Rabbi Ezriel Tauber SZl – L’ilui nischmat Hamechaber
Die Kraft der Taten im Privaten
Wie ich sagte, ist es heutzutage nicht unbedingt unsere Aufgabe, für Kiddusch Haschem zu sterben. Heute ist es unsere Aufgabe, für Kiddusch Haschem zu leben — durch unser tagtägliches Leben. Jeder Jude hat einen anderen Auftrag, wo und wie er Kiddusch Haschem machen soll; der Geschäftsmann in der Geschäftswelt, der Jeschiwa-Bachur in der Jeschiwa-Welt, die Karrierefrau in ihrem Beruf und die Hausfrau zu Hause; die kinderlosen Ehepaare und die Ehepaare mit mehr Kindern als sie betreuen können; der Reiche und der Arme; der Gesunde und der Kranke; der Junge und der Alte – niemand sollte jemals zu irgendeiner Zeit daran gehindert sein, weil dies das Wichtigste an unserem Leben auf dieser Welt ist.
Dies macht das Leben zum Leben.
Dies macht davon mehr als eine Serie von Videos und Ferien. Dies macht es unter allen Umständen bedeutungsvoll und lebenswert.
Der Rambam, Maimonides, erweitert unser ganzes Konzept von Kiddusch Haschem mit einer tiefen, weitreichenden Einsicht. Er schreibt, dass eine gerechte Tat Kiddusch Haschem ist, auch wenn es niemand anderer sieht. Man nimmt üblicherweise an, dass man unter Kiddusch Haschem nur die öffentliche Heiligung von G-tt versteht. Das ist falsch. Kiddusch Haschem liegt nicht nur dann vor, wenn ich nach außen gehe und etwas mache, über das die anderen sagen: “Schau, was für ein guter Jude er ist.“ Kiddusch Haschem kann auch stattfinden, wenn niemand es sieht, wenn Sie allein mit G-tt sind.
Zum Beispiel: Ein Mann kommt nach Hause und macht eine unpassende Bemerkung. Die Frau könnte ihm eine scharfe Antwort darauf geben, besonders weil er es verdient hat. Statt dessen bleibt die Frau ruhig. Oder es kann die Frau sein, die die Bemerkung macht, oder die Schwiegereltern oder die Nachbarn; und Sie könnten ihnen wirklich darauf antworten. Aber Sie bleiben still und ruhig, denn Sie wissen, dass es Chillul Haschem sein würde, eine große Szene zu machen oder die andere Person zu verletzen. Das ist ein privater Kiddusch Haschem. Nur G-tt weiß, wie schwierig es für Sie war, zu schweigen und darauf zu warten, bis das schlechte Gefühl vorbei und vergessen ist.
Dies ist ein großer Kiddusch Haschem.
Meiner Meinung nach sind es diese Arten von privatem Kiddusch Haschem, die heute unsere Welt revolutionieren. Zehntausende von Ba’alei Teschuwa, junge Menschen aus Kreisen, die dem Judentum völlig fernstehen, schießen aus dem Boden heraus wie Pilze. Viele Menschen fragen, warum diese Ba’alei Teschuwa plötzlich den Wunsch haben, religiös zu werden. Meiner Meinung nach wird dies durch all die Kiddusch Haschem verursacht, die im Privaten gemacht werden. Jede private Tat strahlt vom Himmel zurück und berührt einen entfremdeten Juden, der allein in seinem Zimmer sitzt und beschließt, nach seinen Wurzeln zu forschen.
Stellen Sie sich das folgendermaßen vor: Sie lesen diese Zeilen wahrscheinlich in einem gut beleuchteten Zimmer. Das Licht kommt von einem Generator, der durch das Elektrizitätswerk betrieben wird. Man sieht den Generator nicht, er befindet sich weit weg in einem Gebäude mit Maschinen. Trotzdem erzeugt er die Energie, um nicht nur dieses Zimmer, sondern auch hunderttausende andere Zimmer zu beleuchten. Genauso verhält es sich mit dem privaten Kiddusch Haschem. Er kann genau so viel Kraft, wenn nicht sogar mehr Kraft als der Kiddusch Haschem vor einer riesigen Menschenansammlung haben. Ein entfremdeter Jude in der Universität in Atlanta oder Texas wacht eines Morgens auf und beschließt plötzlich, an einem Wochenende über Tora und Mizwot teilzunehmen.
