Pirke Awot – Sechster Abschnitt
„Erwerb der Tora“
Mischna 6:
Grösser ist die Torawürde als die Priester- und Königswürde; denn die Königswürde wird erworben mit dreißig Vorrechten[1] und die Priesterwürde mit vierundzwanzig, während die Torawürde erworben wird durch achtundvierzig Dinge; und diese sind es: 1) Durch Lernen, 2) durch richtiges Hören, 3) durch bestimmten Ausdruck der Lippen, 4) durch Einsicht und durch Weisheit des Herzen, 5) durch Scheu, 6) durch Ehrfurcht, 7) durch Bescheidenheit, 8) durch Freude (durch Reinheit)[2], 9) durch Bedienung der Weisen, 10) durch den Anschluss an Genossen, 11) durch die Erörterung der Schüler, 12) durch Ruhe, 13) durch die heilige Schrift und die Mischna, 14) durch Einschränkung im Geschäfte,
15) durch Einschränkung der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, 16) durch Einschränkung des irdischen Genusses, 17) durch Einschränkung des Schlafes, 18) durch Einschränkung der Unterhaltung, 19) durch Einschränkung des Scherzes, 20) durch Langmut, 21) durch Herzensgüte, 22) durch Vertrauen auf die Weisen, 23) durch Ertragen der Leiden. 24) Er kennt seinen Rang, 25) er freut sich mit seinem Teile, 26) er macht einen Zaun um seine Worte, 27) er tut sich selbst nichts zugute, 28) er ist liebenswert, 29) er liebt den Allgegenwärtigen, 30) er liebt die Menschen, 31) er liebt die Gerechtigkeit, 32) er liebt die Geradheit, 33) er liebt die Zurechtweisung, 34) erhält sich fern von Ehren, 35) er brüstet sich nicht ob seiner Gelehrsamkeit,
36) er freut sich nicht, Entscheidungen treffen zu dürfen, 37) er trägt mit an den Lasten seines Genossen, 38) er neigt sein Urteil über ihn zur guten Seite, 39) er führt ihn zur Wahrheit, 40) er führt ihn zum Frieden, 41) er hält Ordnung in seinem Lernen, 42) er fragt und antwortet, 43) er hört und fügt hinzu, 44) er lernt, um zu lehren, 45) er lernt, um zu üben, 46) er fördert die Weisheit seines Lehrers, 47) er richtet das Gehörte ein und 48) sagt ein Wort im Namen dessen, der es gesagt hat. Du hast es ja gelernt: Wer ein Wort im Namen dessen sagt, der es gesagt hat, bringt der Welt Erlösung, denn es heißt (Esther 2, 22): Esther sagte es dem Könige im Namen des Mordechai.
Kommentar:
GRÖSSER in Bezug auf Wert und Bedeutung ist die Torawürde, als die Priester- und Königswürde. Dies erkennen wir daran, dass die Priester- und Königswürde wohl mit vierundzwanzig, beziehungsweise dreißig Vorrechten verknüpft ist, die Torawürde aber nur durch den Besitz von achtundvierzig geistigen und sittlichen Vorzügen erlangt werden kann. Die Königswürde wird erworben mit dreißig Vorrechten. Dieser Ausdruck „wird erworben“ ist in dem Sinne aufzufassen, dass mit dem Erwerben der Königs- und Priesterwürde dreißig, beziehungsweise vierundzwanzig Vorrechte verbunden sind. Die Königswürde in Jisrael ist erblich, wenn der Sohn die Stelle des Vaters ausfüllen kann; die Angehörigkeit zum Priesterstamm ist durch die Geburt gegeben, und nur die Torawürde kann im eigentlichen Sinne erworben werden, was vorzüglich durch den Besitz von achtundvierzig geistigen und sittlichen Vorzügen möglich ist.
Die dreißig mit der Königswürde verbundenen Vorrechte und Verpflichtungen sind folgende:
1. und 2. Der König richtet nicht und wird nicht gerichtet.
3. und 4. Er gibt kein Zeugnis und man zeugt nicht wider ihn.
5. und 6. Er nimmt nicht den Chaliza-Akt (Dewarim 25, 7—10) vor und auch seiner Frau wird nicht Chaliza gegeben.
