lippen, sein reines, heiliges, in Zurückgezogenheit und Enthaltsamkeit geführtes Leben lenkte die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen um so nachhaltiger auf den großen Mann, je weniger er nach der Anerkennung und dem Beifall der großen Menge strebte.
Wer mit ihm in Berührung kam, wer ihn kennen lernte, musste ihn lieben und verehren. Seine natürliche Herzensgüte, seine Lebenserfahrung und Weltweisheit gewannen ihm wie durch einen Zauber alle Geister und Gemüter. Der Gelehrte schätzte in ihm den Gelehrten. Aber der Handelsmann, der Viehhändler, der Handwerker und der Bauer waren ebenso betroffen von der Gewandtheit und Vertrautheit, die er für jeden Lebensberuf an den Tag legte. Kein Wunder, dass alle Gedrückten und Beladenen von weit und breit zu ihm kamen, um seinen Rat, sein Gebet und seine tatkräftige Hilfe zu erbitten. Seine unversiegliche Menschenliebe hatte für jeden Bittenden Teilnahme, sein heller Kopf hatte Rat für die Ratlosen und seine wackere, hilfbereite Hand stand jedem helfend und aufrichtend zur Seite. Arm und Reich, Hoch und Nieder, Gelehrte und Ungelehrte, Jude und Nichtjude, keiner hat sich je erfolglos an den Baalschem gewandt.
Einer seiner Schüler, Lazarus Blumenthal, der die Begegnisse und Erfahrungen seines reichen, überaus bewegten Lebens für seine Kinder und Enkel niedergeschrieben hat, gedenkt an einigen Stellen seines Lehrers in einer Weise, die ungemein charakteristisch ist. Herr Dr. Max Blumenthal in New York hat gelegentlich eines Besuches in Deutschland mir eine Durchsicht der Memoiren seines Vaters und eine Verwertung derjenigen Stellen gestattet, in welchen von dem Helden dieser Erzählung die Rede ist.[1]
Der uns zunächst interessierende Passus lautet:
„5065/1805. Am ersten Tage meines 15. Jahres, wanderte ich mit einem älteren Bruder Namens Meier zu Fuß, mit einem Ränzchen, worin meine Kleider und Wäsche, auf dem Rücken, nach dem Badischen über Günzburg und Nördlingen, dieses war 5065/1805. — So wanderten wir zusammen weiter über Kirchendorf gegen Heidelberg und Mannheim bis Frankfurt ohne Plan und Zweck, noch sonst wissend, was zu tun. Da ward es Herbst und die dünne Kleidung schirmte wenig vor der kalten Luft. Die Barschaft war längst zu Ende und die Existenz eine traurige, bis wir nach Sukkot Michelstadt im Odenwald erreichten.“
„Hier nahm uns der fromme, verehrenswerte Rabbi Seckel Löb auf und beredete uns mit Vaterworten, eine Stelle als Bochur bei einen Kozin mit Namen Zodik um 5 1/2 Gulden auf einen Seman (6 Monate) anzunehmen, wo ich mit drei seiner Knaben zu lernen hatte. Abends hingegen und ganze Nächte hindurch lernte ich im Hause des Rabbi Seckel Löb, der mehrere Bachurim im Hause hatte.“
„Michelstadt war ein kleines, ordentliches Städtchen mit ca. 28—20 jüdischen Familien, welche bis auf einige alle reich, aber nicht alle dem exzentrisch frommen Chosid Rabbi Seckel Löb freundlich waren.“