Ich will eine wahre Geschichte erzählen.
Vor ein paar Jahren war ich unterwegs, um ein Seminar in Atlanta (Georgia) zu geben. Mein Flugzeug hätte um 12:30 abfliegen sollen, hatte war aber drei Stunden Verspätung. Der Flughafen war stickig und mit Menschen überfüllt. Ich habe mich hingesetzt und mir überlegt: “Haschem, Du hast mir den Auftrag gegeben, Leuten in Atlanta Tora zu lehren. Wenn es mein Auftrag ist, in Atlanta ein Seminar zu geben, dann ist diese Zeit hier vergeudet und mein Auftrag ist misslungen. Mein wirklicher Auftrag ist aber, Kiddusch Haschem zu machen, unabhängig davon, wo ich bin. Du hast mir einen anderen Auftrag gegeben: in einem heißen, stickigen Flughafen für ein paar Stunden stecken zu bleiben. Da Du jedoch auch jetzt Teil meines Lebens bist, ist jeder Moment ein potenzielles Ziel für sich. Deshalb werde ich hier sitzen, Dir dienen, meine Gebete sagen und daraus eine wertvolle Situation machen.“
Was habe ich wirklich damit erreicht, dass ich hier gesessen bin? Am Sonntag, als das Seminar fertig war, kam ein 18-jähriger Jugendlicher mit einem Rossschwanz zu mir und sagte: “Rabbi, Sie haben mich wirklich beeindruckt. Wegen Ihnen habe ich beschlossen, für ein Jahr nach Israel zu gehen und in einer Jeschiwa zu lernen.“ Dann sagte er mir: “Wissen Sie, was mich am meisten beeindruckt hat? Ihre Geschichte über die dreistündige Verspätung am Flughafen. Ich habe gemerkt, was es bedeutet, ein Jüdisches Leben zu leben, dass jede Minute bedeutungsvoll ist.“
Menschen machen oft einen Fehler, indem sie meinen, dass das Leben nur einen Wert hat, wenn sie etwas daraus machen können. Wenn die Situation dunkel und hoffnungslos scheint, die Träume in irgendeiner Art verloren zu sein scheinen, geben sie auf.
Sie realisieren nicht, dass jeder Moment im Leben, unabhängig unter welchen Umständen, eine Gelegenheit ist, um eine Art von Kiddusch Haschem zu vollbringen.
Ich unterrichte viele kinderlose Ehepaare, die diesen Punkt im Besonderen verstehen müssen. G-tt befiehlt uns, Kinder zu haben. Wieso muss dies ein Gesetz sein; wäre es nicht besser für die Menschen, freiwillig Kinder zu wollen, ohne dass es ihnen befohlen wird? Jedes Gesetz ist aber eine g-ttliche Aufgabe. Sie macht nicht nur das Endresultat zu einem Ziel, sondern auch jeden Schritt im Prozess der Erfüllung eines G-ttlichen Gesetzes.
Nehmen wir ein Beispiel: Wenn alles gut geht, lebt eine schwangere Frau neun Monate mit morgendlicher Übelkeit, Unannehmlichkeiten und Gefühlsschwankungen, die schließlich ihren Höhepunkt in unerträglichen Geburtsschmerzen haben. Trotz all dieser Unannehmlichkeiten sieht sie am Schluss ihr Neugeborenes an und sagt, dass es all das wert war. Was aber, wenn sie ein paar Monate schwanger wäre, und G-tt behüte, eine Fehlgeburt hat? Wie schrecklich! Oder wenn das Kind behindert oder entwicklungsretardiert ist? Oder wenn ihr gesundes Kind zu einem Problemkind wird? Was wird die Mutter dann denken? Dass aller Schmerz und alle Mühe umsonst waren.
Es muss aber nicht so sein. Unsere Aufgabe ist es, Kiddusch Haschem zu machen.
