Baalschem von Michelstadt – Kapitel 2 – im Schloss Fürstenau

Datum: | Autor: Judäus (Rabbiner Dr. Herz Naftali Ehrmann) | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Baalschem

Kapitel 2

Schon in den ersten Jahren zeichnete sich der Knabe durch ungewöhnliche Anlagen des Geistes und Herzens aus. Dass er frühzeitig in das heilige Schrifttum der Thora eingeführt wurde, war in jener Zeit auch bei weniger gut beanlagten Kindern selbstverständlich. Im Alter von zehn Jahren war er als Wunderkind bei Juden und Christen so allgemein bekannt, dass durch Vermittlung des Pfarrers auch der Graf von Fürstenau davon hörte, der auf Schloss Fürstenau, kaum eine Viertelstunde von Michelstadt entfernt, seinen Sitz hatte.

Er brannte vor Verlangen, den Judenknaben kennen zu lernen und ließ den Vater bitten, ihm das Kind einmal zu schicken.

Um seinen gerühmten Scharfsinn sofort auf die Probe zu stellen, wünschte der Graf, dass der Knabe ohne Führung und Begleitung ganz allein im Schloss erscheine.

Der Weg nach dem Fürstenauer Schlossgarten, der durch die Liberalität des Grafen jedem offen steht, ist jedem Michelstädtler wohlbekannt. Wie aber der Kleine sich in dem ungeheuer großen Schlosse zurechtfinden, wie er in dem Labyrinth von Gängen, Treppen, Zimmern und Sälen das Empfangszimmer des Grafen treffen werde, das belustigte den Grafen in so hohem Grade, dass er schon eine Viertelstunde vor der festgesetzten Zeit hinter dem Vorhang eines auf den Schlosshof führenden Fensters seinen kleinen Gast erwartete, die gesamte Dienerschaft hatte Befehl, sich vor dem Knaben nicht blicken zu lassen, damit er keinen fragen könne, wo ihn der Graf erwarte.

Fünf Minuten vor der festgesetzten Zeit sah der Graf aus seinem Verstecke den schmächtigen, zehnjährigen Judenknaben über den Schlosshof direkt auf das Schloss zugehen. Auf dem weiten Schlosshof war ausser dem Knaben kein menschliches Wesen zu schen. Ein Zahl radschlagender Pfauen, Fasanen und Truthühner gingen mit dem stolzen Bewusstsein, zu den Bewohnern des Schlosses zu gehören, gravitätisch auf und ab, ohne von dem Judenjungen Notiz zunehmen. Um so aufmerksamer beobachtete sie Seckel Löb und blieb zu diesem Zweck einige Sekunden unter dem mehr als haushohen Torbogen Stehen, der in den inneren Schlosshof führte. So groß die Freude des Knaben an dem Treiben dieser gefiederten Höflinge war, vergaß er doch darüber nicht, auch einen musternden Blick über die Schlossfront zu werfen, die in ihrer ganzen Ausdehnung jetzt vor ihm lag. Dann trat er in die Vorhalle, in der Erwartung, dort irgendeinen dienenden Geist zu erblicken, der ihm den Weg zum Grafen zeige. Keiner ließ sich blicken. Der Knabe hustete laut, aber niemand nahm davon Notiz.

Da lächelte der Kleine, stieg rasch die breiten, bequemen Treppen hinauf bis in den zweiten Stock, klopfte an die zweite Tür des langen Korridors, die der Graf dann selber öffnete und seinen Gast herzlich willkommen liess. „Wer hat Dir das Zimmer gezeigt, in dem ich Dich erwarte? – fragte gespannt der Graf.

