Um jene Zeit lebte in Michelstadt noch ein anderer Torahgelehrter, namens Rabbi Wolf Muhr.
Dieser kam eines Tages zum Baal-Schem mit der Bitte um einen Rat in folgender Angelegenheit. Es war ihm für seine älteste Tochter ein junger Mann aus Darmstadt angetragen worden, der ihm in jeder Hinsicht sehr zusagte, aber derselbe beanspruchte eine Mitgift von 400 Gulden, eine für jene Zeit hohe Summe, die für den armen Mann nicht zu erschwingen war, er wollte deshalb den Rat des Rabbi einholen. Dieser ließ sich die Sache in allen Einzelheiten erzählen und bemerkte dann lächelnd: „Rabbi Wolf, was ist da viel zu raten, es ist doch gar keine Frage, dass Ihr da zugreifen und die Partie eingehen müsst.“
“Gewiss weiß ich das,“ erwiderte Rabbi Wolf, „aber wo nehme ich die 400 Gulden her?“
„Vierhundert;“ „ארבע מאות שקל כסף ביני וביניך מה היא “ (was sind vierhundert Schekel Silber zwischen mir und Dir?) entgegnete lächelnd der Baal-Schem mit Anspielung auf die Stelle im Kapitel 13, Vers 15 des ersten Buches der Torah. „Wegen des Geldes könnt Ihr ruhig die Partie eingehen, für den Betrag werde ich aufkommen.”
„Wie kann ich von dem Rabbi einen solchen Betrag verlangen?“ bemerkte Rabbi Wolf. „Eine solche Summe …“
„Was redet Ihr auch,“ unterbrach ihn der Baal-Schem, „erstens habt Ihr’s nicht verlangt und zweitens werde ich’s nicht von dem meinigen geben; ich werde mich bei meinen auswärtigen Freunden danach umsehen, also deshalb könnt Ihr ruhig sein. Bis wann werdet Ihr das Geld haben müssen?“
„Jetzt wo die schwerste Sorge mir durch den Rabbi abgenommen ist, kann nächste Woche schon die Beschau und dann bald die Verlobung sein. Die Hochzeit, bis zu welcher ich das Geld zahlen muss, lässt sich jetzt noch nicht einmal annähernd bestimmen, wegen der Annahme.“
Unter „Annahme“ verstand man im Hessischen die behördliche Einwilligung zur Hochzeit, die damals gar nicht so leicht und jedenfalls nicht rasch zu erlangen war. Wenn man in Hessen auch nicht wie z.B. in Bayern die Erlaubnis zur Heirat vom Tode des Vaters abhängig machte, so waren doch so viele Bedingungen, Klauseln und Vorbehalte an das Recht, sich verheiraten zu dürfen, geknüpft, dass ein drei- und selbst vierjähriger Brautstand bei dem schleppenden Gange aller Verwaltungsbehörden und bei der Willkür, den Juden gegenüber, durchaus nicht zu den Seltenheiten gehörte. Der Baal-Schem wusste also, dass er normalerweise ein bis zwei Jahre jedenfalls Zeit hatte, um die versprochene Summe aufzubringen.
„Wegen der Annahme braucht Ihr nicht besorgt zu sein“, bemerkte er, „wenn Euer Schwiegersohn aus Darmstadt ist, dort gibt es Leute genug, die Einfluss bei der Behörde haben und die werden sich’s gewiss angelegen sein lassen, dass die Sache nicht allzusehr in die Länge gezogen wird; ich sage Euch deshalb schon jetzt Masel Tov zu der Verbindung.“
Dieser Glückwunsch des Baal-Schem hatte sich bald und in schönster Weise erfüllt.
Wenige Tage nachher wurde die Verlobung gefeiert und den Darmstädter Freunden des jungen Paares war es noch vor Jahresfrist gelungen, die Annahme zu erwirken. Strahlend vor Freude kam Rabbi Wolf Muhr zum Baal-Schem geeilt und legte ihm das soeben eingetroffene Aktenstück der Annahme vor mit der Frage, auf wann nun die Hochzeit festgesetzt werden solle.