Wir müssen tun, was auch immer G-tt in diesem Zeitpunkt von uns verlangt. Wenn Sie die Verantwortung dieses Augenblicks wahrnehmen, dann haben Sie Ihren Auftrag erfüllt! Stellen Sie sich die schwangere Frau mit der Fehlgeburt vor. Sie kann sich selber sagen: “G-tt, Du hast mir befohlen, Kinder zu haben. Es ist meine Angelegenheit zu versuchen, dieses Gesetz zu erfüllen. Ich habe aber keine Garantie für das Endresultat. Ich weiß, dass ich die Aufgabe erfüllt habe, solange ich die nötigen Schritte unternehme.“ Wenn sie sagt : “Ich habe die Aufgabe erfüllt“ und sie es ernst meint, wird sie nie daran zerbrechen. In der Tat, in jeder Sekunde ihrer Schwangerschaft ist es so, als ob sie gebären würde. Ihr Gefühl von Erfüllung ist nicht vom Resultat abhängig, das sowieso nur in G-ttes Händen liegt.
Wir müssen uns nicht darauf konzentrieren, was sein wird. Wir müssen uns nur darum sorgen, was wir in diesem Moment machen. Wenn ich das mache, was G-tt von mir in diesem Moment erwartet, dann habe ich die Aufgabe erfüllt.
Ein Moment ist wirklich unbezahlbar
Die folgende Geschichte führt direkt zum Kern dieses Themas. Vor einigen Jahren erkrankte ein 18-jähriger Junge, der in einer Jeschiwa lernte, an Krebs. Er wurde so krank, dass die Ärzte sagten, dass Chemotherapie nicht helfen würde. Sie rieten der Familie, ihn vom Spital nach Hause zu nehmen, damit er seine letzten Tage in Frieden verbringen könne. Der Junge war sehr krank. Die Familie gab aber nicht auf. Sie brachte ihn nach Amerika und fand eine Klinik, die nicht weit von meinem Wohnort entfernt ist. Die Familie wohnte schließlich bei meinem Schwiegersohn.
“Unter normalen Umständen kann nichts gemacht werden“, sagten die Ärzte zu ihnen. “Es gibt jedoch eine neue Art von Therapie, die zwar sehr schmerzhaft ist, sein Leben aber um ein bis zwei Monate verlängern wird.“ Die Ärzte wollten die Therapie nur durchführen, wenn der Patient eine Erklärung unterschreibt, mit der er die volle Verantwortung für das Verfahren übernimmt. Die Eltern fragten einen großen Toragelehrten, ob es ihrem Sohn erlaubt oder ob er sogar verpflichtet sei, diese Therapie auf sich zu nehmen.
Nach Erwägung aller Einzelheiten sagte er ihnen, dass in diesem speziellen Fall nur der Sohn alleine die Entscheidung treffen könne.
Kurz danach rief mich der Vater an und sagte, dass sein Sohn mit mir sprechen wolle. Ich ging zu ihm; der Sohn bat seine Eltern kurz wegzugehen, damit er dies mit mir alleine besprechen konnte.
“Ich weiß, dass ich bald sterben werde“, sagte er mir, “und ich habe keine Klagen gegen G-tt, obwohl ich nicht verstehe, warum ich in diese Situation gekommen bin. Ich habe keine Angst. Was mich am meisten stört, ist, dass meine Familie leiden wird. Wenn G-tt das von mir möchte, akzeptiere ich es vollständig. Trotzdem“, setzte er fort, “man hat mir über diese Therapie erzählt, die mein Leben ein oder zwei Monate verlängert. Ich soll selbst darüber entscheiden, ob ich sie auf mich nehmen will. Meine Frage an Sie ist: Was erreiche ich, wenn ich einen Monat länger lebe? Ich liege hier hilflos, angeschlossen an all die Schläuche; ich kann mich nicht mehr als fünf Minuten hintereinander konzentrieren. Meine Familie wird einen Sohn verlieren; quält es sie aber nicht mehr, wenn sie mich einen Monat länger so sieht? Was soll ich machen?“
Zuerst sagte ich ihm, dass ich nicht hoffe, dass er den Entscheid mir überlässt.
Er nickte. Dann sagte ich ihm, dass ich ihm höchstens erklären könne, wie viel das Leben eines zusätzlichen Monats wert sei. Wenn er versteht, wie viel es wert ist, könne er die Entscheidung besser treffen.