„Der Herr Graf selber“, antwortete der Knabe. „Ich?“, fragte der Graf verwundert. „Davon weiss ich doch nichts?“ „Der Herr Graf haben mir befohlen, ganz allein in das Schloss zu kommen. Als ich vorhin vor dem Schlosse stand, sah ich, dass bei allen Fenstern die Vorhänge zurückgezogen waren, nur ein einziges Fenster war durch einen Vorhang geschlossen. Ich vermutete, dass der Herr Graf in diesem Zimmer sei und durch den herabgelassenen Vorhang verhindern wolle, dass man den Herrn Grafen schon vom Schlosshofe aus sehen kann.“

Schloss Fürstenau

Mehr als von der Klugheit war der Graf von dem feinen Takt des Knaben frappiert. Denn es war dem Grafen gar kein Zweifel, dass der Knabe ganz gut wusste, wie der Grafsich hinter seinem Vorhang über den armen Knaben lustig machen wollte, und wie er sich damit selber verraten hatte.

„War Dir denn gar nicht unheimlich zumute, als Du auf dem Hofe und im Hause keinen Torwächter, keinen Diener und keine Dienerin sahst?“

„Nein, Herr Graf, ich bin das von zu Hause gewohnt, wo wir auch nie einen Diener sehen“.

Der Graf hatte diese Frage gestellt, um dem Knaben eine leichte Gelegenheit zu geben, seine geistige Überlegenheit zu zeigen und etwa zu bemerken, dass diese Mittelchen bei ihm nicht verfangen. Er war daher aufs neue erstaunt, als der Knabe dieser Versuchung in so kluger und doch kindlicher Weise aus dem Wege ging.

„Ihr habt zu Hause keine Diener?“, fuhr der Graf fort. „Dann seid Ihr wirklich zu beneiden. Sie bereiten einem mehr Verdruss als Nutzen. Wir haben hier im Schlosse viele Diener, aber ich habe sie alle beiseite geschickt, als ich Dich erwartet habe, damit sie Dich nicht irre machen. Denke Dir, wenn Du auf den Treppen und Korridoren zehn Dienern begegnet wärest und hättest sie nach meinem Empfangszimmer gefragt, der eine aber hätte Dich hierhin, der andere dorthin gewiesen, was hättest Du dann anfangen wollen, um mich zu finden?“

„Bei einer solchen Verschiedenheit der Stimmen hätte ich mich nach der Mehrzahl gerichtet. Hätten z.B. drei Diener mir ein und dasselbe Zimmer als Empfangssaal des Grafen gezeigt, und drei ein anderes, endlich aber vier ein drittes Zimmer, so hätte ich mich für das letzte entschieden.“

Jetzt wa rder kleine Schlauberger doch in die Falle gegangen, die ihm der Graf gestellt hatte. Der Graf hatte Mühe, seine Freude darüber zu unterdrücken und ging daher direkt auf sein Ziel los, indem er bemerkte: „Das ist klug von Dir gedacht, mein Junge; der Mehrheit muss man sich fügen. Wenn Du aber von dieser Wahrheit wirklich überzeugt bist, so wundert es mich, dass Du nicht nach ihr handelst. Wenn die Mehrheit entscheidet, warum wirst Du nicht Christ? Warum bleibst Du Jude? Ihr seid ja die Minderheit und wir die Mehrheit?“

Der Knabe richtete seine grossen dunklen Augen in die Höhe und begegnete den Blicken des Grafen. Hätten dieletzteren die Augensprache des Knaben lesen können, so hätten sie darin nicht viel Verbindliches für den Leser gefunden. Aber die Selbstzufriedenheit des Grafen merkte den Blitz nicht, der aus diesen Augen einen Moment aufleuchtete, obwohl er jedem aufmerksamen Beobachter recht deutlich sagte, dass der Knabe nun wisse, was ihm die Ehre dieser Audienz verschafft habe.

