Obwohl in der Torah auf den Passuk „Schema Jisrael“ gleich der Passuk „we’Ahawta et Haschem Elokecha“ folgt (Dewarim 6,4-5), fügen wir bei „Keriat Schema“ den Satz von „Baruch Schem kewod Malchuto…“ zwischen die Pssukim ein.
Über den Ursprung dieses Satzes berichtet der Midrasch an dieser Stelle Folgendes: „Als Mosche Rabenu zum Himmel aufstieg, um die Torah zu empfangen, hörte er, wie die Mal’achim Hkb“H lobten: „Baruch Schem kewod Malchuto leOlam wa’ed” – „Gelobt sei der Name der Ehre (Herrlichkeit) Seines Reiches auf immer und ewig”. Daraufhin übergab Mosche diese Lobpreisung an Jisrael, damit sie diese fortan verwendeten. Sie sagen es jedoch nur ganz leise, damit die Mal’achim nicht eifersüchtig werden“[1].
Auf ähnliche Weise erklären die Ba’ale haTosfot, weshalb das „Kadisch-Gebet” in der aramäischen Sprache verfasst wurde und nicht in ‚Laschon haKodesch‘:
Damit nämlich die Mal’achim nicht auf Jisrael eifersüchtig werden, die eine so schöne Tefila sagen.
Die Ba’ale haTosfot sind jedoch mit dieser Erklärung nicht zufrieden, weil es auch noch viele andere schöne Tefilot gibt, die von Jisrael auf Laschon haKodesch gesagt werden.
Raw Jakov Kaminetzky sZl. möchte dies mit einem Zitat aus der Gemara erklären, die Folgendes erzählt: „Rabbi Jossi befand sich einst auf der Reise. Als die Zeit der Tefila kam, betrat er eine Ruine, um dort ungestört beten zu können. Dort hörte er eine ‚Bat Kol‘ (himmlische Stimme) die sprach: „Wehe ist den Söhnen, die durch ihre Sünden die Zerstörung meines Hauses – das Bet haMikdasch – verursacht haben!“ Als Rabbi Jossi seine Tefila beendet hatte und aus der Ruine trat, traf er Elijahu haNawi, der ihn zurechtwies, weil er sich in Lebensgefahr begeben hatte. Danach fragte er Rabbi Jossi, ob er dort etwas gehört habe und als dieser ihm berichtete, was er gehört habe, erzählte ihm Elijahu haNawi, dass die ‚Schechina haKedoscha‘ dreimal am Tag die Zerstörung des Bet haMikdasch auf diese Weise beklagt. „Außerdem, sagt Hkb“H jedes Mal, wenn Jisrael im Kadisch „Jehej schmej Rabba“ ausrufen:
„Gelobt ist der König, der in seinem Haus gelobt wird…“[2].
Wenn wir den Ausruf von יְהֵא שְׁמֵיהּ רַבָּא מְבָרַךְ לְעָלַם וּלְעָלְמֵי עָלְמַיָּא betrachten, was übersetzt „Sein großer Name sei gepriesen immer und ewig“ heißt, so fällt auf, dass dies eigentlich das genau gleiche Lob wie das erwähnte בָּרוּךְ שֵׁם כְּבוֹד מַלְכוּתוֹ לְעוֹלָם וָעֶד ist, jedoch mit dem Unterschied, dass hier die Worte „Kewod Malchuto” – „die Ehre Seines Reiches” fehlen.
Chasal machen in der Gemara auf einen Widerspruch in den Psukim der Newi’im (Propheten) aufmerksam. An einer Stelle heißt es (Jeschaja 6,2), dass jeder Mal’ach sechs Flügel besitzt, während an einer anderen Stelle (Jecheskel 1,6) nur von vier Flügel die Rede ist. Sie erklären, dass die Mal’achim zur Zeit des Bet haMikdasch sechs Flügel besaßen, aber nach dessen Zerstörung ‚kibejachol‘ (sozusagen) zwei Flügel, mit denen sie zuvor „Schira“ (Loblieder) sagten, einbüßten[3].
Der Wilnaer Gaon sZl. erklärte dies folgendermaßen: „Zur Zeit des Bet haMikdasch wurde G’ttes Ehre und Herrlichkeit vom Klall Jisrael durch ihre ‚Awodat haKodesch‘ (heiliger Tempeldienst) auf der ganzen Welt offenbart und verherrlicht. Mit der Zerstörung des Bet haMikdasch ging diese Offenbarung leider verloren und somit wurde G’ttes Lob auf Erden vermindert, was mit dem Fehlen dieser beiden Flügel symbolisiert wird, die mit denen ‘Schira‘ sagten. Die sechs Flügel entsprechen den sechs Wörter von „Baruch Schem kewod Malchuto leOlam wa‘ed“, die fehlenden zwei Flügel entsprechen somit die beiden Worte „Kewod Malchuto“, der „Offenbarung des G’ttlichen Ehre”, die im Galut fehlt.
Da es uns heute leider nicht mehr vergönnt ist, an den „Schalosch Regalim” das Bet haMikdasch zu besuchen, bitten wir an den Jamim Tovim in der Tefilat Mussaf:
„אָבִינוּ מַלְכֵּנוּ גַּלֵּה כְּבוֹד מַלְכוּתְךָ עָלֵינוּ מְהֵרָה ” – „Offenbare die Ehre Deines Reiches bald über uns…“. Wir bitten hier um die baldige Rückkehr der Offenbarung des „Kawod Schamajim“ auf Erden, die mit dem Bau des ‚Dritten Bet haMikdasch‘ verbunden ist.