Ich begann das Gespräch mit der Frage, welches das größte Gesetz in der Tora ist. Schließlich war er einverstanden damit, dass das Gesetz zu leben das größte ist. Die Tora sagt uns Chai Bahem, mit ihnen (den Gesetzen) zu leben. Leben ist der größte Befehl, denn das Gesetz “mit ihnen zu leben“ sagt uns, dass wir die Gesetze der Tora übertreten müssen, falls eine Situation eintrifft, die unser Leben gefährdet. Wenn jemand auf einer verlassenen Insel ist und er nur überleben kann, indem er Schweinefleisch isst, hat er nicht nur die Erlaubnis, dies zu tun, sondern ist sogar dazu verpflichtet.
Ich fuhr fort und erzählte ihm über eine Diskussion des Toragesetzes, die obwohl sie hypothetisch ist, ein Licht auf dieses Thema wirft.
“Stelle dir einen sehr alten Menschen vor, der im Spital dahinvegetiert. Die Ärzte versprechen der Familie, dass sein Leben einen Moment verlängert werden kann. Die Behandlung setzt aber voraus, dass sämtliche Juden der Welt alle Gesetze der Tora übertreten (ausser Mord, Ehebruch und Götzendienst, die die drei Ausnahmen vom Gesetz “mit ihnen Leben“ darstellen). Ich weiß, dass dies ganz hypothetisch ist“ sagte ich ihm, “aber stelle dir so einen Fall vor: Anstatt mit 100 Jahren zu sterben, wird diese Person mit 100 Jahren plus einem Moment sterben, wenn alle Juden zum Beispiel Schweinefleisch am Jom Kippur essen. Was befiehlt das Toragesetz unter solchen Umständen? Die Antwort ist nicht nur, dass es erlaubt ist, in einem solchen Fall zu sündigen, sondern dass man sündigen muss, um diesen zusätzlichen Moment hinzuzufügen.
“Dieses Toragesetz“, sagte ich ihm, “zeigt uns, wie viel ein Moment des Lebens wert ist. G-tt sagt uns, dass er zwar die Welt so erschaffen hat, dass wir alle Gesetze der Tora befolgen können. Wenn aber ein Mensch dadurch einen Moment länger leben kann, dass das Erfüllen dieser Gesetze temporär aufgehoben wird, zieht G-tt es vor, dass wir sie nicht erfüllen.
So viel ist Ihm ein Moment Leben wert.
“Nimm einen tiefen Atemzug,“ sagte ich diesem jungen Mann. “König David schrieb: Jede Seele (Neschama) dankt G-tt. Durch das Auswechseln des Vokals im zweiten Wort kann man lesen: Jeder Atemzug (Neschima) dankt G-tt. Jeder Atemzug ist eine extra Sekunde Leben, und eine Sekunde von unserem Leben verschafft G-tt unbeschreibliche Gewinne. Denke darüber nach. Wir mit unserem beschränkten Intellekt können nicht wirklich verstehen, wie G-tt etwas durch unser Leben gewinnt. Aber er muss etwas Unbeschreibliches gewinnen, wenn er damit einverstanden ist, dass die gesamte Tora übertreten wird, damit ein Mensch einen zusätzlichen Moment Leben erhält. Ein einzelner Atemzug ist das Lied des Lebens, auch wenn dieses Leben aus unerträglichem Schmerz oder aus einem Dahinvegetieren besteht.
“Du fragst mich,“ sagte ich ihm, “was du mit dem Verlängern deines Lebens um einen Monat erreichen kannst. Ich frage dich: Realisierst du, wie viel G-tt bereit ist, zu opfern damit du einen Moment länger leben kannst? Ich sage dir nicht, was du machen sollst. Aber die Entscheidung, eine zusätzliche Therapie zu machen, ist eine Erklärung an die Welt, dass Leben, egal in welcher Form, das wertvollste Geschenk ist.
Du würdest uns zeigen, wie ein Mensch, der sein Leben zu verlieren droht, bereit ist, den höchst möglichen Preis für mehr Leben zu bezahlen.