„Das könnt Ihr ganz halten wie Ihr wollt,“ entgegnete der Gefragte, „denn das ist doch ausschließlich Sache der beiderseitigen Eltern. Und was das Geld betrifft, so werde ich es Euch vor der Hochzeit auszahlen. Ich habe zwar zur Zeit noch keinen Kreuzer dafür, aber G-tt wird schon helfen, dass ich mein Wort einlösen kann. Dass in Darmstadt die Sache so rasch und glatt geht, hätte ich selbst nicht gedacht, deshalb habe ich bis jetzt noch keinen Schritt in der Sache getan.“
Einige Tage später machte Rabbi Wolf Muhr dem Baal-Schem die Mitteilung, dass die Hochzeit auf Rosch Chodesch Elul, das war in etwa drei Wochen, festgesetzt sei, wovon dieser mit der wiederholten Versicherung Kenntnis nahm, er brauche wegen des Geldes sich keine Sorge zu machen. Aber Rabbi Wolf machte sich doch deshalb Sorge. Er zweifelte nicht an dem guten Willen seines Wohltäters, aber ob es ihm möglich sein werde, diesen guten Willen in Taten umzusetzen, das schien ihm von Tag zu Tag zweifelhafter.
Mehr als sonst suchte und fand Rabbi Wolf Vorwände, um zum Baal-Schem zu kommen.
Nicht um ihn direkt an sein Versprechen zu mahnen, sondern nur um durch seinen Besuch die Aufmerksamkeit seines Wohltäters auf sich zu ziehen und so sich selbst zu vergewissern, dass der Baal-Schem ihn nicht vergessen habe. Die Hochzeit kam immer näher, täglich erwartete Rabbi Wolf eine Botschaft, die ihn zum Baal-Schem bestellte; aber sie blieb aus. Zwei Tage vor der Hochzeit ging er in der Richtung nach dem Hause des Baal-Schem, hatte aber nicht den Mut, einzutreten. Als er unschlüssig vor demselben stand, kam ein fremder Herr daher, trat an ihn heran und fragte ihn nach der Wohnung des Baal-Schem.
„Ich bin gerade auch im Begriff, dorthin zugehen“, antwortete Rabbi Wolf, „und werde Sie dorthin führen.“
„Hat nicht der Rabbi früher in jener Straße gewohnt, aus der ich eben komme?“ fragte der Fremde. „Ich war schon früher einmal hier und glaube mich nicht zu irren.“
„Ganz recht,“ erwiderte der Gefragte, „aber seit einem halben Jahre ist der Rabbi ausgezogen und wohnt jetzt in diesem Hause.“
Mit diesen Worten traten die beiden ins Haus und Rabbi Wolf wollte sich zurückziehen.
Der Fremde gab dies aber nicht zu und bestand darauf, sein Begleiter sollte nur zuerst beim Rabbi vorsprechen, er habe längere Zeit dort zu tun, und so lange wollte er seinen Führer nicht warten lassen. Da aber in Wirklichkeit Rabbi Wolf bei dem Rabbi nichts zu tun hatte, als sich sehen zu lassen und sich zu vergewissern, dass er ihn nicht vergessen habe, so wollte er den Fremden in das Zimmer begleiten und sich dann zurückziehen.
Der Baal-Schem begrüßte den Fremden mit besonderer Herzlichkeit, dankte Rabbi Wolf, dass er ihm einen so teuren Gast zugeführt habe und als dieser sich zurückziehen wollte, hielt ihn der Baal-Schem zurück.