7. und 8. die Leviratsehe (יבום) wird von ihm nicht vollzogen und auch seine Frau ist von derselben befreit (daselbst 5—7).
9. Die Witwe des Königs darf nur von einem Könige geheiratet werden.
10. Einem verstorbenen Verwandten gibt er nicht das Geleite.
11. Bei der ersten Mahlzeit nach der Bestattung eines Verwandten (סעודת הבראה) sitzt das Volk auf dem Boden, der König auf Polster.
12. Zur Führung eines freiwilligen Krieges bedarf es neben der Einwilligung des grossen Sanhedrin auch der des Königs.
13. Der König kann sich durch die Mauer und Zäune anderer einen Weg bahnen.
14. Dieser Weg ist unbeschränkt.
15. und 16. Die Beute des Volkes muss dem Könige vorgelegt werden, und er darf die beste Hälfte von allem nehmen.
17. Der König darf nicht mehr als 18 Frauen heiraten.
18. Er darf für seinen Privatgebrauch nicht mehr Pferde halten als erforderlich sind.
19. Auch die Anhäufung von Gold und Silber ist ihm untersagt, soweit es nicht zum Gold seiner Heere erforderlich ist.
20. und 21. Er muss sich als König eine zweite Torarolle (ספר תורה) schreiben lassen, die er jederzeit mit sich führen muss.
22. Niemand darf auf des Königs Pferd reiten,
23. niemand auf seinem Stuhle sitzen,
24. und niemand sich seines Zepters bedienen.
25. Niemand darf den König sehen, wenn er sein Haupthaar schneiden lässt,
26. wenn er nackt oder
27. wenn er im Bade ist.
28-30. Er muss Recht, Gnade und Wohltätigkeit in hohem Grade üben.
Die Priesterwürde wird durch vierundzwanzig Vorrechte erworben.
Sie bestehen in folgenden Opfergaben, die der Priester erhält: 1. und 2. Fleischteile des Sühnopfers (חטאת) und des Schuldopfers (אשם), 3. der Friedensopfer der Gemeinde (זבחי שלמי צבור),4. des Geflügel-Sühnopfers (חטאת העוף) und 5. des Schuldopfers der Versündigungszweifel (אשם תלוי).
6. Das Log[3] Öl zum Opfer des Aussätzigen, 7. die zwei Brote (שתי הלחם), welche am Wochenfeste aus neuem Weizen dargebracht wurden. 8. Die Schaubrote (לחם הפנים), welche an jedem Schabbat gewechselt wurden. 9. und 10. Die Überreste der Mehlopfer (מנחות) und des Omer (עומר), welches am zweiten Tage des Passachfestes dargebracht wurde. 1 1. Die Erstgeborenen des Viehes. 12. Die Erstlingsfrüchte. 13. Die ausgehobenen Teile (המורם) des Dankopfers und des Nasir-Widders. 14. Die Häute des Tieropfers. 15. die Hebe (תרומה). 16. Die Hebe des Levitenzehnten (תרומת מעשר).
17. Die Hebe vom Teige (חלה). 18. Die Abgabe der Schur (ראשית הגז). 19. Das Lösegeld für die männlichen Erstgeborenen. 20. Das Lamm der Lösung des Erstgeborenen vom Esel. 21. Der Bug, die Kinnbacken und der Magen eines jeden Schlachttieres. 22. Das Banngut. 23. Das geheiligte und nicht ausgelöste Feld (שדה אחוזה) und 24. das Fremdlingen Entwendete, welches nach deren Tod nicht mehr zurückgegeben werden kann, weil keine Erben da sind (הגר (גזל.
Und die Tora wird erworben durch achtundvierzig Dinge, durch achtundvierzig geistige und sittliche Vorzüge. Und diese sind es:
⬤ Durch Lernen;
⬤ durch den mündlichen Unterricht, der nicht durch das Lernen aus Büchern ersetzt werden kann.
⬤ Durch richtiges Hören, aufmerksames Zuhören des Schülers beim Vortrage des Lehrers.
⬤ Durch bestimmten Ausdruck der Lippen; d.h. durch genaues wörtliches Einprägen des Gelernten, wozu die häufige Wiederholung erforderlich ist.