Du würdest es nicht für dich tun, denn du hast keine Angst zu sterben; du machst es auch nicht für deine Familie, denn sie leidet nur noch mehr, wenn sie dich in diesem Stadium sieht. Du würdest es tun, weil G-tt dir gesagt hat, was ein Moment von Leben Ihm wert ist. Es ist eine Erklärung an G-tt, dass die Möglichkeit, ein Paar Atemzüge des Lebens zu nehmen, das Er dir gab, deine Motivation zu leben ist.
“Leider,“ schloss ich, “existieren viele von uns einfach. Wir klagen über alles, das in unserem Leben falsch läuft. Wir sind nicht genügend empfindsam; wir wissen nicht wirklich, was Leben ist. Wir schätzen den Wert des Moments nicht. Da du aber keine andere Wahl hast, als dich der Realität zu stellen und für jeden Moment des Lebens zu kämpfen, kannst du uns eine Lektion über Leben erteilen. Wenn du das tust, bist du unser Lehrer.“
Er beschloss, die Therapie zu machen.
Ein paar Tage später kam sein Vater aufgeregt zu mir und fragte: “Was haben Sie ihm gesagt, was haben Sie ihm gesagt? Er lächelt immer. Die Ärzte verstehen nicht, dass er die Therapie so gut verträgt und fragen mich nach dem Grund dafür. Ich sagte ihnen, dass er so ist, seit Sie mit ihm gesprochen haben. Rabbi, was haben Sie ihm gesagt? Haben Sie ihn hypnotisiert oder so etwas?“ Ich versicherte dem Vater, dass ich nicht mehr getan habe als ihm die Einstellung der Tora über Leben zu erklären.
Dieser Junge war sehr krank, aber zur Überraschung der Ärzte fühlte er sich während diesem Monat gut genug, um das Spital für eine Weile zu verlassen. Er wohnte im Haus meiner Tochter. Ich besuchte ihn dort und er erklärte mir, dass er sich manchmal, wenn er starke Schmerzen habe, nicht richtig konzentriere könne und sich nicht mehr daran erinnere, was ich ihm gesagt hatte. Er nahm ein Tonbandgerät und bat mich, alles zu wiederholen. Er wollte auch ein paar Fragen auf der Kassette hinzufügen, die sich in der Zwischenzeit ergeben hatten.
Eine Frage betraf die Lehre des Talmud, dass sogar die schlechteste Person nicht länger als zwölf Monate im Gehinom (Hölle) leidet. Er sei aber bereits im dreizehnten Monat seiner Krankheit. Meine Antwort war, dass man im Gehinom seine Seele reinigt; hier in diesem Leben erweitert man seine Seele, man macht mehr aus ihr. Dieses Leben ist eine Zeit der Produktivität; nach dem Tod erntet man, man sät aber nichts Neues. Deshalb sagt der Talmud, dass ein Moment des Lebens auf dieser Welt mehr wert ist als die ganze Existenz in der zukünftigen Welt.
Als er dies hörte, breitete sich ein Lachen auf seinem Gesicht aus.
Nach einer kurzen Zeit musste er ins Spital zurückkehren. Er hörte ständig die Kassette. Die Ärzte und Schwestern konnten nicht verstehen, weshalb er immer glücklich war. Sie realisierten es nicht, sein Geheimnis war aber, dass er das Leben wirklich schätzte. Er war nicht hypnotisiert; wir sind hypnotisiert. Er war klar, er lebte.
Am Shabbat vor Pessach verließ er diese Welt, aber auch dann war ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Wahres Glück kommt vom Bewusstsein, dass jeder Augenblick zur Erfüllung des grundlegenden Ziels verwandelt wird. Dieser junge Mann wandelte Atemzug für Atemzug dieses Lebens in zukünftiges Leben um, während er noch da war. Er machte Kiddusch Haschem, die größte Art von Kiddusch Haschem.
Zniut – die bedeutendste Herausforderung unserer Zeit
Während dem Holocaust bestand die Herausforderung darin, einen Kiddusch Haschem zu machen und das Kaddischgebet zu sagen. In unserer Zeit ist die größte Herausforderung meiner Meinung nach das Gebiet von Zniut (Bescheidenheit oder Innerlichkeit, d.h. ehrlich zu seinem höchst kreativen Inneren zu sein, wie wir es erklären werden). Frauen und Männer benötigen Zniut, aber im Allgemeinen mit verschiedenen Schwerpunkten.
