”Die Tefillin meines Sohnes werden die schönsten sein”, sagte Meir immer wieder, ”die herrlichsten, die es je gegeben hat!”
Seit Jahren, eigentlich schon seit Nosson geboren worden war, prahlte Meir von den Tefillin, die sein Sohn einmal tragen würde.
Eigentlich war solche Prahlerei gar nicht so ungewöhnlich. Viele Väter rühmen sich der Dinge, die sie für ihre Kinder wollen, wenn doch nur das Beste gut genug ist. Doch wenn solche Reden von Meir kamen, nun, dann war das doch etwas seltsam.
Meir lebte sein ganzes Leben lang in einem Wald in Russland. Dieser Wald gehörte zum großen Gutsbesitz eines reichen russischen Adligen, und Meir war Verwalter und Aufseher dieses Waldes. Meir hatte zeitlebens dort gelebt, er war dort geboren worden, und bereits sein Vater war der Verwalter dieses Adligen gewesen. Meir hatte den Posten von seinem Vater geerbt.
Im ganzen Wald gab es keine anderen Jehudim. Man musste viele Kilometer reisen, bevor man eine jüdische Siedlung erreichte. Wenn aber ein umherreisender Jehudi in Meirs Haus Halt machte, war die ganze Familie so glücklich und froh, dass man glauben konnte, man feiere einen Jom Tow.
Aber es gab nicht viele jüdische Besucher, nur hie und da vereinzelte Menschen. Und mit der Zeit lebte Meir immer mehr wie seine Nachbarn. Da er selbst nie eine richtige jüdische Erziehung erhalten hatte, war sein Wissen und seine Kenntnis jüdischer Bräuche und Lebenwandels sehr beschränkt. Das wenige, das er wusste, waren die Dinge, die ihn sein Vater gelehrt hatte, der selbst auch kein Gelehrter gewesen war. Meir war jedoch ein frommer Mann, und er achtete sehr darauf, alles so zu beachten, wie er sich vom Leben seines Vaters erinnerte. Er dawente jeden Tag, sagte ab und zu ein paar Kapitel Tehillim, und beachtete die wenigen Gesetze, die er kannte. Und dies waren die Dinge, die Meir seinem Sohn, Nosson, beibrachte.
Deshalb war es doch ein wenig komisch, dass Meir so oft von den Tefillin sprach, die sein Sohn später einmal bekommen sollte.
Es mutete seltsam an, von einem Mann, der langsam alles über jüdisches Leben und Bräuche vergaß, solche Sorge um eine Mitzwa zu hören.
Aber Meir war nicht sehr glücklich darüber, dass er so wenig von seiner Religion verstand und sich immer weiter von ihr entfernte. Er verstand, dass er sich nicht selbst helfen konnte, war er doch von andern Jehudim abgeschnitten – aber das sollte alles anders sein für Nosson, das versprach er sich. Irgendwie, er wusste zwar nicht genau wie, irgendwie würde Nosson aufwachsen und ein echtes jüdisches Leben führen.
Nossons Bar Mitzwa, mit den allerbesten und herrlichsten Tefillin, die man je gesehen hatte, würde der erste Schritt in diese Richtung sein.
Nossons Bar Mitzwa sollte in sechs Monaten sein. „Jetzt muss ich mich aber anstrengen und etwas unternehmen”, sagte sich Meir.
Eines Morgens machte er sich auf den Weg in die nächste große jüdische Gemeinde. Er wollte Eljakim finden. Elajkim war in der ganzen Umgebung als wunderbarer Künstler berühmt. Fast alle Jehudim in diesem Teil des Landes hatten Exemplare von Eljakims Bildern und wunderschönen künstlerischen Buchstaben gesehen und bewundert. Auch in Meirs Haus hing ein Bild von der Kotel Hamaarawi an der Wand, das von Eljakim stammte.
Nach drei Tagen kam Meir in Eljakims Haus an. Er erzählte ihm von seinen Plänen für Nossons Tefillin.
