Von der Redaktion – Raw Jerachmiel Eliyahu Botschko SZL war ein Talmid der Jeschiwot Lomzha und Nowardok, Gründer und Rosch Jeschiwa der Jeschiwat Montreux in der Schweiz. Die aus den Herzenswunden fliessenden Worte schrieb er zur Zeit der Grossen Katatrophe des europäischen Judentums.
Wer aber denkt, dass diese Worte für uns heute nicht genauso gelten, ist im grossen Irrtum. Sie sind nicht minder, sondern vielleicht noch mehr aktuell. So der Verfasser: “Das jüdische Haus steht in Flammen. Es gibt nur eine Rettung, und zwar die völlige Rückkehr zur Tora.”
1. Der Talmud lehrt uns:
אִם רוֹאֶה אָדָם יִסּוּרִים בָּאִים עָלָיו יְפַשְׁפֵּשׁ בְּמַעֲשָׂיו.
„Stürmen Leiden auf den Menschen ein, so untersuche er seinen Lebenswandel.
פִּשְׁפֵּשׁ וְלֹא מָצָא, יִתְלֶה בְּבִטּוּל תּוֹרָה.
Fand er aber in seinem Tun nichts Unrechtes, so führe er die Strafe auf die Vernachlässigung der Tora zurück.“[1]
יִתְלֶה בְּבִטּוּל תּוֹרָה
Man sucht heute in jüdischen Kreisen vielfach nach dem Grunde der Leiden, sucht und findet nicht, obwohl das Nichtfinden nicht recht vereinbar ist mit dem bekannten Satze: „אֵין צַדִּיק בָּאָרֶץ אֲשֶׁר יַעֲשֶׂה טּוֹב וְלֹא יֶחֱטָא.“ „Keiner ist so gerecht auf Erden, daß er nur Gutes getan und nie eine Sünde begangen hätte.“ Allein das יִתְלֶה בְּבִטּוּל תּוֹרָה (Vernachlässigung der Tora) gibt uns heute mehr denn je Antwort auf alle Fragen nach dem Wieso und Warum.
Wer sich von der heiligen Lehre entfernt hat, dem fehlt auch der Maßstab für das religiöse und jüdische Gut und Böse.
Wer nicht im Lichte der Tora wandelt, kann bei der Revision seines Lebenswandels nichts finden. So wie wir in dunkler Nacht, bei ausgelöschten Lichtern, nicht unterscheiden können zwischen Schwarz und Weiß. Wie sollte man etwas finden, wenn man den
Schlüssel zu den Kammern, wo etwas zu finden ist, vermißt? Das ist wohl der tiefere Sinn des Talmudsatzes „Er sucht und findet nicht“. Dann führe er es — nicht die Leiden, sondern das Nichtfinden — auf die Entfernung von der Tora zurück.
Wir alle, nicht allein die liberalen Juden, müßten uns auf die Brust schlagen und uns der Sünde der Vernachlässigung der Tora zeihen. Generationen hindurch haben wir unsere alte heilige Tora für eine neue Lehre hergegeben, wir verließen das Bet Hamidrasch und hingen uns an das schöne Gewand der Bildung, hüteten alle Weinberge, nur den eigenen nicht, dem doch, unserem jüdischen Berufe nach, „die Gedanken des Tages und der Nacht“ gehören sollten.
Unsere akademische Jugend kannte sich glänzend auf den verschlungenen Wegen aller Weltwissenschaften aus, nur nicht in den Gedankengängen von Abaje und Rowo.
Die Sprache der Tora wurde einem großen Teil der westlichen Judenheit zu einer Fremdsprache, die Tora selbst zu einem Buch mit sieben Siegeln dessen Studium man als Ballast den bildungsbeflissenen Söhnen nicht mehr zumuten konnte. Wer noch in die Hallen des Talmud trat, mußte, so glaubte man, notwendig aus den Hallen der Kultur austreten und wurde als weltfremder Idealist betrachtet.
Nun aber, da man uns von außen die Pforten der Kultur zugeschlagen hat[2], wäre es doch an der Zeit, daß wir unsere Schuld bekennen, Schuld und Schicksal: Die Vernachlässigung des Torastudiums und das Unvermögen, unser Leben nach jüdischen Gesichtspunkten einzurichten infolge unserer Toraentfremdung.
Die Schuld einsehen, heißt sie tilgen.
Tilgen können wir nur die Schuld durch Rückkehr in die Hallen der Tora, durch Entfachung einer religiösen Bewegung für Tora und Mussar. Und gerade die Gesetzestreuen, die früher schon Toraluft atmeten, haben heute die dringende Pflicht, denjenigen den Rettungsanker der Tora zu reichen, die zwischen zwei Kulturen im Dunkeln nach einem Auswege verzweifelt tappen.
