Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem für seine Schriften über jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk “Messilat Jescharim” («Der Pfad der Aufrechten»), welches den Weg des geistigen Wachstums eines jüdischen Menschen weist, wurde vom Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Einundzwanzigstes Kapitel – Die Methode, sich die Tugend der Frömmigkeit anzueignen
Was hilft uns wohl am meisten, wollen wir uns die Tugend der Frömmigkeit aneignen? Umfassendes und tiefes Nachdenken und Überlegen. Je mehr wir über die erhabene Größe G-ttes nachdenken, über seine höchste Vollkommenheit, über den weiten Abstand zwischen seiner Größe und unserer Niedrigkeit, umsomehr wird Zittern und Beben vor Ihm uns befallen.
Und wenn wir wieder über seine Wohltaten, die er an uns übt, nachdenken, über die unendliche Liebe, mit der Er Jisrael zugetan ist, wie nahe die Frommen Ihm stehen, wie herrlich die Lehre und ihre Vorschriften sind, kurz all das, was uns beim Nachdenken und Studium zum Bewusstsein kommt, dann wird eine heiße Liebe in uns emporlodern und ein leidenschaftliches Sehnen uns erfassen, Ihm uns hinzugeben. Wenn wir sehen, wie G-tt uns ein wahrer Vater ist, Sich unserer erbarmt, wie ein Vater seiner Kinder, dann wird in der Folge auch in uns das sehnsüchtige Verlangen wach, Ihm das zu erweisen, was der Sohn dem Vater tut.
Dazu müssen wir uns aber in unsere Kammer zurückziehen und all unser Wissen, unsere ganze Einsicht darauf konzentrieren, über diese Wahrheiten tief und eingehend nachzudenken. Eine gute Hilfe ist hier das fleißige Lesen der Psalmen Davids und eine Vertiefung in ihre Aussprüche und ihren Inhalt. Sie sind alle erfüllt von Liebe und Ehrfurcht und den anderen Faktoren der Frömmigkeit. Wer sich daher in sie vertieft, in dem muss das stürmische Verlangen rege werden, Davids Spuren zu folgen, in seinen Wegen zu wandeln. Ebenso nützlich ist die Lektüre von Erzählungen frommer Taten, wie sie in der Hagada vorkommen. Sie alle regen unser Denken dazu an, den Weg zu finden, auf dem auch wir die gleichen schönen Taten ausüben können. Das bedarf keiner weiteren Erklärung.
Die Hindernisse auf dem Wege zur Frömmigkeit sind:
Die Vielgeschäftigkeit und die Sorgen. Wenn das Denken von Sorgen und Geschäften belastet und verwirrt ist, dann hat es keine Muße für die oben erwähnten Überlegungen, und ohne diese wiederum gelangt man nicht zur Frömmigkeit. Und erlangt man sie schon, dann übt die Vielgeschäftigkeit auf das Denken einen verwirrenden Zwang aus, und es ist nicht mehr im Stande, sich in der Liebe und der G-ttesfurcht und allen anderen Faktoren der Frömmigkeit zu festigen. Darum sagen die Weisen: „Die Herrlichkeit G-ttes lässt sich zu dem Menschen nicht hernieder, wenn er in Sorge ist.”[1] Noch größere Hindernisse bieten die Genüsse und Freuden, sie bilden ja einen direkten Gegensatz zur Frömmigkeit. Sie betören das Herz, es muss ihnen folgen, es übt keine Zurückhaltung mehr und verlässt den Weg zur wahren Erkenntnis.
Schutz und Rettung vor diesen Hindernissen finden wir in dem G-ttvertrauen. Auf G-tt müssen wir Alles werfen, was uns drückt, der Überzeugung leben, dem Menschen werde nie das fehlen, was ihm bestimmt ist. Wie die Weisen das öfters ausgesprochen haben: „Alles, was der Mensch zu seiner Erhaltung braucht, das wird ihm vorausbestimmt zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur“[2], ferner: „Keiner kann an das, was für den Anderen bestimmt ist, auch nur um Haaresbreite rühren.“[3]
Der Mensch könnte überhaupt die Hände in den Schoss legen, und das von G-tt Bestimmte würde sich auch so erfüllen, wenn nicht über ihn die Strafe verhängt worden wäre:
„Im Schweiße Deines Angesichtes sollst du dein Brot essen.“[4] Darum muss er sich um seinen Unterhalt irgendwie bemühen, weil der Allerhöchste es so bestimmt hat. Es ist das gewissermaßen ein Tribut den die ganze Menschheit zahlt, dem man sich nicht entziehen kann. Sie sagen deshalb: “Man könnte meinen, der Mensch könne seine Hände in den Schoss legen, darum heißt es: G-tt wird dich segnen in dem, was du mit deiner Hände Arbeit erwirbst.“[5]
Nur soll man nicht glauben, dass die Bemühungen ausschlaggebend sind. Die Mühe und Arbeit ist nur eine Pflicht, und hat man sich dieser unterzogen, so ist man seiner Pflicht ledig. Dann muss das Übrige dem Segen von oben überlassen bleiben, es hat keinen Sinn, sein Leben in einer steten Hetze zu verbringen. Das spricht der König David aus: „Nicht von Osten und Westen, nicht von der Trift der Berge, sondern G-tt richtet, erniedrigt den Einen und erhöht den Anderen.“[6] Und der König Schlomo sagt: „Mühe Dich nicht ab, reich zu werden, lass ab, deine Hoffnung auf deine Klugheit zu setzen.“[7]
Der rechte Weg ist vielmehr der, den die Frommen der Vorzeit eingeschlagen.
Das „Lernen“ war ihnen Haupt-, der materielle Beruf Nebensache, und dadurch kamen Beide zu ihrem Rechte. Sobald man eben ein Gewisses an Arbeit geleistet hat, muss man im Übrigen auf G-tt vertrauen und darf sich nicht um irgend etwas in der Welt Sorge machen. Dann behält man einen klaren Kopf, und das Herz ist für die rechte Frömmigkeit gestimmt und für die religiöse Pflichterfüllung in ihrer Vollkommenheit.
Fortsetzung folgt ijH
- Schabbat 30b ↑
- Beiza 16a ↑
- Joma 38b ↑
- Bereschit 3,19 ↑
- Schochar Tow zu Tehillim 136 ↑
- Tehillim 75,7f ↑
-
Mischlej 23,4 ↑