Dieser erwiderte daher ganz freimütig: „Herr Graf! Jetzt weiss ich, wo der Empfangssaal des Herrn Grafen ist, deshalb brauche ich keinen Menschen Mehr danach zu fragen. Wenn mir jetzt alle Diener des Schlosses ungefragt ein anderes Zimmer zeigen würden, so würde mich das der Wahrheit meiner Erfahrung und Überzeugung nicht irremachen. In zweifelhaften Fällen ist die Mehrheit entscheidend, aber bei unzweifelhaften Tatsachen entscheidet nur die Wahrheit. Ich bin von der Wahrheit der Religion meiner Eltern überzeugt, deshalb kommt für mich die Mehrheit der Christen hier nicht in Betracht“.

Der Graf war betroffen von dieser Schlagfertigkeit und Klugheit, mit welcher der Knabe ihn jetzt schon zum dritten Male seine Überlegenheit fühlen ließ. Und das alles mit so taktvoller Zurückhaltung, so frei von jedem anmaßenden Selbstbewusstsein, wie es frühreifen Kindern sonst vielfach eigen ist, dass der Graf dem Gespräche jetzt eine andere Wendung zu geben für gut fand. „Hast Du irgendeinen Wunsch, so sprich ihn aus, wenn ich kann, werde ich ihn Dir erfüllen“, sprach zutunlich der Graf.

„Ich danke, Herr Graf, ich habe keinen Wunsch“. „Was, keinen Wunsch?“ wiederholte der Graf. „Nimm Dir Zeit, vielleicht fällt Dir ein Wunsch ein. Wärest Du ein Christ,so würde ich Dich studieren lassen, damit Dir die höchsten Ehren zugänglich wären, nach welchen wir Christen streben. Aber Ihr Juden liebt weniger die Ehre als das Geld, nicht war?“„Jawohl, Herr Graf, jeder liebt das, was ihm am meisten fehlt.“

„Was sagst Du da?“ fuhr der Graf plötzlich in die Höhe. „Ich habe nur die Worte des Herrn Grafen bestätigt. Auf den Herrn Grafen und auf mich passen sie nicht. Denn dem Herm Grafen fehlt keine Ehre und mir kein Geld.“ „Dir fehlt kein Geld?“ fragte der Graf. „Wieviel Geld hast Du denn?“„Ich habe gar keines und brauche keines, deshalb fehlt mir auch keines. Ich besitze auch kein Schloss, keine Grafenkrone und könnte trotzdem nicht sagen, dass mir ein Schloss oder eine Krone fehlt; ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte.“

„Du bist ein merkwürdiger Junge, aber essen oder trinken wirst Du doch etwas bei mir! Du hast jetzt schon so lange mit mir geplaudert, dass es Dir ganz schwach sein muss”.

„Ich danke, Herr Graf, ich esse und trinke nichts. Es ist mir von meinen Filtern verboten etwas in einem anderen Hause zu geniessen.“„Ja, ich weiss schon“, entgegnete der Graf, „Ihr Juden esst nichts bei uns, wir sind euch nicht koscher genug; aber ich meine etwas, das Du ohne Bedenken essen darfst.”

„Ich darf auch in keinem jüdischen Hause etwas essen oder trinken.“

„Hast Du Trauben lieb?“

„Nein.“

„Was isst Du denn von Obst gern?“

„Trauben.“

„Hast Du mir nicht soeben das Gegenteil gesagt?“

„Lieb haben und gern essen, habe ich für zwei verschiedene Dinge gehalten. G-tt habe ich lieb, und Trauben esse ich gern.“

Der Graf war ganz konsterniert von der raschen Auffassung und Unterscheidungsgabe des Knaben. Er reichte ihm die Hand und versprach, seinen Eltern für ihn eine Kiste Trauben zu schicken. Damit war die seltsame Audienz beendet. Der Knabe eilte die Treppen hinab, umgafft von dem Schwarm der Diener, die sich jetzt hervorgewagt hatten, und verliess raschen Schritts den Garten, an dessen Ausgang ihn der Vater erwartete.

Fortsetzung folgt ijH

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