Zielsetzung

Datum: | Autor: Rav Schlomo Wolbe | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Liebe

Tora führt den Menschen zur Ganzheit. Die wesentlichen Momente der Ganzheit sind uns als Mizwot gegeben. Vollkommenheit ist aber kein abstraktes Ideal. Sie ist ein durchaus Reales, Erreichbares. Sie hat verschiedene Stufen. Auf jeder Stufe ist schon eine Form der Ganzheit verwirklicht. Wir lernen hier einen neuen Teil der Tora kennen: die Stufenlehre.

Wir erwähnen einige Beispiele:

1. JIR’A

Die unterste Stufe: „Gewissheit in Seiner Furcht und Ergriffenwerden von Ihm, und nicht sein wie die Leugner, die nach ihrem Gutdünken leben.“[1] Abscheu vor dem Menschen der Straße, wo Muskel und Gier herrschen — das ist schon Jir’a!

Höchste Stufe: „….Dass Seine Jir‘a euer Gesicht präge und ihr nicht mehr sündigen könnt.“[2]

2. LIEBE

Die erste Stufe: „Sich versenken in Sein Wort und Sein Werk, bis wir Ihn erreichen[3] und über das Erreichen vollständig glücklich sein — das ist die von uns erwartete Liebe.“[4] Das ist im Bereich unseres Könnens; über die Versenkung — später in diesem Teil. Glücklichsein mit dem Erreichten — das können wir auch, sei es in einem tiefen Verstehen eines Wortes der Tora, sei es im Aufbrechen G-ttlicher Wahrheit in unserer Erkenntnis. Das ist Liebe!

Höchste Stufe: «Liebe Haschem deinen G-tt mit Hingabe von Herz, Leben und Vermögen!“[5]

3. UMKEHR

Die unterste Stufe: „Wer einer Frau Kiduschin gibt unter der Voraussetzung, dass er fromm ist — obwohl er ein vollständiger Bösewicht ist, gelten die Kiduschin zweifels- halber, denn vielleicht hat er im Herzen an Umkehr gedacht.“[6] Ein Gedanke an Teschuwa heißt schon Teschuwa!

Höchste Stufe: Vollständiger Abbruch mit der Sünde, wirkliche Reue, fester Entschluss zur Besserung für die Zukunft und konsequentes Ausführen.[7]

4. D’WEKUT (Untrennbarkeit von Haschem)

Die erste Stufe: „Sich Gelehrten annähern, ihnen verbunden sein, ständig mit ihnen zusammen sein in aller Selbstarbeit, im Essen, Trinken und Handeln, damit wir ihnen ähnlich werden in unserem Tun und zur Wahrheit kommen durch die Unterhaltung mit ihnen. Das meint Haschem mit dem Gebot: ‘Sei mit Ihm untrennbar verbunden.‘“[8] Diese Art D‘wekut sollte Jedem von uns möglich sein.

Höchste Stufe: „D‘wekut umfasst ständiges Denken an Ihn, Ihn lieben, die Gedanken nicht abwenden von Ihm im Gehen, Liegen und Aufstehen — soweit, dass man mit Menschen spricht mit dem Mund, aber das Herz ist nicht mit ihnen — es ist vor Haschem. Menschen dieser Stufe sind Sitz der Schechina, und ihre Seele eingebunden im Bund des Lebens.“[9]

Das sind Beispiele für verschiedene Stufen eines Gegenstandes. Nun gibt es Stufenleitern, die von einem Gegenstand zum zweiten führen. Die klassische Stufenleiter stellt der Talmud selbst auf — hier ihr Wortlaut. Aber der Leser möge Nachsicht haben: die deutschen Begriffe von Eigenschaften haben etwas Kleinbürgerliches an sich, sie haben alle den Geruch von alten Kleidern, während sie im Hebräischen Klang und Farbe haben. Der deutsche Sprachgeist steht den Details menschlicher Vollkommenheit recht hilflos gegenüber…..Also: „Tora führt zu Vorsicht. Vorsicht führt zu Fleiß, Fleiß zu (ethischer) Sauberkeit, diese zur Reinheit. Reinheit bewirkt Enthaltsamkeit. Enthaltsamkeit bringt zu Chassidut, diese zu Demut, diese zur Furcht vor Sünde und diese zur Heiligkeit. Von der Heiligkeit kommt man zu übernatürlicher Geisteskraft und diese befähigt zur Aufweckung von Toten.“[10]

Uns sind viele Stufenleitern bekannt, die unsere Großen aufgestellt und erstiegen haben, jede eine von ihnen eine Art Fortsetzung von Jakows Traum der „Leiter, auf die Erde gestellt, deren Spitze den Himmel berührt.“[11]

Zwei Beispiele:

R. Jehudah Halevi im Kusari: „Unsere Tora ist eingeteilt in Jir‘a, Liebe, Freude — nähere dich deinem G-tt auf jedem dieser drei Wege. Deine Zerknirschung am Fasttage ist G-tt nicht näher als deine Freude am Schabbat und am Festtag!“[12]

Ramban: „Führe dich, alles was du zu sagen hast, ruhig zu sagen, zu jedermann und jederzeit. Dadurch wirst du bewahrt vor Zorn, der schlechten Eigenschaft, die den Menschen zur Sünde bringt. Wenn du vom Zürnen befreit bist, wird in deinem Herzen die Demut aufsteigen — die beste aller guten Eigenschaften. In Folge der Demut wird in deinem Herzen die Jir’a aufsteigen… Mit diesen Eigenschaften wirst du froh sein mit dem was du hast. Und wenn du dich mit Demut führst, wird auf dir die Schechina ruhen.“[13]

Wir sehen: wer geglaubt hat, dass die Tora nur ein fester Bau von Mizwot und Halachot ist, der irrt. Innerhalb des festen Rahmens pulsiert das Leben, findet jeder seine Himmelsleiter, findet jeder zu sich selbst. Das ist die Avodah, die Selbstarbeit, von der in diesem Teil die Rede sein wird.

  1. Rambam, Sefer Hamizwot, Gebote Abschnitt 4
  2. Schemot 20,20
  3. Das “Erreichen”, השגה, ist ein komplizierter geistig-seelischer Vorgang, in dem der Mensch zur Klarheit kommt mit einer Bestimmtheit, die jeden Zweifel ausschließt. Er dürfte am besten verstanden sein als Wesensschau.
  4. Rambam Sefer Hamizwot, Gebote Abschnitt 3
  5. Dewarim 6,5
  6. Talmud Kiduschin 49b
  7. Rambam, Jad Hachasaka, Hilchot Teschuwa Kapitel 2,2
  8. Rambam, Sefer Hamizwot, Gebote Abschnitt 6
  9. Dewarim 11,22
  10. Talmud Awoda Zara 20b
  11. Bereschit 18,12
  12. Jehuda Halevi, Kuzari, 2. Buch Kapitel 50
  13. Ramban, Iggeret Hamussar

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