Der Aufbau der Gebete
Obwohl die einzelnen Teile des täglichen Gebetes verschiedenen Verfassern und Zeitaltern ihr Entstehen verdanken, so gab es doch eine letzte Hand, die sie redigiert und zu einer einheitlichen Form zusammengefaßt hat, welche von der Halacha als solche festgelegt wurde und in deren Aufeinanderfolge keine Änderung noch Durchbrechung gestattet ist. Für eine gewisse Gruppe von Vorschriften ist diese Reihenfolge von geradezu maßgeblicher Bedeutung. (s. Chajej Adam 20)
Bei der Aufzeigung der inneren Gliederung der Gebete legen wir das werktägliche Schacharit-Gebet zu Grunde, das die verschiedenen Gebetteile unverkürzt enthält. Für das Verständnis der Zusammenhänge bildet die midraschische Auslegung von Jakobs Traum den Ausgangspunkt. Wird doch die Erscheinung, die Jakow im Traum sah, als unmittelbar in Verbindung mit dem Gebet, nach dem er sich niedergelegt hatte, stehend, geschildert. Nach den Worten des Sohar (I, 269 a) versinnbildlicht die Leiter, die Jakob sah, geradezu das Gebet. „Und siehe, eine Leiter stand auf Erden und ihre Spitze reichte bis zum Himmel“, das ist das Gebet, das die Menschen auf Erden sprechen und das bis zum Himmel gelangt, wie die Schrift sagt (Malachim II 8, 39): „Und du, Himmel, erhöre!“
Eine stufenförmige Entwicklung und Steigerung stellt die Leiter dar und ihr entsprechend das Gebet, das von der Erde sich zum Himmel erhebt.
Das Ziel aber ist G-tt, der über der Leiter steht. Betend sucht Jakow den Weg zu ihm, sucht ihn zu finden und bis zu ihm vorzudringen. Da zeigt ihm G-tt im Traum, wie der Weg beschaffen ist, wie sich stufenweise der Gedanke von der irdischen Gebundenheit emporheben muß, bis er am Gipfel der Leiter G-tt gefunden hat. Und wie sich G-tt erst gewährend zur Erde herabneigt, wenn sich der Mensch zu ihm erhoben hat, gleich den Engeln, die auf der Himmelsleiter erst hinauf- und dann hinabsteigen zur Erde, als die Träger und Mittler aller irdischen Gebete zum Himmelsthron des Allmächtigen.
Vierfach gestuft ist diese Himmelsleiter nach der Deutung des Midrasch, und eine vierfach gegliederte Entwicklung erkennt auch Rambam aus dem Wortlaut der Erzählung, die auf die vier Entwicklungsstadien hinweist, welche die menschliche Erkenntnis zu G-tt hinführen. „Und siehe, eine Leiter stand auf der Erde“, hier deutet die Leiter auf die Verbindung und den Zusammenhang der verschiedenen Weltwesen. „Stand auf der Erde“ deutet auf die irdische Welt, die Welt der Wahrnehmung und der Erfahrung, von der alle Erkenntnis ausgeht. „Und ihre Spitze reichte bis an den Himmel“, das lehrt, daß die Erkenntnis von der sinnlichen Welt zur Welt der Formen und der Sphären emporsteigt. „Und siehe, die Engel G-ttes gingen hinauf und hinab“, ein Hinweis auf die übersinnliche Welt der Engel, zu der weiterhin die Erkenntnis vordringt, und endlich die vierte und letzte Entwicklungsstufe, das Ziel der Erkenntnis und zugleich des Gebetes: „Und siehe, G-tt stand oben auf ihr“. (More Newuchim, Einl. und Erkl. das.).
