So wie im Himmel, so auf der Erde – Teil 13 – Die Seele auf dem Prüfstand

Datum: | Autor: Rabbi Ezriel Tauber SZl | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Seele
Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Fortsetzung

Die Seele auf dem Prüfstand

Inhalt:

  • Erläuterung des Verses, worin G-tt Adam eine Seele einblies[1]
  • Leben nach dem Tod
  • Die Vorstellung von zwei Seelen
  • Das Schofar
  • Die menschliche Identitätskrise
  • Die Midlife-crisis
  • Die wichtigste Frage, die wir uns alle selbst stellen müssen

Vor ungefähr hundert Jahren fand in Wien (Österreich) eine Konferenz statt, deren zentrale Frage war: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Als ein berühmter Rabbiner von dem Thema der Konferenz hörte, lachte er.

„Was finden Sie so lustig?“

“Sind die so sicher, dass es ein Leben vor dem Tod gibt?“

Gibt es wirklich ein Leben vor dem Tod? „Ja, natürlich“, würden Sie antworten. Wir sind am Leben.

Aber wer ist das „Wir“? Wer sind Sie? Wer bin ich? Bin ich mein Körper, meine Gefühle, meine Erinnerungen? Nehmen Sie einen Herztransplantierten. Wenn er sagt „ich“, wen meint er dann damit? Wessen Herz schlägt dann da vor Aufregung? Wer ist es, der die Gefühle hat? Es gibt Wissenschaftler, die sich schon mit der Möglichkeit von Hirntransplantationen auseinander gesetzt haben. Wer wäre es dann, der da die Gedanken produzierte? Wir können uns einen Mann vorstellen, der das Herz von Herrn Meier, das Hirn von Herrn Müller, die Niere von Herrn Sieber, das Blut von Herrn Seiler usw. hätte – alles als Hinzufügung zu seinem Körper.

Wer ist dann dieses „Ich‘“?

So sehr die moderne Zivilisation sich auch entwickelt hat, diese Frage hat sie noch nicht beantworten können. Sie hat sie nur noch vertieft. Das Wesen und der Kern unseres eigenen Ichs sind noch immer in so quälender Weise unbestimmbar wie zuvor.

Das Flugzeug und der Pilot

Natürlich ist die Tora nicht unbestimmt, wenn es darum geht, das Wesen und den Kern des Menschen zu bezeichnen.

„Und G-tt … atmete in seine (Adams) Nasenlöcher eine ewige Seele hinein (wörtlich, den Atem des Lebens).“[2]

Der Körper ist ein Gefäß für die Seele. Er ist eine Art Flugzeug. Ein Flugzeug fliegt nicht zu irgendeinem Selbstzweck, sondern um Menschen von einem Ort zum andern zu bringen. So auch der Körper. Die Seele „steigt“ bei der Geburt in ihn ein und „steigt“ beim Tod wieder aus. Die Seele ist der eigentliche Kern des Menschen, der Körper ist nur das Gefäß.

Der zehnte Ausspruch

Wie schon früher erläutert (Kapitel 2), wurde die Welt mit zehn Aussprüchen erschaffen. Der ursprüngliche Ausspruch – Bereschit – war von einem solch hohen Maß an G-ttlichkeit durchdrungen, dass die Schöpfung ihn nicht in seiner rohen Form umfassen konnte. Er musste deshalb auf der Schöpfung angepasste Stufen „hinuntertransformiert“ werden. Das Objekt, das mit dem zehnten Ausspruch erschaffen wurde, enthielt die niedrigste „Spannung“ an G-ttlichkeit; es war das am weitesten von G-tt Entfernte.

Dieses Objekt, der zehnte Ausspruch, war der Mensch.

Der Mensch ist aus dem dunkelsten Material geschaffen. Wir sind am weitesten von G-tt entfernt, da wir das Potenzial haben, G-tt zu verleugnen (siehe Kapitel 2). Gleichzeitig gab uns G-tt paradoxerweise das Potenzial, das höchste Element innerhalb der Schöpfung zu werden, nämlich die Schöpfung zu überschreiten: Er gab uns die ewige Seele.

