Messilat Jescharim – 10 – Die Lauterkeit

Datum: | Autor: Rabbi Moshe Chaim Luzatto | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Lauterkeit

Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.

Fortsetzung

Zehnter Abschnitt. Die Lauterkeit

Lauter nennen wir den Menschen, der sich völlig frei hält von jeder schlechten Eigenschaft, von jeglicher Sünde. Es genügt hier nicht, wenn er von einer ganz klaren und erkennbaren Sünde frei bleibt, auch jede Regung des Innern muss fehlen, der etwas erlaubt dünkt, was einer echten Prüfung nicht standhält, was eine echte Prüfung als einen Ausfluss der Leidenschaft erkennt, von der das Herz noch nicht völlig geläutert ist, und auf Grund deren es die Sache leicht nimmt.

Wer sich aber von diesem Fehler befreit und jede schlimme Spur, die die Leidenschaft hinterlässt, in sich getilgt, dessen Blick gewinnt völlige Klarheit, dessen Unterscheidungsvermögen wird geschärft, die Lust kann ihm nichts vorgaukeln; was nur an Sünde streift, und mag es noch so unbedeutend sein, das erkennt er als schlecht und weist es weit von sich. Im Talmud (Sanhedrin 23a) werden „die Männer von Jerusalem, die von lauterer Gesinnung“, erwähnt. Damit sind jene vollkommenen Männer gemeint, die in ihren Handlungen auf vollkommene Reinheit sahen, dass auch nicht ein Schimmer des Bösen an ihnen hafte.

Ein Unterschied zwischen den beiden Eigenschaften der Achtsamkeit und Lauterkeit ist durchaus vorhanden, wenn die beiden auch verwandt sind.

Wer achtsam ist, der achtet auf seine Handlungen und sieht darauf, dass er keinerlei offenbare und allen erkennbare Sünde begehe. Aber er hat noch nicht soweit die Herrschaft über sich gewonnen, dass seine ursprüngliche Natur nicht einmal ihn dazu verführen könnte, Dinge für erlaubt anzusehen, deren Ungehörigkeit nicht klar zu Tage liegt.

Das ist auch verständlich. Wenn man auch noch so sehr sich bemüht, seine Triebe zu dämpfen und seine Leidenschaften zu unterdrücken, deshalb ändert man doch nicht so schnell die innerste Natur. Die Begierden kann man nicht ohne weiteres aus dem Herzen reißen, man kann sie dämpfen, sich mit Weisheit ihnen entziehen. Aber die trübe Materie behält ihr Recht, sie reizt und verführt.

Wenn man aber viele Übung in der Achtsamkeit gewonnen, so dass man den ersten Grad der Läuterung vollzogen, der von den offenbaren Sünden, wenn man sich an den Eifer im Dienste G-ttes gewöhnt und die Liebe und das Verlangen nach dem Schöpfer in sich groß gezogen hat, dann wird man kraft dieser Übung immer mehr von dem Irdischen abgezogen, richtet den Sinn immer mehr auf irdische Vollkommenheit und gelangt endlich zur vollendeten Lauterkeit. Sie löscht das Feuer irdischer Leidenschaft in seinem Herzen, die Sehnsucht nach G-tt ringt sich empor, sein Blick wird rein und lauter, sodass er sich nicht mehr betören und von der trüben Materie überwältigen lässt und in seinen Handlungen völlig geläutert wird.

Diese Tugend ist es, zu der David sich freudig bekennt, und von ihr sagt er: „Bade ich in Lauterkeit meine Hände, dann schreite ich um Deinen Altar, o G-tt!“ (Tehilim: 26,6).

In der Tat! Nur der, der sich von jedem Schimmer von Sünde und Schuld geläutert, der ist würdig, vor dem Angesicht G-ttes, des Herrn, zu erscheinen, vor dem er sonst sich voller Scham verbergen müsste, wie Esra es sagt: „Mein  G-tt, ich bin zu tief beschämt, als dass ich mein Angesicht zu Dir erheben könnte.” (Esra: 9,6) Freilich, es ist eine mühsame Arbeit, sich diese Eigenschaft vollkommen anzueignen. Denn vor den offenbaren und bekannten Vergehen kann man sich schützen, ihre schlimmen Seiten liegen klar zu Tage. Doch die sorgsame Selbstprüfung, deren es für die Lauterkeit bedarf, die ist überaus schwer. Selbsttäuschung verbirgt uns da die Sünde.

Auch unsere Weisen sagen: Gerade die Sünden, in denen man sich täglich unbemerkt bewegt, die türmen sich gegen den Menschen auf am Tage des Gerichts! (Awoda Sara 18a). Und in gleichem Sinne: die meisten Menschen sündigen gegen „Mein und Dein“, eine Minderheit durch geschlechtliche Vergehen, alle aber durch das Stäubchen der üblen Nachrede (Bawa Basra: 165a.[1]) Weil das letzte Vergehen so unscheinbar ist, darum fallen alle Menschen in seine Schlingen, sie bemerken es nicht.

David hatte sich völlig geläutert, darum zog er auch in den Krieg mit so starkem  G-ttvertrauen, konnte er um das bitten, was Jehoschafat, Assa und Chiskijahu nicht erbaten, weil sie nicht so lauter waren. Er sagt es selbst: „G-tt tue an mir nach meiner Gerechtigkeit, nach der Lauterkeit meiner Hände vergelte er mir.“ (Tehilim 18,21). Und ferner: „Wer darf betreten den Berg des Herrn, wer aufrecht stehen auf seiner heiligen Stätte? – wer rein an Händen und lauteren Herzens ist (Tehilim 24,3).

Ja, diese Eigenschaft ist schwer zu erwerben, denn die Natur des Menschen ist schwach, und sein Herz leicht betört, es ist dem Irrtum zugänglich, wo es sich um Erleichterungen handelt. Wer aber diese Eigenschaft erworben, der hat auch andererseits eine hohe Stufe erreicht, denn er hat in einem schweren Kampf gestanden und obgesiegt. – Nun zu den Einzelheiten! (s. Kapitel 11).


[1] „Das Stäubchen der üblen Nachrede“ ist ein talmudischer Begriff, der näher erklärt werden kann, aber in seiner unnachahmlichen präzisen Kürze durch eine deutsche Wendung nicht wiederzugeben ist. Man versteht darunter: Bemerkungen, die man im Gespräch über den Mitmenschen laut werden lässt, die nicht in Wirklichkeit üble Nachrede enthalten, sondern sie nur leise streifen. Näheres darüber weiter im 11. Kapitel.

übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)

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