Es gilt, der Erkenntnis zum Siege zu verhelfen, daß es ohne Tora kein Judentum, ohne Studium der Tora an der Quelle kein Judesein in Leben, Tat und Denken geben kann. Und rüstet man sich gar für ein künftiges Leben in Eretz Jisrael, so muß der Umwandlung eine „geistige Hachschara“ für קְדוּשַּׁת הָאָרֶץ vorangehen. Diese geistige Rüstung kann aber einzig und allein nur in der Stätte gewonnen werden, deren ganze Zeit und ganzes Programm von Tora und Mussar beherrscht wird, in der Jeschiwa!
Von Rabbi Akiwa erzählt der Talmud, daß er einst auf einer Seereise in einen schweren Wirbelsturm geriet.
Als die Katastrophe losbrach und das Schiff durch die brandenden Wogen in die Tiefe gezogen wurde, da klammerte er sich an ein „Daf“ (ein schwimmendes Holzbrett) und erreichte so das Ufer. Auch wir sind heute von schweren Klippen umringt und einzig das „Toradaf“ (Daf heißt Brett und gleichzeitig Buchseite) kann unser Rettungsanker sein, und nur durch die- ses werden wir jeglicher Gefahr entrinnen können. Alle Propheten und alle Verfasser von Mussarwerken haben einmütig diesen Gedanken vertreten. Tora oder Untergang! וּבָחַרְתָּ בַּחַיִּים – wähle das Leben!
Wir stehen an einem Wendepunkt.
Noch nie war die jüdische Lage so ernst und so kritisch wie heute. Auf unsere Frage: Warum? — Warum werden wir von allen Seiten so hart bedrängt und sehen gar keine Rettung, finden wir eine Antwort im Jomkippur-Machsor: „עַל חֵטְא שָׁחַטְנוּ לְפָנֶיךָ!“ Weil wir uns von G-tt abgekehrt haben! Kehren wir aber zum richtigen Weg um, zu G-tt, zur Tora, zum Sinai, dann werden wir wieder Wunder erleben und Jisrael wird von seinem Leiden erlöst.
„Er wird sich unser erbarmen, unsere Schuld unterdrücken; in die Tiefe des Meeres wirst du all ihre Sünden werfen.“[3]
2. Die tapfere Mutter und ihre 7 Akedot…
Wir finden eine sinnreiche Talmudstelle im Traktat Gittin[4], die uns in der Stunde schwerer Verfolgung eine wackere jüdische Frau als Heldin vorführte. Es war dies Channa mit ihren sieben Söhnen. Sie wurden alle vor den König geführt und unter Todesandrohung zur Aufgabe ihres Glaubens gezwungen.
Jedoch — es siegte das Buch über das Schwert; mit unvergleichlichem Todesmut wiesen sie, einer nach dem andern, dieses Ansinnen zurück. Lieber werden sie ihren Körper als ihre Seele opfern, lieber werden sie zusammen in den Tod gehen, als den Glauben ihrer Väter preisgeben.
Alle Bemühungen und Zureden des Königs waren vergeblich.
Er spielte auf ihre Jugend und Schönheit an und bat sie, darauf Rücksicht zu nehmen, und nicht bei ihrer „Starrheit“ zu verharren. Ja, er würde sie dann glücklich machen und sie fürstlich belohnen. Es war aber alles erfolglos. Weder das Fallbeil noch die verlockenden Zukunftsaussichten vermochten sie von ihrem entschlossenen Willen abzubringen und sie blieben fest und unbeugsam. So wurden sie denn einer nach dem andern hingeschlachtet und einer in das Blutbad des andern getaucht. Mit dem „Schema Jisrael“ auf den Lippen sprangen die jugendlichen Rabbi Akiwas und Rabbi Chaninas mutig und entschlossen in den Tod…
Die Mutter, aller ihrer Kinder beraubt, bestieg das Dach des Hauses und stürzte sich von dort zu Tode. Bevor sie ihren letzten Seufzer aushauchte, gab sie ihren Kindern einen Abschiedsgruß mit.
„Gehet, Kinder, zu eurem Vater Awraham und saget ihm, er habe nur eine Akeda[5] gemacht, ich aber hätte deren sieben aufgerichtet“
„אַתָּה עָרַכְתָּ עֲקֵדָה אַחַת וַאֲנִי עָרַכְתִּי שֶׁבַע עֲקֵדוֹת“…
Es ist unverständlich und merkwürdig, wieso diese große Frau in ihrer Todesstunde nichts anderes zu sagen hatte, als eine Abrechnung mit Awraham zu halten und ihre Leistung als größere hinzustellen.