Und Haschem/G-tt formte (Wajizer) den Menschen vom Staub der Erde und blies in seine Nasenlöcher eine ewige Seele hinein. Und der Mensch wurde zu einem lebendigen Wesen.[3]

„G-tt formte den Menschen vom Staub der Erde“ – d.h. der Mensch wurde aus dem irdischen Teil erschaffen, dem Teil, der viel mit den Tieren gemeinsam hat – „und blies in seine Nasenlöcher eine ewige Seele hinein (oder „Atem“ des Lebens)“. Die mystischen Bücher bemerken, dass jemand, der in einen anderen hineinatmet, ihm etwas von seinem Wesen gibt. So hat G-tt durch das Hineinblasen einen Teil von ihm in das Physische des Menschen hineinfließen lassen; er bedachte uns mit der „Seele des (ewigen) Lebens”.

Der menschliche Körper wurde daher aus dem zehnten der Zehn Aussprüche erschaffen.

Darum ist er eine sehr dunkle, physische Sache, die fähig ist zu einem Hitler zu werden und alle möglichen Abscheulichkeiten zu begehen. Gleichzeitig wurde uns aber eine Seele verliehen. Die Seele wurde uns auf eine andere Weise als der Körper gegeben. Sie wurde uns nicht durch den Akt des Sprechens verliehen (also nicht durch einen der Zehn Aussprüche), sondern auf eine ganz himmlische Art – durch einen Akt des Hineinblasens: „Und G-tt blies in ihn eine ewige Seele.“ (Man beachte, dass im Vers nicht steht: „Und G-tt sagte, Ich werde (Adam) die ewige Seele einblasen.“ Er sagt nur: „Und G-tt blies …“) Er „blies“ in den ursprünglichen Menschen einen Teil seiner selbst. Blasen ist ein Akt, der alle Worte übersteigt; er symbolisiert die Vorstellung, dass G-tt dem Menschen einen Aspekt seines inneren Selbst eingegeben hat.

Der Mensch ist daher eine Kombination zweier Elemente: des endlichen Körpers und der transzendentalen, G-ttlichen Seele (Neschama). Der Grund, weshalb wir mit dieser Doppelnatur erschaffen wurden, lässt sich am besten verstehen, wenn wir Kurz den Gedanken hinter dem Einblasen des Schofars am Rosch Haschana erläutern (der Tag, an dem wir uns der Erschaffung Adams erinnern).

Wir sind aus zwei entgegengesetzten Teilen gemacht.

Der physische Teil wurde mit dem zehnten Ausspruch gemacht. Der geistige Teil (die G-ttliche Seele) wurde nicht mit einem Spruch gemacht. Er wurde einfach in uns „hineingeblasen“. Der Gedanke des Rosch Haschana-G-ttesdienstes ist es, unserem Schöpfer (wie auch uns selber) zu zeigen, dass wir uns mit unserem G-ttlichen Teil identifizieren. Dies tun wir durch das Blasen des Schofars.

Schofarblasen ist ein Akt, der den ursprünglichen Akt G-ttes imitiert, einen Aspekt seiner G-ttlichkeit in uns hineinzublasen. Wir blasen deshalb am Rosch Haschana Schofar, um zu zeigen, dass wir uns nicht mit dem Produkt des zehnten Ausspruches (dem Körper), sondern mit der reinen, G-ttlichen Seele identifizieren.

Bürgerrecht

Dies ist ein überaus wichtiger Punkt, der verstanden werden muss. Lassen Sie ihn mich deshalb mit der folgenden Analogie illustrieren: Ein Mensch, der sich ins Weltall vorwagen will, braucht ein Raumschiff. Die Funktion des Raumschiffs ist, den Astronaut zu schützen, indem es die gleiche Umgebung reproduziert, aus der er stammt. Stellen Sie sich nun umgekehrt ein Geschöpf vor, das nur im Weltall überleben könnte. Um auf der Erde überleben zu können, bräuchte es ein „Erdschiff“. Seine ursprüngliche Umgebung müsste in seinem „Erdschiff“ nachgebaut werden.

So ist es auch mit der Welt. Es gibt eigentlich zwei Welten: Himmel und Erde. Die zwei sind jedoch durch den Menschen miteinander verbunden. Der Mensch besteht aus einem Körper, der einmal sterben wird, und einer transzendentalen Seele, die ewig ist. Unser Körper ist der „Bürger der Erde“, während unsere G-ttliche Seele der „Bürger des Weltalls“ ist. Der Mensch ist eine Kombination dieser zwei „Bürger”. Und die wichtigste Frage im Leben ist die: Wem ordnen Sie sich unter – dem Körper oder der Seele? Welchem Bürgerrecht schreiben Sie sich zu?

Und man kann nur ein Bürger des einen oder anderen sein.