„Ich jedoch war am liebsten um ihn und seine Bachurim. Dieser fromme Mann war ein Wunder seiner Zeit. Lernen und nur immer lernen in Gemara und der jüdischen Theologie und Philosophie nebst Kabbala war sein Einziges, Tag und Nacht. Dabei genoss er schon seit Jahren nichts mehr was von lebenden Dingen, von דבר מן החי (Dovor min hachai). Brot, Salat und grünes Gemüse, nur in Wasser gekocht, nebst Kaffee ohne Milch, frisches Wasser war seine Kost. Die Familie aber und die Bachurim sowie wer nur sonst immer zu haben war, hatten, wenn tunlich, gewöhnlich gute Kost. Er war arm, erhielt aber von allen Seiten her und aus den großen Städten Frankfurt, Mannheim usw. fortgesetzte Zuwendungen an Geld, sowie von reichen Leuten aus Umgegend für Schiur-Lernen ein Jährliches Gewisses.“
„Auch heilte er unter G-ttes Hilfe und Beistand durch sein Kabbala in Anfertigung von Kemeos manche kranke und wahnsinnige Personen, wofür er Bezahlung annahm nach Stand der Personen, und hätte er wohl reich sein können, wenn er es gewollt hätte, da von allen Gegenden her dergl. Angelegenheiten zu ihm geschickt und Hilfe nachgesucht wurde, welche man auch fand. Allein, alles war schneller als eingenommen verausgabt, teils für Seforim, wovon er eine unglaubliche Masse hatte, teils auch verschenkt an jeden Armen, so dass sogar oft im Hause Not eintrat, wobei sich jedoch seine Zufriedenheit, seine stets frohe Miene und sein freundliches Lächeln nie veränderten.“
„Ich blieb also in Michelstadt ca 1 1/2 Jahre und ging sodann 4—5 Stunden davon in nämlicher Eigenschaft zu einem Manne Namens Mannes nach Lautenbach, für 8 Gulden den Seman (6 Monate), um seinen Kindern jüdischen Unterricht zu geben. Hier ging es etwas besser. Ich hatte mehr Nachtruhe. Allein von Michelstadt brachte ich die sogenannte Krätze mit mir und die gute Hausfrau verfertigte eine Salbe zum Einreiben. Dieses machte aber die Sache schlimmer und ich wurde am ganzen Körper und an den Beinen aufgeschwollen und sehr krank. Einige erklärten es für Wassersucht. Man dachte mich irgendwie nach Frankfurt oder sonst in ein Spital zu senden. Allein die Geschwulst kam zum Herzen, ich wurde sehr gefährlich krank.“
„Mein Bruder, welcher ebenfalls in Michelstadt noch Bochur (Lehrer) bei den Brüdern Leibche und Meierche, Söhnen des alten Parnes, war, ward geholt und fand mich dem Sterben nahe, sehr nahe. Allein G-tt half und ich sollte leben. Ich ward denselben Tag etwas besser. Mein Bruder konnte mich verlassen. Kaum war er nach Michelstadt zurückgekehrt und hatte dem Rabbi Seckel Löb berichtet, kam ein Bote mit einem Brief von diesem an meinen Prinzipal und dessen Frau.“
„Der Brief des Baalschem enthielt in den wärmsten und menschlichsten Ausdrücken die dringende Mahnung, mich bis zur völligen Wiederherstellung ja im Hause zu verpflegen, und wie sie verantwortlich seien für mein Leben.“
„Es war ein merkwürdiger Brief und er hatte die gewünschte Wirkung. Es fiel den Leuten nicht mehr ein, mich fortzulassen. Sie pflegten und warteten mich, besorgten ärztlichen Rat mit allem Ernste, so dass nur erst nach ca. sechs Wochen, als ich selbst fortverlangte, sie darin willigten.” —
„Rabbi Seckel Löb schickte mir zum Behufe des besseren Fortkommens einen herrlichen Empfehlungsbrief, an jedermann gerichtet, dass man mir allerorts beistehe, Fahrzeug oder Bote von Ort zu Ort gebe und anderes mehr bis zu meiner Heimat.“ — —
Von der Verehrung, die Rabbi Seckel Löb bei der christlichen Bevölkerung der Stadt und der Umgebung genoss, kann man nicht sprechen, ohne sich dem Verdacht der Übertreibung auszusetzen.