Wie nun R. Jeschaja ha-Levi Horwitz, der große Vermittler zwischen rationalistischer und kabbalistischer Forschungsmethode, in seinem של“ה ausführt, sind diese „vier Welten der Philosophen“ keine anderen als die „vier Welten der Kabbala“, עולם העשיה die materielle Erscheinungswelt, עולם היצירה die Welt des Bildens oder der Formung, עולם הבריאה die Welt der Schöpfung oder der Kräfte, עולם האצילות die Welt der Ideen. Während aber die kabbalistischen Welten die Entwicklungsstufen der g-ttlichen Emanation darstellen, so bezeichnen die „vier Welten der Philosophen“ nur die einzelnen Phasen, die die menschliche Erkenntnis von der Wahrnehmung der Erscheinung bis zum Erfassen des Absoluten durchschreiten muß. Daß freilich zwischen diesen beiden Auffassungen ein innerer Zusammenhang, ja eine sinngemäße Übereinstimmung besteht, kann hier nur angedeutet werden.
Der vierfach abgestuften Erkenntnisfolge entspricht der Lehrgang der Natur vollkommen.
Von der Erfahrung in der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungswelt schließt der Verstand auf das immanente Gesetz, das die „Form“ der Dinge ist. Die Frage nach den wirkenden Ursachen, die sich nunmehr ergibt, weist in logischer Weiterfolge auf die „Welt der Kräfte“ hin, bis dann endlich die geschlossene Gedankenkette die oberste Vernunft finden läßt, die nichts anderes ist, als die transzendente „Welt des reinen Geistes“. So muß der spekulative Geist auf der Stufenleiter der Erkenntnis sich erheben, bis er zum Schöpfer des Weltalls gelangt und muß der Beter erst den Weg durch jene vier Welten mit seinen Gedanken zurücklegen, um, gleich Jakow, den G-tt zu finden, den er sucht.
Diesen vier Welten entsprechen nun die vier Hauptteile, die im täglichen Morgengebet zu unterscheiden sind.
Der erste Teil reicht bis ברוך שאמר der zweite von ב“ש bisברכו der dritte bis zu גאל ישראל der letzte Teil ist die .שמנה עשרה
Die weiteren Stücke tragen nur den Charakter von Hinzufügungen und Schlußgebeten. Im ersten Teil werden praktische Tagesbedürfnisse des Menschen erwähnt, das Erwachen und Kleiden und eine allgemeine Beracha für die Tätigkeit des Tages und für das Geschick; angegliedert ist die Beschreibung der Opfer, ebenfalls eine praktische Tätigkeit, sodaß sich dieser erste Teil ganz in der Welt der עשיה bewegt, die materielle Erscheinungswelt, von der jedes Suchen nach G-tt seinen Ausgang zu nehmen hat.
Die Psukei Desimra des zweiten Teiles vermitteln die Anschauung G-ttes in Natur und Geschichte.
Die reiche Prachtfülle der Natur, die Erhabenheit des gestirnten Himmels und der Zauber der Naturschönheit verkünden den Ruhm des Ewigen. Von der stofflichen Welt menschlicher Betätigung, der ersten Sprosse auf der Stufenleiter des Gebetes, erheben sich die Gedanken zur Welt des „Bildens und der Formung‘“, die hinter dem Schleier der formvollendeten Schöpfung sowie den Ereignissen des Geschickeslebens das ewige Gesetz des Schöpfers offenbart. Es ist der Aufstieg vom Stoff zur Form, zum עולם היצירה. Der umfassendste Ausdruck für die Erkenntnis der in G-tt wurzelnden Gesetzlichkeit allen Geschehens ist die Huldigung: !הללוי-ה die nach Pessachim 117a die höchste aller Lobpreisungen darstellt. Sie bedeutet nach Hirsch (zu Tehillim: 146,1): „Das Zurückführen aller Erscheinungen und Ereignisse auf G-tt und das Aussprechen G-ttes in seinem, Erscheinungen und Ereignisse ursächlich schaffenden Walten. Heißt הללja eigentlich: widerstrahlen, das Zurückführen der Strahlen auf den sie ausstrahlenden Kern und die Auffassung derselben als seine Ausstrahlungen.“
Fortsetzung folgt ijH.