Ja, mit Ihrer schützenden Hülle können Sie sich in beide Elemente vorwagen – eine physisch ausgerichtete Person kann Geistigkeit und eine geistig orientierte Person kann Körperlichkeit erfahren -, aber wo sind Sie zuhause? Und das Leben ist eine ständige Herausforderung, nicht nur in unserem Herzen zu glauben, dass wir Bürger des Himmels sind, die nur zeitlich begrenzt auf der Erde stationiert sind, sondern dieses Gefühl auch in unserem täglichen Leben in die Tat umzusetzen, in jedem noch so kleinen Bereich des Alltags.

Natürlich werden wir ständig durch unsere niederen Bedürfnisse herausgefordert. Sie möchten eigentlich anspruchsvolle Bücher lesen, die Zeitung ist aber viel bequemer und weniger anstrengend. Sie wollen Geld sparen, um mehr für Bedürftige zu spenden, aber Sie haben Lust, es für Nebensächlichkeiten auszugeben. Sie wollen sich mit dem G-ttlichen Ebenbild identifizieren, mit dem verborgenen Licht, dem wirklich unendlichen Teil Ihrer Selbst, der über Zeit und Raum steht. Wie magnetisch werden Sie aber von Ihrer Schattenseite angezogen, dem endlichen Teil Ihrer Selbst, der zeitlich und räumlich begrenzt ist.

Dies ist die allen Menschen angeborene Zweiteilung.

Wir alle leiden an einer schweren Identitätskrise. Wir wissen nicht, wer wir sind. Tiere haben keine Identitätskrisen. Es gibt bei ihnen keinen Zwiespalt zwischen ihrem Körper und ihrer wahren Natur. Wir sind jedoch anders. Unsere verschiedenen Wesen verwirren uns. Und unser Körper hat in vielen Belangen die Oberhand in diesem Kampf gewonnen. Nichtsdestotrotz haben wir auch eine G-ttliche Seele, die ein fester Bestandteil unseres Lebens werden kann, wenn wir unser Leben nach ihren Bedürfnissen ausrichten, wenn wir uns als Bürger, die nach ihren Gesetzen leben, identifizieren.

Dies ist niemals einfach. Die Wünsche des Körpers und die Wünsche der Seele widersprechen sich oft. Was der eine will, mag der andere nicht, und umgekehrt. Dies ist ein Dauerkonflikt, den jeder von uns in sich verspürt. Wenn wir ihn nicht spüren, würde etwas nicht stimmen. Wir sind dann vielleicht schon so abgestumpft gegenüber den Bedürfnissen unserer Seele, dass wir sie schon gar nicht mehr wahrnehmen.

Und doch, Ihr wahres Ich – das Ich, mit dem Sie sich hier auf Erden identifizieren sollen – ist Ihre G-ttliche Seele. Und das Leben ist Ihre Chance Ihre natürlich bedingte Identifikation mit dem Körper zu überwinden, um sich mit den Wünschen Ihrer Seele zu identifizieren.

Der Schoss oder das Grab

Die Weisen lehren: „Mit vierzig erlangt man Weisheit.“‘

Warum mit vierzig? Kann jemand nicht schon viel früher weise und gelehrt sein? Die Antwort ist, dass mit vierzig die Kraft des Körpers nachlässt. Die Ausrichtung zum Körperlichen hin beginnt deshalb abzunehmen. Die Wunschträume, die Welt zu erobern oder berühmt zu werden oder bestimmte Reichtümer zu erwerben, werden als solche erkannt: Träume. (Oder in den seltenen Fällen, in denen sich die Träume mehr oder weniger realisiert haben, beginnt man sich zu fragen, ob es nun wirklich dies ist, was man sich erhofft hatte.)

Man weiß jetzt, dass man auf der anderen Seite des Lebens ist, dass es nun bergab geht.

Wenn man eine nachdenkliche Persönlichkeit ist – auch ohne akademischen Titel -, hilft diese Tatsache nicht mehr, als dass sie sich im Bewusstsein festsetzt. Plötzlich kommen wieder all diese philosophischen Ideen, die man in seiner Jugend für völlig irrelevant hielt, zum Vorschein. Mit zwanzig oder dreißig war man zwar intelligent, schenkte ihnen aber kaum Beachtung, da man viel zu sehr damit beschäftigt war, seinen Wunschträumen nachzujagen. Man ließ Ausführungen über den Sinn des Lebens links liegen.

