Ein Schlag verdient den zweiten

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Schlag

Der Gaon Reb Lippa, der heilige Raw von Scharigrod, war ein solcher Matmid, dass er jegliches Zeitgefühl verlor, wenn er ins Lernen vertieft war. Er vergass zu essen, zu schlafen und sogar zu dawenen! Die Kehila in Scharigrod stellte daher einen Schamasch an, der die Pflicht hatte, den Raw zu erinnern, wann er essen oder dawenen musste, und ihm zu sagen, wann es Zeit für den nächsten Din Tora vor dem Bet Din sei. Raw Lippa war nicht nur ein Ilui mit einem schnellen, wachen Geist – er war auch sehr flink auf seinen Beinen. Er verschwendete nie eine Sekunde seiner kostbaren Lernzeit. Als er älter wurde, fand es der Schamasch immer schwieriger, mit dem schnellen Raw Schritt zu halten. Die Kehila entschied daher, einen jüngeren Schamasch anzustellen, der die Pflicht hatte, Raw Lippa zu folgen und sicher zu stellen, dass dieser keine Mahlzeit, keine Tefila oder Kahal-Pflichten versäumte.

Der Raw war einverstanden, doch bestand er darauf, dass der junge Schamasch kein Jeschiwabachur sei, der zum Toralernen fähig ist, da er nicht für dessen Bitul Tora verantwortlich sein wollte. Die Kehila suchte lange, bis sie den richtigen Kandidaten fanden- einen jungen, einfachen Knaben, der noch nie Interesse am Lernen gezeigt hatte. Dieser Junge war jedoch leider sehr unreif und äusserst faul. Er merkte bald, dass er sich das Leben viel leichter machen konnte, wenn er seine Pflichten nicht gewissenhaft ausübte. Er verursachte Raw Lippa viel Agmat Nefesch, weil er sich nicht bemühte, ihm die Mahlzeiten regelmässig zu bringen, oder ihn zu ermahnen, wann es Zeit zum Schlafen war.

Doch Raw Lippa war gutherzig, und wollte dem Vorstand der Kehila nicht sagen, dass der Schamasch nachlässig war!

Der Schamasch nützte die Situation immer mehr aus und missachtete alle Zurechtweisungen des Raws. Er erfüllte seine Pflichten aber immer gewissenhaft, wenn Mitglieder der Kehila anwesend waren. Er verstand nur allzu gut, wer ihm seinen Lohn bezahlte.

Eines Nachts, als der Raw noch lernte, traf der Schamasch einen Freund. Anstatt den Raw daran zu erinnern, dass es Schlafenszeit war, verbrachte der Junge die ganze Nacht mit Schachspielen. Es war schon beinahe Morgen, als das Spiel fertig war. Statt aber den Raw zu erinnern, dass es bald Zeit für Schacharit war, legte er sich selbst schlafen. Alle Männer hatten sich in der zentralen Schul von Scharigrodzum Minjan eingefunden. Sie waren erstaunt, dass der Raw noch nicht da war. Zuerst wartete der Baal Tefila mit den Brachot, dann zögerte er etwas vor Kadisch. Schließlich entschieden sie sich, langsam zu dawenen. Sie meinten, der Raw würde sicher noch kommen, sonst hätte er doch bestimmt seinen Schamasch geschickt, um ihnen auszurichten, dass er nicht kommen könne. Während sie das Dawenen hinauszögerten, entdeckte jemand den Schamasch, der neben dem Ofen schlief. Er rüttelte ihn wach und fragte, wo der Raw sei.

Der Junge rannte zum Raw, um ihn zuholen, doch schämte er sich, ihm zu sagen, wie spät es sei. So sagte er nichts. Raw Lippa lief normal nach Schul. Er ahnte nicht, was geschehen war. Erst als er bei seiner Ankunft in der Synagoge alle mit Tallit und Tefillin sah und feststellte, dass der Baal Tefila bei “Barchu” hielt, merkte er, was sein Schamasch getan hatte. Sein Zorn über diesen faulen Schamasch überwältigte ihn: sogar das Dawenen hatte er wegen diesem Faulpelz verpasst.

Raw Lippa holte aus und versetzte dem Schamasch einen Schlag ins Gesicht.

Zuerst war alles still in Schul. Raw Lippa war so gütig, er hatte noch nie jemandem ein Leid angetan – wie konnte er in aller Öffentlichkeit einen Jungen schlagen? Sie wandten sich alle ihren Sidurim zu, während Raw Lippa Tallit und Tefilin anzog und die Tefila nachholen wollte. Der einzige, der keine Gefühle zeigte, war der junge Schamasch. Er verstand nur allzu gut, dass er eigentlich eine viel grössere Strafe für sein schlechtes Benehmen während der letzten paar Monate verdient hätte. So schwieg er. Raw Lippa jedoch konnte sich nicht beruhigen. Er verzieh sich die grosse „Awera“ nicht, dass er den Jungen in aller Öffentlichkeit beschämt hatte. Es war nicht einmal aus Chinuchgründen geschehen, um ihn zu erziehen – es war unverzeihlicher Zorn.