Somit verstehen wir, weshalb Hkb“H dreimal am Tag die Zerstörung des Bet haMikdasch beklagt. Denn obwohl der Klall Jisrael dreimal am Tag ihre Tefilot an Hkb“H richtet, und diese ja bekanntlich an die Stelle der ‘Korbanot’ (Opfer) traten, fehlt dennoch die Offenbarung des „Kawod Malchuto“ auf der Erde, da die „Awodat haKodesch” im Bet haMikdasch nicht völlig ersetzt werden kann. Während der Klall Jisrael also G’ttes Namen mit „Jehej Schmej Rabba“ preist, erwähnt er dabei nicht die Worte „Kawod Malchuto“, denn obwohl auch heute im ‚Galut‘ (Exil) der Name von Hkb“H gepriesen wird, fehlt die Hauptsache – die Offenbarung Seiner Herrlichkeit auf der ganzen Erde, das „Galej Kewod Malchutcha alenu“.
Deshalb kommentiert Hkb“H jeweils dieses von Jisrael gesagte Lob und sagt:
„Gelobt ist der König, der in seinem Haus gelobt wird…“. Denn als Haschem noch in seinem Bet haMikdasch gelobt wurde, wurde Seine Ehre überall auf der Erde offenbart und gepriesen.
Aus diesem Grund wird das Kadisch mit „Jehej Schmej Rabba“ nur auf aramäisch, und das in Laschon haKodesch abgefasste „Baruch Schem kewod Malchuto“ nur leise gesagt, weil wir insbesondere bei diesen beiden Tefilot die Kin’ah (Neid) der Mal’achim befürchten müssen, weil wir zuerst ihr Lob “gestohlen” haben und danach den Verlust dieser „Offenbarung der G’ttlichen Ehre” durch unsere Sünden verursacht haben.
Es ist daher unsere heutige Aufgabe, diese fehlende Offenbarung des „Kawot Malchuto“ wieder herzustellen.
Raw Kaminetzky folgt diesem Gedankengang, und kommentiert die Erklärung der Gemara zu diesem Thema, die sich über die Einwohner Jeruschalajims wundert, die zur Zeit des ‚Churban haBajit‘ lebten und selbst in den Jahren der Zerstörung auf vorbildliche Weise „Medakdek beMizwot“ (bestrebt, die Gebote aufs Genaueste auszuführen) waren – und dennoch bestraft wurden. Chasal antworten darauf, dass sie nicht um das zerstörte Jeruschalajim trauerten[4]. Wie ist ihre fehlende Trauer über das Bet haMikdasch zu verstehen? Sie hatten doch selber dessen große Ehre und Heiligkeit miterlebt und galten außerdem als Zadikim!
Sicher trauerten auch sie wie wir über diesen Verlust, doch es fehlte die Tefila und das innige Hoffen auf die Rückkehr der Offenbarung des „Kawod Haschem“ (Ehre G’ttes), wie es zur Zeit des Bet haMikdasch gewesen war. Sie spürten die „Schechinta beGaluta“ nicht, den Schmerz des aus Seinem Palast vertriebenen Königs, das Fehlen Seines Lobpreisens, dass Er nicht mehr dort gelobt und so Seine Ehre auf der ganzen Welt offenbart wird. Sie verstanden nicht, was der echte Verlust des Bet haMikdasch war und begnügten sich mit ihrem Torah-Lernen und ‚Kijum haMizwot‘, statt sich auch um die Wiederherstellung des „Kawod Schamajim“ zu sorgen.
Wenn wir also auf den ‚Churban haBajit‘ trauern, so sollte dies nicht etwa (nur) deshalb geschehen, weil wir geistige und materielle Verluste erlitten haben, sondern hauptsächlich und in erster Linie wegen dem Fehlen des „Kawod Schamajim”![5]
Auf diese Weise können vielleicht auch die bekannten Worte des Nawi der dieswöchigen ‚Haftara‘ gedeutet werden:
„Nachamu nachamu Ami…” – „Tröstet, tröstet Mein Volk, spricht euer G’tt. Redet zum Herzen Jeruschalajims und ruft ihm zu, dass seine Schuld gesühnt ist… Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt für Haschem einen Weg, ebnet in der Steppe eine Straße für unsere G’tt… Und offenbart wird die Majestät von Haschem, und alles Fleisch wird zusammen sehen, dass der Mund von Haschem gesprochen hat“.
Wann und womit kann sich der Klall Jisrael über die Zerstörung des Bet haMikdasch trösten? Wann wird man den Ruinen Jeruschalajims zurufen können, dass ihre Schuld gesühnt sei? Darauf antwortete die Stimme G’ttes: „Wenn überall auf der Welt, ob in der Wüste oder in der Steppe, in Tälern oder Berge, ein Weg und eine gerade Straße für Hkb“H errichtet wird, der verloren gegangene „Kawod Schamajim“ wieder überall verbreitet wird. Und zwar so wie in den Tagen, als das Bet haMikdasch noch stand, als ”alles Fleisch” – selbst die Völker der Welt die Herrlichkeit und Majestät G’ttes erkannten und Seine Worte vernahmen. Wenn diese Offenbarung des „Kewod Malchuto“ wieder hergestellt ist, und das Bet haMikdasch wieder erbaut wurde, erst dann kann sich der Klall Jisrael richtig über seine Vergangenheit trösten.