Blickt man aber tiefer in die Seele dieser großen Frau hinein, so gewinnt man den Eindruck, daß diese Frau nicht nur einen stählernen Charakter und eine unbeugsame Willenskraft hatte, um alles für G-tt zu tragen, sondern, daß auch ihre innerliche sittliche Größe und restlose Bescheidenheit zu bewundern sind.
Es war kein Wahnsinnseinfall von ihr und sie hatte ihre sieben Söhne nicht um einer Eitelkeit wegen hinschlachten lassen, sie wollte damit nur dokumentieren, daß dadurch, daß Vater Awraham einen Altar aufgestellt hatte, sie die Kraft besaß, deren sieben aufzubauen. Dadurch, daß die Ahnen solch ungeheuren Kräfte gezeigt und bewiesen haben, hatte sie als schwache Frau die Kraft, sich ihrer Vorfahren würdig zu erweisen und sich von ihrer G-ttestreue einen Beweis zu nehmen. Awraham war der erste, Pionier von Mesirut Nefesch, der den Beweis für seinen Opferwillen erbrachte.
Er war uns großes Beispiel und Wegweiser, und er, der seinen ersten Sohn zu opfern bereit war, gab Channa die Kraft, ihre sieben Kinder auch für G-tt darzubringen….
Wir haben hier das große Lebensideal, daß alles, was der Mensch besitzt, eben doch nur G-tt gehört, und daß sich der Mensch dieser Erkenntnis beugen muß.
Auch dies waren Ijows-Geschicke! Aber aus der Not haben sie eine Tugend gemacht und durch Leiden sind solch jüdische Menschen zu ungeahnten Höhen des Lebens emporgestiegen.
Oft versuchten unsere Feinde, die Geheimnisse des jüdischen Lebens zu ergründen, wieso dieses Volk eine solche Kraft besitzt, alle die Leiden und Marter auszuhalten und sich gegen ihre Feinde zu behaupten; doch gelang es ihnen nie, dieses Geheimnis zu lüften.
Dies Geheimnis ist die Akeda!
Als Rabbi Chanina ben Teradjon, mit einer Torarolle umwickelt, den Märtyrertod erleiden mußte, sprach er zu seinen Schülern, die sich über seinen schrecklichen Tod entsetzten: גִּלְיוֹן נִשְׂרָפִין וְאוֹתִיּוֹת פּוֹרְחוֹת[6]. Das Pergament verbrennt nur, der Körper, aber die Buchstaben, die Seele, sie steigt zu G-tt auf.
Auch hier haben wir eine gigantische Gestalt! Er trank aus dem Kelch der Leiden und stieg geläutert zu ungeahnten Höhen empor. Er nahm die G-ttliche Strafe ergeben an und erreichte dadurch die menschliche Vollkommenheit. So steht es in Tehillim:
[7].אַשְׁרֵי הַגֶּבֶר אֲשֶׁר תְּיַסְּרֶנּוּ יָּהּ וּמִתּוֹרָתְךָ תְלַמְּדֶנּוּ[8]
G-tt schickt den Menschen Leiden, damit sie von ihnen lernen sollen.
Sie sollen darin die Hand G-ttes erkennen, und ihr Tun und Lassen der Tora anpassen. Selbst mit einer Lupe muß man seine Fehler suchen, von dem Grundsatze ausgehend יִתְלֶה בְּבִטּוּל תּוֹרָה (“so führe er die Strafe auf die Vernachlässigung der Tora zurück”) – und daher die Schuld stets auf sich schieben. Und wer die Lehre so versteht und im Spiegel der Zeit richtig blickt, der hat auch den Sinn der Leiden begriffen!
„Gegen die Strafe des Herrn hege keinen Widerwillen. Denn wen der Herr liebt, straft er, wie der Vater, der seinem Sohn wohl will.“[9]
3. In bedrängter Stunde.
Die Weisen sagen:
.אֵין תְּחִילַּת דִּינוֹ שֶׁל אָדָם אֶלָּא עַל דִבְרֵי תוֹרָה[10]
Die erste Frage, die wir einst vor dem G-ttlichen Richterstuhl zu beantworten haben, ist die, ob wir und unsere Kinder dem Torastudium oblagen.
Der Talmud sagt ferner: Wenn einen Menschen unausgesetzt schwere Leiden treffen, so soll er annehmen, daß es daher kommt, weil er keine Tora lernt[11].
