Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Dreizehntes Kapitel – Die Zurückhaltung (Fortsetzung)
Sprechen wir zunächst über die rechte Zurückhaltung: Wir haben gesehen, wie in Allem, was das Diesseits bietet, Versuchungen für den Menschen schlummern, wir haben das oben bereits ausführlich bewiesen. Es ist uns ferner klar geworden, wie überaus schwach der Mensch, wie stark seine Neigung zu allem Bösen ist. Daraus ergibt sich mit Evidenz, dass er, soweit es möglich ist, Alles tun muss, um diese Darbietungen zu fliehen, damit er einen größeren Schutz gegen das Schlimme besitze, das in ihrem Gefolge ist. Denn es gibt nun einmal keinen irdischen Genuss, der nicht irgend eine Sünde leicht nach sich zöge. Nehmen wir z. B. Speis und Trank. Sie sind erlaubt, wenn sie völlig vor den Speisegesetzen bestehen können. Und doch: Wer sich den Leib füllt, wird bald das g-ttliche Joch abwerfen, und auf ein Weingelage folgen geschlechtliche Verirrungen und allerlei andere schlimme Dinge. Noch mehr! Wer sich daran gewöhnt, immer recht gut zu essen und zu trinken, der wird, fehlt ihm einmal das Gewohnte, es sehr schmerzlich verspüren. Das führt dann dazu, dass er sich die schwere Last der Geschäfte aufbürdet und die Mühe des Erwerbs, nur damit ihm der Tisch immer so gedeckt ist, wie er es mag. Dann gelangt er zu unredlichem Geschäftsgebahren und von da zu falschem Schwur und zu all den anderen Vergehen, die hinten nach kommen. Er entzieht sich auch seinen religiösen Pflichten, dem „Lernen“, dem Gebet. Und das alles hätte er nicht nötig, hätte er sich von Anfang an nicht mit diesen Genüssen eingelassen.
Einen ähnlichen Gedanken führen die Weisen bei dem Gesetze (Dewarim: 21,18ff) von dem ungebärdigen und widerspenstigen Sohne aus. „Weil der ein halbes Pfund Fleisch gegessen und ein halbes Maß Wein getrunken, deshalb befiehlt die Tora, er solle vor Gericht kommen und gesteinigt werden?! Doch die Tora hat sein Ende vorausgesehen. Zuletzt verbringt er die Habe seines Vaters, will immer noch sein Gewohntes haben und kann es nicht bekommen, und so wird er zum Wegelagerer und Räuber. Darum sterbe er, meint die Tora, in seiner Unschuld, bevor er zum Verbrecher geworden.” (Sanhedrin: 72,1) [1] – Und inbezug auf geschlechtliche Verirrungen meinen die Weisen: „Warum folgt der Abschnitt vom Nasir unmittelbar auf den Abschnitt von der Frau, die den Fehltritt begangen? Um dich zu lehren: Wer diese Frau in ihrer Schande sieht, der dich zu lehren: Wer diese Frau in ihrer Schande sieht, der wird sich des Weingenusses entsagen.“ (Sota: 2,1)
Es ist leicht zu erkennen, dass das in der Tat ein bedeutsames Mittel ist, um sich vor der Leidenschaft zu schützen. Steht erst die Gelegenheit zur Sünde vor Einem, dann ist es schwer, die Leidenschaft zu unterdrücken und zu besiegen.
Daher muss man, so lange man noch der Sünde fern steht, diese Entfernung zu erhalten suchen, dann wird es der Leidenschaft schwer, eine Annäherung zu bewirken. Der Verkehr mit dem eigenen Weibe ist durchaus erlaubt, und doch hat man ihn erschwert. Denn wenn er auch an sich erlaubt ist, so führt doch ein allzuhäufiges Zusammensein zu einer Steigerung der Leidenschaft, die auch eine Übertretung des wirklich Verbotenen zur Folge haben könnte.