Für einen Mann ist der Brit, die Beschneidung, das Symbol für seine Verantwortung mit Zniut zu handeln; er muss zurückhaltend mit der Art sein, wie er den stärksten, kreativsten Trieb einsetzt. Er muss diesen Trieb beschneiden. Der Trieb der Frau ist genauso stark, er äußert sich bei ihr aber vor allem im Wunsch, ihre Schönheit zu zeigen. Die Frau erfüllt daher ihre Verantwortlichkeit, mit Zniut zu handeln, vor allem durch bescheidene, dem jüdischen Gesetz entsprechende Kleidung.
Es ist offensichtlich, dass das ganze Konzept von Zniut, speziell für Frauen, unter direktem und aggressiven “feindlichem Angriff“ der heutigen Gesellschaft steht. König Schlomo sagte, kol kevuda bat melech p’nima, “aller Ruhm einer königlichen Tochter ist innen.“ Hat dieser Gedanke auch in der heutigen Zeit noch Bedeutung, in der sogar die traditionellen jüdischen Frauen der Arbeitswelt beitreten, um ihren Kollel-Ehegatten das Lernen zu ermöglichen? Diese jüdischen Frauen sind nicht “innen“ sondern “außen“. Müssen wir daraus schließen, dass die Lehre von König Salomo in der heutigen Zeit nicht mehr anwendbar ist?
NEIN
Wir müssen keinen Zentimeter von kol kevuda bat melech p’nima aufgeben. Wir können “innen“ sein, so wie es unsere Großeltern waren. Als Erstes müssen wir verstehen, was die Bedeutung von wirklicher Abgeschlossenheit ist. Vor Jahren war die Definition von Innerlichkeit und Abgeschlossenheit die physische Isolation. Es gab eine richtige Mauer, eine richtige Stadtgrenze. Heute schirmt eine Backsteinmauer überhaupt nicht ab. Man kann noch so abgeschirmt leben, trotzdem kann der ganze Schmutz der Umwelt in die Privatsphäre des Hauses gelangen, ohne dass das außen jemand merkt. Wir sind nicht mehr abgeschirmt, weil wir in einer bestimmten Umgebung leben. Heute dringt das Äußere in die tiefsten Festungen des Inneren.
Gleichzeitig gilt auch das Umgekehrte.
Wenn die uns umgebende Umwelt in das jüdische Heim dringen kann, in ein Jüdisches Mikdasch Me‘at (ein kleines Heiligtum), dann kann auch ein Mikdasch Me’at in die Umwelt eindringen. Wie? Können wir unser Zniut, Zurückhaltung und Innerlichkeit, wirklich pflegen wenn wir gezwungen werden, uns in die äußere Welt hinaus zu wagen? Ja. Wir müssen uns nur an unseren Zweck erinnern: Kiddusch Haschem zu machen, den Namen von G-tt zu heiligen.
Wir Juden sind meist erfolgreich. Ein jüdischer Geschäftsmann ist normalerweise der Beste auf seinem Gebiet. Das Gleiche gilt für den jüdischen Rechtsanwalt und den jüdischen Arzt. Und leider ist auch ein jüdischer Krimineller der Beste auf seinem Gebiet. Aber wo wir sind und was wir sind, wir haben einen Zweck: Kiddusch Haschem zu machen.
Ja, sogar ein jüdischer Krimineller kann Kiddusch Haschem machen.
Ich besuche ab und zu jüdische Gefangene in einem Hochsicherheitsgefängnis in New York. Einige von ihnen hatten sich in den letzten drei bis vier Jahren gut entwickelt. Sie dachten, dass es völlig wertlos war, die Zeit dort abzusitzen. “Ihr sitzt keine Zeit ab“, sagte ich ihnen. “Ihr produziert Zeit. Ihr seid für den gleichen Zweck hier wie ich es bin: um Kiddusch Haschem zu machen, den Namen von G-tt zu heiligen. Natürlich habt Ihr Fehler gemacht. Denkt aber nicht, dass Ihr hier eingesperrt wurdet, weil Euer Richter antisemitisch oder Euer Anwalt nicht kompetent genug war. Es gibt viele Leute, die das Gleiche getan haben, ebenfalls vor Gericht gebracht wurden und trotzdem auf freiem Fuß leben. Ihr seid hier, sagte ich ihnen, “weil G-tt euch hierher geschickt hat. Ihr müsst euch selber finden.“ Und vielen von ihnen gelingt das auch.