„Einen Augenblick setzt Euch, Rabbi Wolf; ich muss Euch eine interessante Geschichte erzählen. Es war einmal ein wohlhabender Mann, der auf einer Reise in großer Gefahr schwebte, Hab und Gut und selbst das Leben zu verlieren. In der Stunde der Not gelobte er G-tt, die Hälfte seines Vermögens an Arme zu vergeben, wenn er aus dieser Gefahr gerettet werde, und er wurde gerettet. Als der Gerettete in Sicherheit war und er sein Vermögen feststellte, um sein Gelübde zu erfüllen, bereute er seinen frommen Vorsatz und glaubte, ein Viertel seines Vermögens genüge auch. Dieses Viertel wies er auch richtig wohltätigen Zwecken zu.“
„Wenige Tage nachher erkrankte seine Frau so schwer, dass alle Ärzte der Stadt nicht zu helfen vermochten.“
„Er ließ die berühmtesten Professoren von verschiedenen Universitäten an das Krankenbett seiner Frau kommen, keiner konnte Hilfe bringen. Er wandte sich darauf brieflich an mich und ich antwortete ihm, er möge sein bisheriges Tun und Lassen untersuchen, ob er sich nicht irgend eines Vergehens gegen den Willen G-ttes bewusst sei. Darauf teilte er mir mit, dass es sein Neder (Gelübde) gebrochen habe, das er in der Stunde der Gefahr G-tt gelobt hat.“
„Ich schrieb dem Mann, dass unter diesen Umständen mir sein Unglück nichts Befremdliches habe. Kein Doktor und kein Professor der Welt könne ihm hier helfen und auch ich vermöge es nicht, aber er selbst könne es, indem er ohne Verzug sein Gelübde unverkürzt einlöste. Ob er meinen Rat befolgt hat, weiß ich nicht, darüber könnt Ihr uns vielleicht Auskunft geben, Reb Sander. Aber erst bitte ich Euch, mir zu sagen, ob ich die Geschichte recht erzählt habe.“
Diese letzten an den Fremden gerichteten Worte hatten augenscheinlich Rabbi Wolf noch mehr in Erstaunen gesetzt, als den Angeredeten. Rabbi Wolf hatte geglaubt, die Geschichte habe nur den Zweck, ihn darüber zu beruhigen, dass sich der Erzähler der ganzen Verantwortlichkeit bewusst sei die ein einmal ausgesprochenes Gelübde bedeutet und ihm nahe zu legen, dass das ihm gemachte Versprechen nicht vergessen sei. Welchen Zusammenhang das alles aber mit dem Fremden habe, das war ihm ein vollkommenes Rätsel.
Der Fremde war aber nur für Rabbi Wolf fremd.
Wir wissen bereits, dass es niemand anders als Sander Goldsticker aus Koblenz war und unsere Ahnung über den Zweck seines Besuches beim Baal-Schem von Michelstadt bestätigte er selber, indem er mit niedergeschlagenen Augen erwiderte:
„Die Worte des Rabbi bedürfen meiner Bestätigung nicht. Ich wollte, bevor ich die Mahnung des Rabbi befolgte und mein Gelöbnis voll und ganz einlöste, noch einmal persönliche Rücksprache deshalb nehmen. Der Rabbi begreift, wie schwer es in dieser Zeit ist, eine so große Summe auf einmal…“
Hier unterbrach der Rabbi den Sprechenden mit tiefernstem Tone:
“Rabbi Sander, jedes Wort, das Ihr sprechen wollt, um eine Verpflichtung, die nun einmal auf Euch liegt, von Euch abzuwälzen, kann verhängnisvoll für Euch werden. Wenn Euch das Leben von Frau und Kind, wenn Euch Euer eigenes Leben lieb ist, so folgt unverzüglich dem, was ich Euch jetzt sage.“
Goldsticker erhob jetzt den Blick, um dem Rabbi ins Auge zu schauen, ließ ihn aber sofort wieder sinken, als der Rabbi fragte:
„Wie groß war Euer Vermögen, als Ihr vor G-tt gelobt habt, die Hälfte davon den Armen zu geben?“
„Achttausend Gulden.“
„Und wie viel habt Ihr davon den Armen gegeben?”
