„וְהוֹצֵאתִי אֶתְכֶם מִתַּחַת סִבְלֹת מִצְרַיִם” – „Ich werde euch unter den Lasten der Mizrim hinausführen“ (6,6).
Chasal berichten, dass bis zum Auszug der Bne Jisrael aus Mizrajim es noch nie einem Sklaven die Flucht aus diesem Land gelungen sei[1] (ausser den ‘Bne Efrajim’). Laut der wörtlichen Erklärung sind damit physische Sicherungsmaßnahmen wie z.B. starke Festungsmauern und eine intensive Bewachung der Grenze gemeint.
Im Sohar haKadosch hingegen steht, dass die Mizrim ihre Gefangenen durch Zauberei an der Flucht hinderten[2].
Rabbi Mordechai Josef Leiner sZl., der Izhbitzer Rebbe, erklärt diese Ausbruchsicherheit aber auf eine rein massenpsychologische Weise: Die Ägypter konnten bei ihren Sklaven den Eindruck erwecken, dass sie ein angenehmes Leben haben und dass ihre Arbeit und ihre Lebensumstände die besten waren, die es auf der Welt gibt. Diese Propaganda war so stark, dass überhaupt niemand aus seiner Gefangenschaft flüchten wollte!
Dadurch verstehen wir die in den Sefarim haKedoschim häufig zitierte Aussage, wonach sich die Bne Jisrael in Mizrajim in einem „Galut haDa’at“ befanden. Der menschliche Verstand befand sich im Exil, er reagierte infolge der ägyptischen Gehirnwäsche nur noch wie ein Roboter, der jeden Befehl ausführt, ohne von Gefühlen oder geistigen Bedürfnissen beeinflusst zu sein. Dies passt zu dem bereits erwähnten Gleichnis von Chasal über den damaligen Zustand des jüdischen Volkes: „Die Bne Jisrael waren wie ein ungeborenes Kalb, dass sich noch im Mutterleib der Kuh befindet”[3]. Wie das im Mutterleib eingeschlossene und unbewegliche Embryo, war Jisrael im ‘Galut Mizrajim‘ völlig eingeschlossen.
Sie konnten nicht einmal selbstständig denken und sich Gedanken über den Sinn ihres Daseins machen.
In diesem Sinn erklärt der Chidusche haRim, der erste Rebbe von Gur sZl., den erwähnten Passuk: „weHozeti etchem mi‘tachat Siwlot Mizrajim” – „Ich werde euch unter den Lasten der Mizrim hinausführen“. Das schlimmste Übel am Galut ist die Unbekümmertheit, von der die Jehudim betroffen waren. Diese führte dazu, dass ihnen alles ganz egal war. Jeder hatte sich schon so sehr an das Galut gewöhnt, dass ihn nichts mehr daran störte! Daher sagte Hkb”H: „Ich werde euch aus den „Siwlot Mizrajim“ hinausführen, aus eurer Angewohnheit die Mizrim zu tolerieren [er bringt das Nomen „Siwlot“ mit dem Verb „sawal“ – “ertragen” – in Verbindung].
Aus diesem Grund verstärkte Haschem die Versklavung der Jehudim zuletzt um ein Vielfaches, wobei die Mizrim ihnen nicht mal mehr Stroh für die Ziegelherstellung gaben; Sie mussten nun selber Stroh sammeln und auch noch dieselbe Menge an Ziegeln wie bisher produzieren (5,7-14). Mosche Rabenu beklagte sich darüber bei Hkb“H (5,22-23), weil er dies nicht verstand: Er war doch zu Par’oh geschickt worden, um der Sklaverei ein Ende zu setzen, und erreichte dabei genau das Gegenteil – sie wurde viel schlimmer!
Deshalb erklärte ihm Haschem, dass die Erlösung nicht stattfinden könne, wenn niemand sie wünscht.
Solange die Bne Jisrael sich noch immer in der Phantasiewelt der Mizrim bewegen und nicht die leiseste Ahnung von etwas Besserem hatten, konnten sie sich nichts anderes wünschen. Sie konnten deshalb auch keine Änderung in ihrem Leben bewirken, weder physisch noch geistig.
Das Ziel der „Zehn Makot“ (Plagen) war es daher, die Bne Jisrael aus ihrem Schlaf zu rütteln, in ihnen den Drang nach einem anderen, besseren und höheren Leben zu wecken, damit sie die Wand ihres eigenen Gefängnisses durchbrechen konnten. Deshalb war der erste der „vier Ausdrücke der Erlösung“ – „weHozeti“ – das Hinausführen aus den „Siwlot Mizrajim“. Die totale physische Freiheit erreichte Jisrael zwar erst beim Auszug aus Ägypten, als sie die vierte Stufe der Erlösung erlangten. Doch zuvor musste ihnen der Ausbruch aus ihren geistigen Gefängnismauern gelingen.
Dies war der erste Schritt zur Ge’ula und zugleich der wichtigste Schritt, da ohne dieses Abschütteln der geistigen Fesseln sie nie ihren niedrigen Zustand begriffen hätten und somit überhaupt nicht ihre Freiheit erlangen wollten!
Aus diesem Grund beginnen auch die ‘Asseret haDibrot‘, die „Zehn Gebote“, mit denen sich G’tt dem jüdischen Volk in direkter Weise offenbarte, mit den einleitenden Worten (20,1): „Anochi Haschem Elokecha, ascher hozeticha me’Erez Mizrajim” – „Ich bin G’tt, der dich aus Ägypten herausgeführt hat“. Wieso sagte Haschem nicht: „Ich bin G’tt, der dich erschaffen hat“, fragt der Ibn Esra, „da dies eigentlich eine viel größere Leistung ist?” Die Antwort ist, dass weder Jisrael selber, noch ihre Geburt deren Kontakt zu Haschem hergestellt hat. Es war Hkb”H selber, der sie in Mizrajim wachgerüttelt und sie aus ihrer geistigen Finsternis ins Licht der Wahrheit gezerrt hatte und sich ihnen zu erkennen gab. Deshalb betonen wir bei unseren Tefilot und Mizwot immer wieder „Jeziat Mizrajim“, da dies unser geistiges Fundament darstellt, als wir uns von unseren „Siwlot Mizrajim“ befreien konnten und G’tt anerkannten!
Auch in der heutigen Zeit, der Generation vor dem Kommen des ‘Moschiach’ (עִקְבְתָא דִּמְשִׁיחָא), liegt es an uns, uns selbst aus unserem Traumgebilde zu lösen und uns nicht an die Umstände des Galut zu gewöhnen. „kiJeme zetcha me’Erez Mizraim ar‘enu Niflaot” – „So wie in den Tagen, als du aus Mizrajim gezogen bist, werde Ich dir (beim Kommen des Moschiach) Wunder zeigen“, sagt der Nawi Micha (7,15). Auch unsere heutige Erlösung kann nicht stattfinden, wenn niemand an ihr interessiert ist und kein Bedürfnis nach einer solchen empfunden wird!
- Mechilta und Raschi Schmot 18,9 ↑
- Bd2/S.25a und 37b. Siehe auch Ibn Esra Schmot 14,2 ↑
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Siehe in meinem Artikel zu Parschat Schmot ↑