Wir Juden sind tüchtige Leute: im Geschäft, in Spitälern, in Konkursfällen und in Gefängnissen; wir können dies nicht verhindern.
G-tt möchte, dass wir uns außen in der Welt bewegen. Entscheidend ist, dass er uns aus einem Grund in die Welt gesetzt hat, um Kiddusch Haschem zu machen, wo wir auch sind. Diese Haltung muss der jüdische Berufstätige oder Geschäftsmann entwickeln.
Sewulun, der Stamm der Händler, war damit gesegnet, in Partnerschaft mit dem Stamm Jissachar zu arbeiten. Der Stamm Jissachar konnte sich dadurch das ganze Leben hindurch abgeschirmt in einer lernenden Umgebung dem Torastudium widmen. Wir sind auch heute in “Jissachars“ und “Sewuluns“ aufgeteilt. Es macht indessen keinen Sinn zu sagen, dass G-tt Sewulun für die Arbeitswelt bestimmt hat, damit Jissachar abgeschirmt lernen kann. G-tt kann alles machen. In Wirklichkeit befindet sich Sewulun in der Arbeitswelt aus einem positiven Grund: die Tora muss in der Geschäftswelt verbreitet werden und Sewulun wurde für diese Aufgabe bestimmt; er ist dort, um Kiddusch Haschem zu machen.
Ein Sewulun muss realisieren, dass G-tt ihn speziell an seinen Platz gestellt hat, weil er möchte, dass er eine Aufgabe genau dort erfüllt, an seinem Arbeitsort, so wie Er Jissachar eine Aufgabe in der Jeschiwa erfüllen lässt. Solange Sewulun weiß, dass er am Arbeitsort ist, um die Mizwa von Kiddusch Haschem zu erfüllen, ist er mit einem speziellen Schutz umhüllt, denn der Talmud sagt, dass der Bote einer Mitzwa keinen Schaden erleidet. Ein Bote ist jemand, der seinen Willen aufhebt, um den Willen seines Auftraggebers zu erfüllen. Er wird der verlängerte Arm seines Auftraggebers. Eine Mitzwa ist der Ausdruck des Willens G-ttes. Je mehr ein Sewulun-Typ ein aufrichtiger Bote von G-ttes Willen ist, desto mehr verdient er, den speziellen G-ttlichen Schutz.
Dies ist der springende Punkt:
Wenn man immer daran denkt, dass es das einzige wirkliche Ziel ist, den Befehl von Kiddusch Haschem zu erfüllen, unter welchen Umständen man sich auch befindet, schafft und pflegt man einen geistigen Zustand von Zniut, Zurückhaltung und Innerlichkeit. Ja, man kann es mitnehmen, wohin man auch geht. Wenn Sie gezwungenermaßen den Unmäßigkeiten der Geschäftswelt ausgesetzt sind, müssen Sie sich immer sagen, dass Sie für einen Hauptzweck hier sind: G-tt zu repräsentieren, den Namen des Himmels zu heiligen. Wenn man den Punkt erreicht, an dem man eine Erweiterung von G-tt ist, dann hat man die Kraft, die Hindernisse zu überwinden und im Inneren rein zu bleiben.
Eine persönliche Erfahrung
Ich bin in einer sehr beschützten Umgebung aufgewachsen. Dies ist ein Verdienst meiner Eltern und Lehrer. Ich bildete auch weiterhin eine physisch möglichst abgeschirmte Umgebung um mich herum. Ich musste aber während Jahren zur Arbeit ins Zentrum von New York fahren. Ich parkierte mein Auto im schlimmsten Teil des Zentrums und musste einige schlechte Quartiere durchqueren, um zu meinem Arbeitsort zu kommen. Eines Tages dämmerte es in mir, nach einem Schabbat in Monsey und einem Sonntag vertieft in Lernen, dass man sich nicht “außen“ fühlen sollte, man kann immer auch “innen“ bleiben. Als ich die volle Wirkung dieses Gedankens erfasste, realisierte ich, dass ich und alle Busladungen von Juden, die von den Vorstädten in die Stadt kamen, Soldaten sind, die in das “feindliche Gebiet“ einziehen.