Aber es ist Tatsache, dass, wenn er nach einem Schreiner, Schlosser oder welchem Handwerker sonst gleichzeitig mit dem Grafen von Erbach-Fürstenau geschickt hätte, jeder erst dem „Rebbe“ — so nannte ihn die christliche Einwohnerschaft — und dann erst dem Grafen entsprochen hätte. So wahrhaft fürstlich verkehrte auch kein Graf mit den Arbeitern, wie dieser Fürst von G-ttes Gnaden. Niemals mäkelte und feilschte er um den Arbeitslohn. Er erklärte den Handwerkern im voraus, dass er ihnen zahle was sie fordern werden, auch wenn sie zu viel verlangen, „aber“ — Und sie verstanden dieses „Aber“. Sie wussten, dass sie einen Mann vor sich hatten, der die Arbeit und ihren Preis verstehe und dass er sie nicht mehr nehme, wenn sie ihn überforderten. Deshalb handelten beide Teile nobel und beiderseits fanden sie bei dieser Noblesse ihre Rechnung.
In Unglücksfällen aller Art, bei Krankheit, Verarmung, Verfolgung und Unterdrückung wandten sich die Betroffenen von weit und breit an den Baalschem von Michelstadt.
Wo sein Rat und die eigene Leistungsfähigkeit nicht ausreichten den Klagenden zu helfen, da sandte er sein heißes Gebet zum Himmel für die Unglücklichen. Dieses Gebet, von der verkörperten selbstlosen Menschenliebe an den himmlischen Vater gerichtet, verhallte nicht unerhört. Das stempelte den Edlen in den Augen der großen Masse zum Wundertäter, was er ja auch in Wirklichkeit war, wenn auch nicht in dem Sinne, wie es die durch sein Gebet Beglückten glaubten. Wenn dann die von Krankheit und Sorge jeder Art Befreiten zu ihrem Helfer kamen und sich durch reiche Geschenke dankbar zeigen wollten, so wies er für sich jede Erkenntlichkeit zurück.
Dagegen nahm er dankbar diese Spenden der Dankbarkeit für seine Schüler und alle die Armen an, die sich an ihn wandten.
Auf diese Weise brachten die Wohlhabenden von weit und breit ihre ansehnlichen Geldbeiträge und legten sie vertrauensvoll in die Hand dieses selbstlosen Verwalters. Diese schwache Hand wurde dadurch stark, den Schwachen und Fallenden helfend und schützend zur Seite zu stehen. Für seine Hochschule schickte er zudem noch jahrein jahraus Sendboten aus, welche die erforderlichen bedeutenden Mittel aus allen deutschen Gemeinden sammelten. Dadurch stand Rabbi Seckel Löb Wormser mit allen Gemeinden Deutschlands fortwährend in unmittelbarer Verbindung und der Name des Baalschem von Michelstadt schwebte auf allen Lippen.
Wie vielseitig diese Beziehung und wie innig diese Verbindung war, zeigt sich, wenn man von den unzähligen Fällen, in welchen sich Hilfesuchende an ihn wandten, einzelne herausgreift, wie es die folgenden Kapitel zu veranschaulichen suchen.
- Der Verfasser der Denkwürdigkeiten ist zu Illereichen (Bayern) im Jahre 1790 geboren und im 81. Jahr zu New-York gestorben. Er schildert in überaus anziehender Weise seine Erlebnisse von der frühesten Kindheit bis wenige Tage vor seinem Tode in jüdisch-deutscher Schrift. Der Wandertrieb des Verfassers führte diesen nach Italien, Spanien, Portugal bis nach Gibraltar, nach Malta, Sardinien, Sizilien, London und zuletzt nach Amerika, aber die Anhänglichkeit an Familie und Heimat zog ihn immer dorthin zurück. Er bekundet eine scharfe Beobachtungsgabe, große vielseitige Weltkenntnis und bei alleraufgeklärten, modernen Lebensanschauung eine tief religiös angelegte Natur. Da die Handschrift im Lauf der Jahre unleserlich geworden war, schrieb sie der Verfasser am 27. Adar 5609 (21. März 1849) zu New-York mit ergänzenden Zusätzen noch einmal nieder. ↑