⬤ Durch Einsicht, das richtige Verstehen des Gelernten,
⬤ und durch Weisheit des Herzens,
⬤ Verarbeiten des Gelernten, um hierdurch nicht nur das richtige Verständnis zu erlangen, sondern auch das Gelernte auf andere Dinge anwenden zu können.
⬤ Durch Scheu vor dem Lehrer, welche dem Schüler gleich der Ehrfurcht vor G-tt innewohnen soll.
⬤ Durch Ehrfurcht vor G-tt.
⬤ Durch Bescheidenheit, welche den Schüler fähig macht, gründliches Wissen sich zu erwerben und nicht stolzen Gemütes auf seine bereits erlangten Kenntnisse zu schauen.
⬤ Durch Freude am Lernen und an den erlangten Erfolgen, wodurch der Lerneifer stets rege bleibt.
⬤ Durch Reinheit in Gesinnung und Wandel.
⬤ Durch Bedienung der Weisen, welche einen steten Anschluss an dieselben bedingt.
⬤ Durch solchen Anschluss lernt man die Lebensart der Weisen zur Nachahmung kennen.
⬤ Durch den Anschluss an Genossen, welcher einen Austausch der Meinungen über das Gelernte bezwecken soll.
⬤ Durch die Erörterung der Schüler, wodurch das Wissen vergrößert und die Begriffe und Urteile geklärt werden.
⬤ Durch Ruhe des Geistes, die zur Gründlichkeit beim Lernen mahnt und von dem schnellen, aber oberflächlichen Lernen zurückhält.
⬤ Durch die heilige Schrift und durch die Mischna; die Kenntnis derselben bildet die Grundlage zum weiteren erfolgreichen Studium.
⬤ Durch Einschränkung im Geschäfte, soweit es nicht zur Erlangung des Lebensunterhaltes notwendig ist;
⬤ der Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, soweit man nicht durch andere ersetzt werden kann[4],
⬤ und des irdischen Genusses, um nicht dem verderblichen Lebensgenusse anheim zu fallen.
⬤ Durch Einschränkung des Schlafes, der auf das zur Gesundheit und körperlichen Kräftigung erforderliche Maß beschränkt werden muss;
⬤ der Unterhaltung des gleichgültigen Plauderns, und des Scherzes, welche beide nur soweit gepflegt werden sollen, als es zur Erholung dienlich ist. Diese Beschränkung der erwähnten sechs Dinge ist notwendig, wenn die erforderliche Zeit und genügende geistige Ruhe für das Lernen der Tora gewonnen werden soll.
⬤ Durch Langmut; Geduld ohne Heftigkeit beim Lernen selbst, sowie auch im Verkehr mit dem Lehrer, den Genossen und den Schülern[5], ist eine Bedingung, welche die Gründlichkeit des Lernens beansprucht.
⬤ Durch Herzensgüte[6], die hervorragende Tugend, welche die geistigen Vorzüge anderer gerne anerkennt und fördert und daher auch neidlos Belehrung von jedermann annimmt.
⬤ Durch Vertrauen auf die Weisen; das treue Festhalten der von den Weisen überlieferten Wahrheiten, selbst wenn unser Verstand dieselben nicht zu fassen vermag.
⬤ Durch Ertragen von Leiden als von G-tt verhängt, ohne hierdurch vom Lernen und Üben der Tora und deren Vorschriften sich abhalten zu lassen.
⬤ Durch die vorerwähnten Vorzüge gelangt der mit der Tora sich Beschäftigende auch zu folgenden Charaktervorzügen, welche für das erfolgreiche Lernen und Lehren erforderlich sind.
⬤ Er kennt seinen Rang.
⬤ Er kennt den Grad seiner eigenen Befähigung und seines Wissens und überhebt sich nicht;
⬤ er kennt auch anderen gegenüber an, dass er zu einer bevorzugten Stellung noch nicht geeignet ist.
⬤ Er freut sich mit seinem Teile[7]; er ist genügsam und wird nicht durch Unzufriedenheit abgelenkt.
⬤ Er macht einen Zaun um seine Worte, d.h. er spricht bescheiden seine Ansichten aus und hütet sich, anderen dieselben aufzudrängen.
⬤ Und tut sich selbst nichts zugute wegen seiner guten Taten und wegen seines Wissens; beides hält er für unabweisbare Pflicht, für die er auch weiter zu wirken und zu streben hat.