Nach dem Dawenen ging er auf die ‚Bima’, klopfte fest und unter Tränen bat er den Schamasch um Mechila. Die Kehila war sehr traurig, dass sich ihr beliebter, heiliger Raw vor diesem faulen Schamasch so demütigen musste, aber Raw Lippa ignorierte sie. Der junge Mann brach in Tränen aus und erzählte schluchzend, dass es alles sein Fehler war, da er sich während vieler Monate schlecht benommen hatte… Raw Lippa war noch nicht zufrieden. Nach stundenlanger Suchenach einer passenden Teschuwa beschloss er, dass seine einzige Kapara sei, wenn er den Posten in Scharigrod aufgeben und ins Galut gehen würde!

Ohne jemandem etwas zu sagen, zog er seine rabbinischen Kleider aus und ging leise von zu Hause weg.

Raw Lippa hatte noch nie gut auf sich selbst achtgeben können, und jetzt, wo er von Dorf zu Dorf durch Polen und Russland wanderte, ohne den Schutz und die Fürsorge seiner Familie oder des Schamasch, ging es schnell bergab mit ihm. Bald sah er wie ein verhungerter, alter Mann aus. Er ging jedoch weiter, vier lange Jahre lang, und verliess sich auf die Grosszügigkeit der Menschen. Schließlich merkte er aber, dass er so nicht mehr lange durchhalten konnte und machte sich auf den Heimweg nach Scharigrod.

„Wenigstens werde ich unter Freunden sterben und nicht in einem unbekannten Grab beerdigt werden’, dachte er. Ohne Raw in Scharigrod hatte der junge Schamasch keine Arbeit mehr. Die Kehila benutzte ihn deshalb als allgemeinen Schamasch für die Schul. Als Raw Lippa unter Schmerzen in die Stadt Scharigrod hinkte, erkannte ihn niemand mehr.

Er wurde ins verlotterte Hekdesch-Haus geschickt, wo alle Schnorrer untergebracht wurden.

Am Schabbat wählte der Schul-Schamasch, der ehemalige Schamasch, der ihn nicht mehr erkannte, die Orchim für die reichen Mitglieder der Kehila aus, und lud den Raw ein, bei Reb Semel, dem Rosch Hakohol, zu essen. Als Reb Semel ein „Wort“ zur Sedra sagte, freute er sich, als er feststellte, dass dieser alte, kranke Schnorrer jedes Wort zu verstehen schien. Er war so beeindruckt, dass er dem Bettler erlaubte, zu bleiben und aus seinen kostbaren Sefarim zu lernen. Raw Lippa vergass sich und lernte die ganze Nacht hindurch.

An diesem Schabbat hatte der Cousin von Reb Semel seinen Aufruf, und die ganze Familie stand früh auf. Ihre lauten Vorbereitungen störten Raw Lippa, der von seinem Lernen aufsah. Er merkte, wo er war und entschuldigte sich, um ins Hekdesch zugehen. Bald nach seinem Weggehen entdeckte Reb Semels Frau, dass ihre teure Perlenkette fehlte. Ihr Verdacht fiel gleich auf den fremden Schnorrer, der die ganze Nacht dort gewesen und erst jetzt eilig davongelaufen war. Da sie nicht wusste, wer der Bettler war, ließ Reb Semel all seine Wut auf den unglücklichen Schamasch los, der ihm diesen Ganew geschickt hatte!

Der Schamasch lief zum Hekdesch, fasste Raw Lippa am Kragen und schrie:

„Wo ist die Perlenkette, du undankbarer Gauner?“ Raw Lippa verstand gar nicht, von was der Schamasch redete. Eine Suche in seinen wenigen Habseligkeiten brachte auch nichts zu Tage. Der Schamasch verstand, dass Reb Semel ihn entlassen würde, und schlug aus Wut Raw Lippa vor allen Menschen ins Gesicht. Zu seinem großen Erstaunen lachte der fremde Schnorrer nur.

Raw Lippa hatte realisiert, dass ihm jetzt vom Himmel aus verziehen worden war. Dies machte den Schamasch aber so wütend, dass er nochmals ausholte. „Halt, nein!“, rief Raw Lippa mit Autorität. „Ich verdiene nur einen Schlag, nicht zwei!” Der Schamasch starrte Raw Lippa eine Weile an und langsam kam die Erinnerung zurück. „Das ist der alte Raw, der verschwunden ist“, rief er, während alle zu laufen kamen. Bald war Raw Lippa wieder mit seiner Familie vereinigt, und nach ein paar Monaten hingebungsvoller Pflege konnte er sein früheres Amt wieder ausführen!

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