Auch der Prophet Jirmijahus gibt als Grund des Churbans das „Verlassen der Tora“ an, denn dort heißt es עַל מָה אָבְדָה הָאָרֶץ – עַל עָזְבָם אֶת תּוֹרָתִי – “weswegen ist das Land untergegangen? – weil sie Meine Tora verliessen[12].
Ferner heißt es im Talmud: בְּכָל יוֹם בַּת קוֹל יוֹצֵאת מֵהַר חוֹרֵב וְאוֹמֶרֶת אוֹי לָהֶם לַבְּרִיּוֹת מֵעֶלְבּוֹנָהּ שֶׁל תּוֹרָה „Rabbi Jehoschua, Sohn Levis, sagt: Tag für Tag geht eine Stimme vom Berge Chorew und ruft aus und sagt: Wehe ihnen, den Menschen, ob der Zurücksetzung und Beschämung der Tora.“
Wenn wir heute offenen Auges in unsere fürchterlich ernste Zeit hineinschauen und das Meer von Leiden und die Flut von Qualen sehen, so begreifen wir, daß es nur deshalb ist, weil wir das heilige Gut – die Tora – das uns von G-tt anvertraut wurde, beschämt und verlassen haben.
So heißt es in der Tora בַּצַּר לְךָ וּמְצָאוּךָ כֹּל הַדְּבָרִים הָאֵלֶּה וְשַׁבְתָּ עַד ה‘ אֱלֹקֶיךָ „In deiner Bedrängnis und wenn dich betroffen haben all diese schweren Dinge, so wirst du dann zurückkehren zum Ewigen, deinem G-tte, und seiner Stimme gehorchen“.[13]
Dem Rufe der Zeit folgend, haben wir die Rufe G-ttes unbeachtet gelassen, bis die Katastrophe über uns ausbrach, uns die Augen öffnete und uns ermahnte שׁוּבוּ בָּנִים שׁוֹבָבִים Kehre um, Jisrael, zu deinem G-tte, zu deiner Tora, die dich ja in allen schweren Zeiten der Jahrhunderte erhalten hat.
Die Tora ist ja fürwahr unser Lebenselement und das unserer Kinder als Urkraft der jüdischen Volksseele. Sie ist es, die uns und unseren Vätern beistand und uns aufrecht hielt bis auf den heutigen Tag.
Wer in seinem Herzen noch einen letzten Funken von Anhänglichkeit an traditionsreiches und unverfälschtes Judentum trägt, komme und helfe mit, die große, verheerende Gefahr für das Judentum einzudämmen, so lange dies noch möglich ist.
Das jüdische Haus steht in Flammen. Es gibt nur eine Rettung, und zwar die völlige Rückkehr zur Tora.
Als die Sintflut über die Erde dahinbrauste, rettete sich Noah in die Arche. Auch wir müssen uns in eine Arche flüchten, in die Arche G-ttes, in das Bet Hamidrasch, um uns von den sintflutartigen Stürmen unserer Zeit retten zu können, indem wir das erloschene Licht wieder anzünden und es zu einem אש דת zu einer G-ttlichen Flamme auflodern lassen.
Unbarmherzig haben wir unsere Kinder der Tora entrissen, G-tt verkannt, alles, um ihnen Scheinexistenzen zu sichern.
„Wie lange noch wollen wir uns in Dunkel hüllen, die ewige Wahrheit und das Licht G-ttes nicht sehen? Mögen wir doch wenigstens aus dem schweren Drucke der Zeit die Lehre ziehen, unsere Augen öffnen und uns von der g-ttlichen Menora, von dem ‚Esch Doß‘ bestrahlen lassen “
Öffnen wir der verlassenen und verstoßenen Tora wieder unsere Pforten וַיְהִי אוֹר und der ewige G-tt wird dann auch sein Licht über uns erstrahlen und uns des G-ttlichen Segens teilhaftig werden lassen וִיהִי נוֹעַם ה‘ עָלֵינוּ.
- Brachot 5 ↑
- Geschrieben in den 30-er Jahren. ↑
- Micha 7 ↑
- 57 ↑
- Beinahe-Darbringung von Jitzchak als Opfer ↑
- Awoda sara 18 ↑
- Selig ist der Mann, den G-tt züchtigt und aus Seiner Tora belehrt. ↑
- Kapitel 94 ↑
- Mischlej 3 ↑
- Sanhedrin 7 ↑
- Brachot S.5 ↑
- Jirmijahu 9,11 ↑
-
Dewarim 4,30 ↑