Über Schönheit und Form von Kleidung und Schmuck hat die Tora keine Vorschriften gemacht. Wenn kein Schaatnes darin, wenn Tzitzit da sind, dann ist Alles erlaubt. Und doch! Wer weiß nicht, dass von einem schönen Hut, von einem bunten Gewand Hochmut kommt, und Sinnenlust an der Grenze harrt, ganz abgesehen vom Neid, von der Begierde, von dem Ausbeutertum, die all die Dinge, die für den Menschen schwer zu erreichen sind, im Gefolge haben. Die Weisen sagen bereits: „Sieht der Jezerhora Einen einhertänzeln, sich an den Kleidern zupfen und die Locken drehen, dann spricht er: den kriege ich!“ (Bereischis Rabba 22,6)
Spaziergänge und Gespräche, wenn diese nicht Verbotenes zum Inhalt haben, sind von Rechtswegen erlaubt.
Und doch: wie leidet darunter das Lemon, wie viel üble Nachrede, wie viel Lügen und Spöttereien werden dabei verbrochen. Es heißt: „Wo der Worte viel sind, geht’s ohne Vergehen nicht ab.“ (Mischlej 10,19)
Kurz, da in Allem, was das Diesseits bietet, große Gefahren liegen, so ist der, der sie zu fliehen sucht, nur alles Lobes wert. Und das Wesen der rechten Zurückhaltung besteht eben darin, sich von diesen Dingen möglichst fern zu halten, und von dieser Welt auch nicht das Geringste zu benutzen, es sei denn das, wozu die Natur ein irdisches Wesen zwingt. Darum rühmt sich Rabbi in dem obenerwähnten Ausspruch, dass er von dieser Welt nicht soviel genossen, wie auf den kleinen Finger geht, obwohl er doch der Fürst in Jisrael war und sein Tisch, seiner hohen Würde entsprechend, nach dem Berichte des Talmuds, wie der Tisch der Könige gedeckt, ja zusammen mit dem des Kaisers Antoninus der reichste in der Welt war. Und der Bericht vom Könige Chiskijahu und die anderen erwähnten Aussprüche, sie alle bestätigen die Lehre, dass man allen irdischen Genüssen gegenüber Zurückhaltung üben müsse, will man nicht durch sie gefährdet werden.
Fragt man aber: Wenn das wirklich eine notwendige Forderung ist, warum haben denn die Weisen hierüber keine Bestimmungen getroffen, sowie sie sonst einen Zaun gemacht und Verordnungen erlassen haben? So ist die Antwort darauf klar und einfach: Die Weisen haben nur Anordungen getroffen, die von dem größeren Teile der Gemeinde befolgt werden können. Es ist aber nicht möglich, dass der größere Teil der Gemeinde „Fromme“, es genügt, wenn sie „Gerechte“ sind. Aber die Erlesenen im Volke, die nach dem Glück der G-ttesnähe verlangen und die durch ihr Verdienst die Masse des Volkes, deren Gedeihen von ihnen abhängt, beglücken wollen, ihnen kommt es zu, die Forderung zu erfüllen, die an die „Frommen“ gestellt wird, wenn die Anderen sie auch nicht zu erfüllen vermögen, in den besprochenen Formen nach der Zurückhaltung zu streben. – So will es G-tt. Es kann nicht das ganze Volk auf der Höhe stehen. Nach der Begabung des Einzelnen gibt es verschiedene Abstufungen. Darum sollen sich wenigstens Auserwählte finden, die das Arbeiten an ihrem Selbst bis zur Vollkommenheit ausführen, und durch die Vollkommenen werden dann auch die Unvollkommenen der Liebe G-ttes teilhaftig werden und des Waltens seiner Herrlichkeit. Einen ähnlichen Gedanken sprechen die Weisen in einer symbolischen Ausdeutung des Lulawgesetzes aus (Wjikra Rabba Kap. 30,12): Etrog, Palme und Myrthe bieten etwas dem Geschmack oder dem Geruch, die Bachweide ist ohne Duft und Geschmack. So gibt es in Jisrael Menschen, die „lernen“ oder gute Werke üben, und Andere, die