„Zweitausend Gulden.“
„Wieviel habt Ihr bis jetzt für Doktoren, Professoren und Apotheker zur Heilung Eurer Frau ausgegeben?“
Goldsticker nahm ein Notizbuch aus der Tasche, und antwortete, nachdem er einige Minuten die betreffenden Notizen zusammengezählt hatte: :
„Sechszehnhundert Gulden, Rabbi!“
„Was man den Armen vorenthält, muss man dem Arzte geben,“ sagte der Rabbi. „Ihr habt also noch vierhundert Gulden zu zahlen. Zahlt sie sofort Eurem Begleiter, Rabbi Wolf Muhr. Er gedenkt übermorgen seine Tochter zu verheiraten und es fehlt ihm noch gerade diese Summe.“ Ohne ein Wort zusprechen, öffnete Sander Goldsticker seinen Geldgurt und legte in Dublonen die Summe von vierhundert Gulden auf den Tisch.
Der Rabbi ging in sein Nebenzimmer und kam nach einigen – Minuten mit einem ledernen Beutelchen zurück, legte das Geld hinein und übergab es Rabbi Wolf mit den Worten:
„So, jetzt geht mit Eurem Geld in G-ttes Namen heim und verheiratet Eure Tochter, es soll Euch Masel und Brocho bringen. Und Ihr, Rabbi Sander, reist sobald als möglich nach Hause, Ihr werdet Eure Frau auf dem Wege der Besserung und bald vollkommen genesen finden. Oder habt Ihr vielleicht noch ein Anliegen?“
„Ich habe sonst nichts auf dem Herzen“ entgegnete der Gefragte, „als meinen Dank für den Rat und die bestimmte Zusage, dass meine Frau ihre Gesundheit wieder erlangt. Aber woher hat der Rabbi gewusst, in welcher Angelegenheit ich hierhergekommen bin?“ 7
„Nun, dazu gehört wahrlich keine besondere Chochma (Weisheit)“, erwiderte der Baal-Schem, „nachdem ich aus Eurem Briefe an mich wusste, wie Euch die Krankheit Eurer Frau nahe geht.“
Aber woher weiß der Rabbi so sicher, dass meine Frau ihre Gesundheit sobald wieder erlangt?“
„Darüber,“ antwortete der Rabbi. „können wir vielleicht später einmal sprechen, nachdem Ihr Euch überzeugt haben werdet, dass die gute Botschaft sich wirklich so erfüllt hat, wie ich sie Euch verkündet habe.“
Das Gespräch wurde durch ein Pochen an die Türe unterbrochen.
Der Rabbi öffnete dieselbe, und eine Frau trat ein. Goldsticker verabschiedete sich, während Rabbi Wolf Muhr zurückblieb. Es handelte sich um eine Scheidung, wegen welcher die Frau auf diese Stunde vorgeladen war. Da Rabbi Wolf Muhr als Dajan (Rabbinats-Assessor) bei dem Akte mitzuwirken hatte, so fragte er den Rabbi, ob er zugegen bleiben solle, um ihm wegen Anberaumung des Get (Scheidung) zur Seite zu sein.
„Soweit halten wir noch nicht,“ entgegnete leise der Rabbi, „ich hoffe immer noch, dass es gelingen wird, einen gütlichen Ausgleich zu Stande zu bringen. Aber Ihr könnt, wenn Ihr wollt, gern zugegen sein, um mir vielleicht bei dem Sühneversuch zur Seite stehen.“
„Der Rabbi hat dazu meine Hilfe nicht nötig,“ entgegnete Rabbi Wolf. „Ich glaube sogar, dass meine Anwesenheit mehr stören als nützen kann. Aber wenn es der Rabbi gestattet, bleibe ich gerne hier. Ich lerne von dem Sichas Chulin (die gewöhnliche, alltägliche Unterhaltung) des Rabbi mehr, als von dem gelehrten Vortrag eines großen Meisters.“
Fortsetzung folgt ijH