⬤ Er ist liebenswert bei G-tt und bei den Nebenmenschen.
⬤ Er liebt den Allgegenwärtigen, liebt die Menschen und betätigt diese Liebe in seiner Handlungsweise[8].
⬤ Er liebt die Gerechtigkeit, das rechtliche Handeln der Menschen und tritt daher gegen Ungerechtigkeit auf.
⬤ Er liebt die Geradheit in der Gesinnung und verachtet heuchlerisches Benehmen.
⬤ Er liebt die Zurechtweisung, freut sich und zeigt sich dankbar, wenn er von anderen auf die eigenen Fehler aufmerksam gemacht wird, da es ihm ernstlich um seine Vervollkommnung zu tun ist.
⬤ Er halt sich fern von Ehren; er sucht und wünscht für seine Person keine Ehrenbezeugung, weil er sich der Mangelhaftigkeit seiner Leistungen bewusst ist.
⬤ Und brüstet sich nicht ob seiner Gelehrsamkeit, ist sich vielmehr bewusst, dass trotz des erlangten Wissens er noch kein vollkommenes Wissen besitzt, und es liegt ihm fern, über die Tora und deren Vorschriften in seiner Beschränktheit urteilen zu wollen.
⬤ Und freut sich nicht, Entscheidungen treffen zu dürfen, weil er stets fürchtet, unrichtig zu entscheiden[9].
⬤ Er trägt mit an den Lasten seines Genossen, dem er mit Rat und Tat, Belehrung und Unterweisung beisteht.
⬤ Und neigt sein Urteil über ihn zur guten Seite[10],d.h. bei zweifelhaften Handlungen und Absichten seines Nächsten beurteilt er ihn stets in günstiger Weise.
⬤ Er führt ihn zur Wahrheit und führt ihn zum Frieden; er müht sich, ihm die Erkenntnis der Wahrheit und die Notwendigkeit des friedlichen Verkehrs unter den Menschen beizubringen.
⬤ Er hält Ordnung in seinem Lernen; er überlegt genau den gelernten Stoff, bevor er ihn anderen Iehrend mitteilt.
⬤ Er fragt und antwortet in zutreffender, geeigneter Weise, um selbst Klarheit zu erlangen und sie auch anderen zu verschaffen.
⬤ Er lernt, um zu lehren, und lernt, um zu üben.
⬤ Obwohl er bereits großes Wissen besitzt, sucht er es immer noch zu erweitern, für sich selbst und auch um andere unterweisen zu können, und um nach dem Gelernten zu handeln.
⬤ Er fördert die Weisheit seines Lehrers dadurch, dass er über unverständliche oder auffallende Aussprüche ihn befragt und Klarheit herbeiführt.
⬤ Und richtet das Gehörte ein, es mit seinen eigenen Wahrnehmungen in Einklang zu bringen.
⬤ Er sagt ein Wort im Namen dessen, der es gesagt hat; er schmückt sich nicht mit fremden Federn, sondern nennt den Namen dessen, von welchem ihm jenes Wort gesagt wurde. Du hast es ja gelernt: Wer ein Wort im Namen dessen sagt, der es gesagt hat, bringt der Welt Erlösung; denn es heißt: Esther sagte es dem Könige im Namen des Mordechai, wodurch später zunächst die Erniedrigung Hamans und dann die vollständige Erlösung Jisraels herbeigeführt wurde.
- Beziehungsweise Verpflichtungen ↑
- „Durch Reinheit“ ist nicht in allen Ausgaben enthalten, weshalb wir diese Eigenschaft nicht gezählt haben. ↑
- Ungefähr ½ l ↑
- Siehe Abschnitt 2 Mischna 6: .ובמקום שאין אנשים ↑
- Siehe daselbst: ולא הקפדן מלמד ↑
- Siehe Abschnitt 1 Mischna 13: לב טוב ↑
- Siehe Abschnitt 4 Mischna 1: .איזהו עשיר ↑
- Siehe Mischna 1 dieses Abschnitts. ↑
- Siehe Abschnitt 4 Mischna 9: והגס לבו בהוראה ↑
-
Siehe Abschnitt 1 Mischna 6: והוה דן ↑