Wochenabschnitt Wajeze – Macht das Torah-Lernen den Menschen stärker oder schwächer?

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Torah

Jakov Awinu kam nach Charan und sah, wie sich die Schafhirten mit ihren Herden um einen Brunnen versammelten. Der Brunnen war aber mit einem großen Stein zugedeckt, der nur durch die Anstrengung aller Hirten vom Platz bewegt werden konnte. Jakov kam zum Brunnen und konnte den Stein mit derselben Leichtigkeit von der Brunnenöffnung aufheben, mit der man einen Stöpsel aus einer Flasche zieht[1].

Diese gewaltige Stärke Jakovs ist etwas Besonderes, denn Chasal bemerken bekanntlich zum Passuk (Jeschaja 28,29): הִפְלִיא עֵצָה הִגְדִּיל תּוּשִׁיָּה„ER gab (uns) wunderbaren Rat und große Weisheit“ – die Torah. Weshalb wird die Torah תּוּשִׁיָּה genannt? Weil sie die Kraft des Menschen abschwächt [תַּש auf aramäisch bedeutet schwach][2]. Auch an anderen Stellen der Gemara finden wir, dass die Talmide Chachamim, die sich ausschließlich dem Torah-Lernen hingaben, als „Kranke“ bezeichnet werden[3].

Hier jedoch erzählt uns die Torah über Jakovs unglaubliche Stärke, obwohl er sich bisher nur in den Gezelten der Torah aufgehalten hatte – „Jakov war ein Mann, der in Zelten [der Torah] wohnte“ (25,27) – und außerdem kam er gerade aus der Jeschiwa von Schem und Ewer, in denen er 14 Jahre fast ohne Schlaf durchgelernt hatte[4].

Wie kann dieser (scheinbare) Widerspruch aufgelöst werden?

Ebenso finden wir einen solchen Widerspruch in der Lebensgeschichte Dawid haMelechs, der einerseits die Nächte durchlernte[5] und andererseits ein mächtiger Krieger war, der sogar mehrere Löwen und Bären erlegt hatte[6]. Auch über Bnahaju ben Jehojada berichtet der Passuk, dass er ein außergewöhnlich starker Krieger war und erzählt von seinen Heldentaten, wie er, unter anderem, einen Löwen im Schnee besiegte[7]. Andererseits berichten Chasal, dass er zum Sanhedrin gehörte und es während der ganzen Epoche des Ersten und Zweiten Bet haMikdasch keinen Talmid Chacham gab, der ihn übertreffen konnte![8]

Weshalb hat ihr Torah-Lernen sie nicht ebenfalls schwächer gemacht?

Die Antwort ist, erklärt Rav Schimon Schwob sZl., dass auch sie durch die Torah – die „Tuschija“ genannt wird – körperlich geschwächt wurden. Da sie aber die Torah in Reinheit und Heiligkeit lernten, erhielten sie anstelle ihrer natürlichen Körperkraft übernatürliche Kräfte, so wie ‚Schimschon haGibor‘, der bekanntlich auch übermenschlich stark war.

Dies galt jedoch nur in vergangenen früheren Zeiten, als die äußere Erscheinung der Menschen auch ihr Inneres widerspiegelte und nicht im Widerspruch dazu stand. Wenn die Torah über unsere Stammesmütter[9] oder über Josef haZadik bezeugt[10], dass sie „von schöner Gestalt und schönem Aussehen“ waren, so ist damit nicht nur ihre äußerliche Schönheit gemeint, sondern auch ihre inneren Werte!

Dies war nämlich der Wille von Hkb“H zu Beginn der Schöpfung des Menschen, dass bei ihm ‚Chizonijut‘ und ‚Pnimijut‘ im Einklang stehen würden. Aus diesem Grund schwächt die Torah die irdische Körperkraft, damit dieser nicht stärker als seine geistige Stärke sei. Steigt aber seine ruchanius’dige Madrega (geistiges Niveau), so erhält er dementsprechend übernatürliche Kräfte, bis Geist und Körper auf wundersame Weise wieder im Gleichgewicht sind.

Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb Kohanim, die einen ‚Mum‘ (Leibesfehler) hatten, vom Dienst im Bet haMikdasch ausgeschlossen waren[11]. Der Kohen symbolisiert den perfekten G’ttesdiener, wie es G’tt zu Beginn der Schöpfung plante.

Die späteren Generationen jedoch verloren diese Ausgewogenheit, denn ihr Äußeres steht oft im Gegensatz zu ihrem Inneren.

Der Schein trügt: Der eine sieht aus wie der größte Zadik und Heilige, obwohl er in Wirklichkeit ein Betrüger und Scharlatan ist. Der andere hingegen sieht wie ein ‚Nichts‘ aus, macht den Eindruck eines unwissenden und einfachen Mannes (Am ha’Aretz), aber sein Inneres ist rein und lauter, seine Eigenschaften edel und bescheiden, seine Neschama brennt und flackert G’tt entgegen und seine Torah-Kenntnisse umfangreich und tief. Er ist wie ein einfaches irdenes Gefäß, das überraschenderweise den allerbesten Wein enthält.

Sicher gibt es noch ab und zu Ausnahmen, bei denen ihre herrliche und strahlende äußere Erscheinung ihr heiliges Innere genau widerspiegelt. Diese außergewöhnlichen Zadikim – wie z.B. Rabbi Jochanan – werden in der Gemara „שְׁפִירִי יְרוּשָׁלַיִם“ – „die Schönen Jeruschalajims“ genannt[12], weil die Heilige Stadt Jeruschalajim „קַרְתָּא דְּשׁוּפְרַיָא“ [13] – die „Stadt aller Schönheit“ ist[14].

Deshalb berichtet uns die Torah über die außergewöhnliche Körperkraft von Jakov Awinu, damit wir uns ein Bild von seiner gewaltigen geistigen Höhe und Heiligkeit machen können, die er sich bis dahin angeeignet hatte.

Kein Wunder, dass er trotz seines 20-jährigen Aufenthaltes im Hause Lawans nicht im Geringsten von dem Erzbetrüger und Götzendiener negativ beeinflusst wurde. Er hatte sich zuvor gut vorbereitet und konnte selbst im Haus dieses Frevlers den Grundstein des Klall Jisrael errichten – die heiligen 12 Stammesväter. Ja, sogar den Fürsten (Mal’ach) Esavs besiegte er und erhielt den Namen „Jisra-el“. Denn „Jaschar-Kel“, Jakovs Äußerlichkeit war gerade und ausgewogen mit G’tt, mit seinem Inneren, seiner Verbundenheit mit Haschem.

  1. Raschi Bereschit 29,10 gemäss Midrasch Bereschit Rabba 70,12
  2. Sanhedrin 26b
  3. Siehe Nedarim 49a-b
  4. Siehe Raschi 28,11 und 28,9
  5. Siehe Berachot 3b. Siehe ferner Midrasch haGadol Schmot 35,1
  6. Schmuel-1/ 17,34-36
  7. Schmuel-2/23,20-21
  8. Berachot 4a und 18b
  9. Bereschit 12,11; 24,16 und 29,16
  10. ibid. 39,6
  11. Siehe Wajikra 21,17-18
  12. Baba Mezia 84a
  13. Siehe Tehilim 48,3 und Kiduschin 49b
  14. Gemäß Sefer ‘Mayan Bet haSchoewa’

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