Mit vierzig aber verändert die nicht mehr zu verleugnende Abnahme der körperlichen Kräfte die gesamte geistige Struktur. Man beginnt sich darüber Gedanken zu machen, was man im Leben wirklich erreicht hat, was einem wirklich wichtig ist, was mit einem geschehen wird, wenn man die Welt verlässt. Man ist nicht unbedingt intelligenter, aber empfänglicher für Weisheit wie nie zuvor. Dies ist der Grund, weshalb „ein Mensch erst mit vierzig Weisheit erlangt.“

Zeit versus Ewigkeit

Es ist nicht immer angenehm, aber das Bewusstsein, ins mittlere Alter zu kommen, ist immer ernüchternd. Wenn man aber der ernüchternden Wahrheit mutig ins Auge blickt, dann kann man möglicherweise die Krise in einen Glücksfall verwandeln; vielleicht wird man sich in der zweiten Lebenshälfte auf eine Art und Weise entwickeln, die man zuvor nicht für möglich gehalten hat.

„Die Länge unserer Jahre ist siebzig; und wenn wir stark sind achtzig … “[4]

Schauen Sie auf Ihre Uhr. Sehen Sie, wie die Sekunden davonticken. Diese Sekunden werden niemals zurückkehren. Der unaufhörliche Marsch der Zeit hinterlässt nur Tod; den Tod einer Zeit, die niemals wiederkommt.

Ein materialistisch orientierter Mensch lebt nicht siebzig oder achtzig Jahre lang – er stirbt siebzig oder achtzig Jahre lang.

Gleichzeitig hat jeder von uns eine Seele. Und diese Seele entspringt dem G-ttlichen – und bleibt ihm auf einer bestimmten Ebene immer verbunden -, einem Bereich jenseits des Materialismus, jenseits von Zeit, dieser siebzig oder achtzig Jahre des Todes. Die G-ttliche Seele ist unser Verbindungsglied zum ewigen Leben, zur fortwährenden Geburt.

Unsere Weisen lehren uns, dass dieses Leben ein Durchgang in das nächste Leben ist.

Genauso wie das Hervorkommen aus dem Mutterschoß die körperliche Geburt bedeutet, ist die Ablösung vom Körper die Geburt der Seele. Genauso wie die sieben, acht oder neun Monate im Mutterleib die Dauer der Schwangerschaft vor der irdischen Geburt darstellen, so sind die siebzig, achtzig oder neunzig Jahre auf der Erde die Dauer der Schwangerschaft vor der himmlischen Geburt.

Das Leben ist der Mutterleib der Seele.

Dessen Wert ist wie beim Mutterleib nicht einfach gegeben, sondern ist durch das, was sie hervorbringt, bestimmt. Wenn es den Keim der Ewigkeit hervorbringt, wenn es das befruchtete G-ttliche Ei hegt und pflegt, dann ist es wirkliches Leben. Wenn es jedoch nur um seiner selbst willen existiert und sich nur um die leere Hülse seiner zeitlichen Existenz dreht, dann kann es nicht wirklich als Leben bezeichnet werden. Dann ist es nur ein Vorhof des Todes. Ein Grab für Staub und Asche.

Wie sehen Sie Ihr Leben? Es gibt wahrscheinlich keine wichtigere Frage, die Sie sich stellen können, weil die Art und Weise, wie Sie sie beantworten werden, unweigerlich die größtmöglichen Auswirkungen haben wird. Sind Ihre siebzig oder achtzig Jahre ein Selbstzweck? Oder sind sie eine Schwangerschaftszeit für eine zukünftige Geburt?

Sind sie ein Weg zum Grab oder die Schwelle zur Unendlichkeit?

Diese Frage macht Angst, darüber nachzudenken, aber es ist eine grundlegende Frage, die sich jeder von uns stellen muss. Lebe ich im Einklang mit den Bedürfnissen meines höheren, G-ttlichen Selbst oder bin ich ein Gefangener meines eigenen Körpers? Wer bin ich? Unabhängig davon, ob Sie die Gesetze befolgen oder nicht, muss doch jeder über diese Fragen ernsthaft nachdenken, wenigstens von Zeit zu Zeit. Das Leben, im wahrsten Sinne des Wortes, kann davon abhängen.

Fortsetzung folgt ijH.

Zusammengestellt durch Yaakov Astor, Ins Deutsche übersetzt durch David Halonbrenner, überarbeitet durch Rolf Halonbrenner und Clarisse Pifko

Mit ausdrücklicher Erlaubnis des Copyrightinhabers Juefo.com. Das Sefer kann unter info@juefo.com bestellt werden.

  1. Bereschit 2,7
  2. Bereschit 2,7
  3. Bereschit 2,7
  4. Tehillim 90,10

 

HINTERLASSEN SIE EINE ANTWORT