nichts von beidem aufzuweisen haben. So wie die Pflanzenarten nun gebunden vor G-ttes Antlitz gebracht werden, so sollen auch in Jisrael alle Gruppen einen Bund bilden, dann werden die Einen Sühne erwirken den Anderen. Dass für den „Frommen“ noch andere Vorschriften gelten als für den „Gerechten“, geht auch aus einer Erzählung im Jerusalemischen Talmud (Jeruschalmi Terumoth 8,4) hervor. Es heißt dort: Wenn feindliche Scharen eine Karawane überfallen und die Auslieferung eines Beliebigen verlangen, sonst würden sie Alle töten, dann dürfen sie ihn nicht ausliefern, um ihr Leben zu retten. Geben die Feinde aber einen Bestimmten an, dann ist es gestattet. Nun wurde einmal Ulla, der Sohn des Kuschaw, von der Regierung verfolgt. Er entfloh und gelangte nach Lud zur R. Joschua, dem Sohne Levis. Truppen kamen und umzingelten den Bezirk und erklärten: Wenn ihr ihn uns nicht übergebet, dann lassen wir keinen Stein auf dem anderen. Da ging R. Joschua zu Ulla hin und redete ihm zu, und dieser ließ sich ausliefern. Elijahu aber, ges. Angedenkens, der sich R. Joschua oft zu offenbaren pflegte, blieb nun aus, und erst nach vielem Fasten sah Joschua die Erscheinung. Und sie sprach zu ihm: „Einem Denunzianten soll ich mich offenbaren?!“ Und Rabbi Joschua: „Ich habe doch nur getan, was das Gesetz gebietet“. Und darauf Elijahu: „Ist das eine Vorschrift, die für die Frommen gilt?!“
Neben der rechten gibt es nun eine falsche Zurückhaltung.
Törichten Menschen unter den Nichtjuden genügt es nicht, das Entbehrliche unter den irdischen Genüssen zu meiden, sie versagen sich auch das Notwendige, sie peinigen ihren Körper durch Geißelungen und seltsame Manipulationen, an denen G-tt gar keinen Gefallen hat. Das Gegenteil lehren uns die Weisen: Man darf sich gar nicht quälen (Taanith 22,2)! Und bezüglich des Almosens sagen sie: „Wer es nötig hat und doch nicht nimmt, der handelt an sich wie ein Mörder).“ (Jeruschalmi Pea 8,8) Desgleichen: „So ward der Mensch zu einem lebendigen Wesen (Bereischis 2,7), das will sagen: Du musst alles tun, um das Leben der Seele, die ich dir gegeben habe, zu fördern (Taanith 22,2).“ Ferner: „Wer an besonderen Tagen fastet, ist ein Sünder, sobald das Fasten für ihn eine Qual ist.“ (Taanith 11,1) Und Hillel pflegte den Schriftvers: „Ein liebreicher Mann erweist sich selber Gutes“ (Mischlej 11,17), auf den anzuwenden, der gleich am Morgen etwas isst. Er wusch sich regelmäßig Hände und Gesicht. Das müsse man, so meinte er, schon seinem Schöpfer zur Ehre tun (Wajikra Rabba 34,3).
So haben wir die untrügliche Regel: Gegenüber den Dingen dieser Welt, die der Mensch entbehren kann, ist Zurückhaltung das Richtige. Gegenüber anderen Dingen, die aus irgend einem Grunde ihm unentbehrlich sind, Zurückhaltung üben, ist ein Vergehen. Diese allgemeine Regel ist zuverlässig. Die Einzelheiten freilich müssen dem eigenen Nachdenken überlassen bleiben. Sie alle hier zu sammeln, ist nicht angängig, dafür sind sie viel zu zahlreich. Auch sind all die Möglichkeiten gar nicht auszudenken, das kann immer nur bei eintretender Gelegenheit entschieden werden.
[1] Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass nach dem Talmud dies Gesetz an soviele Bedingungen geknüpft war, dass es kaum zur praktischen Anwendung kommen konnte, ja nach Ansicht eines Tanna gar nicht kommen sollte.
Übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)
Fotsetzung folgt ijH