Beten, Lernen, aufrichtig Handeln; Kiddusch Haschem schaffen – wir sind ein richtiges Armeekommando, das in die 49. Stufe der Tuma (Unreinheit) eindringt – die schmutzigste Gegend von New York City. Während Dekaden haben wir Soldaten dies gemacht. Wir haben Kiddusch Haschem gemacht (und tun dies auch weiterhin), und benutzen unser Geld, um Jeschiwot, Bet Jakob-Schulen und Wohltätigkeitsinstitutionen zu gründen. Unsere Kinder lernen in fortschrittlichen Institutionen überall in der Welt. Dies ist nicht nur eine defensive Haltung.
Dies findet dort statt, wo die härtesten Kämpfe für die jüdische Seele gekämpft werden.
Ich sage nicht, dass es leicht ist. Das “Innere“ in der äußeren Welt zu erhalten, braucht Wille, Klugheit und den Einfallsreichtum eines Kommandos. Trotzdem ist es möglich, sehr schnell zu lernen, wie große Dinge mit unseren eigenen, kleinen Mitteln erreicht werden können. Es beginnt alles mit unseren Gedanken. Wir haben die Kontrolle über dieses Schlachtfeld. Der Impuls zur umfassenden Kriegsanstrengung hängt von uns ab und von der nächsten Begegnung mit unserem Feind. Wenn man sich an Zniut als Weltanschauung erinnert, ist man bestens ausgerüstet, nicht nur den Kampf zu überleben, sondern auch einen wichtigen Einfluss auf die Kriegsanstrengungen auszuüben.
(Es ist wichtig, dass dies nicht missverstanden wird. Daher möchte ich hinzufügen, dass ich nicht einem Seminarstudenten vorschlage, seine Ideale aufzugeben und ein Lehrer zu werden, um die Gelegenheit zu haben einen Kiddusch Haschem im Zentrum von New York zu machen. Ich sage nicht, dass ein Gelehrter die vier Wände seiner beschützten Umgebung verlassen und ein Geschäftsmann werden soll. Aber für diejenigen die schon in der Geschäftswelt sind oder denen geraten wird, einen Beruf zu erlernen, sind solche geistigen Ziele von enormer Bedeutung.)
Alles zusammenbringen
Dieses Eröffnungskapitel ist weitaus das längste in diesem Buch und auch das wichtigste. Wir können nicht über die Bibel, Tora, Philosophie etc. sprechen, wenn wir nicht die Bedeutung des Lebens und unseres Zweckes hier kennen. Die Tora sagt uns, dass wir für einen Zweck hier sind, wir sind hier, um G-tt in diese Welt zu bringen, um diese Welt zu einer Reflexion des Himmels zu machen.
Wirklich zu wissen, dass G-tt existiert, bedeutet, ein Leben leben, das mit dieser Erkenntnis übereinstimmt Wir können G-tt nicht intellektuell anerkennen und dann so handeln, als ob es Ihn nicht gebe. Es ist nicht einfach, Übereinstimmung zu erreichen zwischen dem, was wir glauben und unserer Art zu handeln. Aber es ist möglich.
Wir haben keine Chance, wenn wir das magische Wort des Judentums nicht kennen: Kiddusch Haschem. Wenn wir uns immer daran erinnern, unabhängig unter welchen Umständen, ist dies eine weitere Gelegenheit, den Namen unseres G-ttes zu heiligen. Dann können wir unser Leben verändern und danach können wir die Welt verändern.
Fortsetzung folgt ijH.
Zusammengestellt durch Yaakov Astor, Ins Deutsche übersetzt durch David Halonbrenner, überarbeitet durch Rolf Halonbrenner und Clarisse Pifko
Mit ausdrücklicher Erlaubnis des Copyrightinhabers Juefo.com. Das Sefer kann unter info@juefo.com bestellt werden.