„Ich möchte, dass Du sie machst”, erklärte Meir. „Komm zu uns, wohne bei uns während der nächsten sechs Monate, damit Du Dich ganz dem Projekt widmen kannst. Du wirst nicht enttäuscht werden, es wird sich lohnen, Eljakim. Ich bin zwar kein reicher Mann, aber Du wirst gratis bei mir wohnen – und ich werde Dir das Doppelte Deines gewohnten Einkommens bezahlen!”
Eljakim war einverstanden. Er hätte es nicht machen sollen, da er sehr wenig von den Gesetzen der Tefillin wusste, ebenso wie der arme, träumerische Meir. Aber Eljakim gefiel die Idee und er fühlte sich sehr geschmeichelt. Obendrauf wartete noch ein anständiger Lohn auf ihn. Außerdem konnte er die Tefillin nach eigenem Gutdünken machen. Das lockte ihn sehr.
Als Eljakim bei Meir ankam, war die Freude in der Luft spürbar. Ein Besucher – und ein jüdischer dazu! Eljakim bekam ein eigenes Zimmer, das aufs Schönste eingerichtet war, und alles war blitzblank geputzt. Schließlich war er gekommen, um Nossons Tefillin zu machen, herrliche Tefillin, wie sie weit und breit nicht zu finden waren.
Eljakim wurde wie ein hoher Gast bedient. Er bekam festlich zubereitete Mahlzeiten, die besten Früchte und Leckerbissen zwischen den Mahlzeiten, und wurde allgemein liebevoll umsorgt.
„Nun dann”, sagte Meir zu Eljakim, nachdem dieser sich gut eingelebt hatte. ”Bist du bereit, mit den Tefillin zu beginnen? Für die Parschijot habe ich Pergament von der Haut eines Bären, dem König aller Tiere hier im Wald, den ich vor einigen Monaten selbst erlegt habe. Ein Gerber unweit von hier hat daraus ein fantastisches Pergament hergestellt.”
“Ausgezeichnet”, meinte Eljakim, ”und ich habe eine gute Idee, wie die Tinte fabriziert werden soll. Wenn wir Goldstaub bekommen können, kann ich ihr gewisse Chemikalien und Flüssigkeiten hinzufügen, um daraus goldene Tinte zu machen!”
„Wunderbar! Fantastisch!” rief Meir aufgeregt. ”Niemand wird solch herrliche Tefillin wie mein Nosson haben! Niemand!”
Eljakim machte sich an die Arbeit. Er nahm es sehr genau und arbeitete sehr sorgfältig. Langsam, ohne zu hetzen, schrieb er Buchstaben um Buchstaben, jeder einzelne schön verziert. Nach drei Monaten war die monumentale Arbeit beendet. Die Parschijot waren bereit. Jetzt kamen die Batim dran. Hier trat Meirs Frau ein.
”Seit Jahren habe ich eine goldene Kette unter meinen persönlichen Sachen aufbewahrt. Ich habe sie von meiner Mutter bekommen, die sie ihrerseits von ihrer Mutter erhalten hat. Ich legte sie zur Seite für eine unserer Töchter, aber ich möchte, dass diese Tefillin das allerschönste sein werden, das es je gegeben hat. Nimm doch meine Kette, schmelze sie, und mach die Batim aus dem Gold! Mit Haschems Hilfe werden wir etwas anderes finden, wenn die Zeit für Malkeles Heirat kommt.”
Eljakim arbeitete schwer. Es dauerte beinahe nochmals drei Monate, bis die Batim fertig waren.
Der Tag der Bar Mitzwa stand schon beinah vor der Tür. Drei Wochen zuvor sandte Meir einen Brief in die nächste jüdische Gemeinde, und berichtete, dass er mit seiner Familie kommen werde, um die Bar Mitzwa seines Sohnes bei ihnen zu feiern. Er bestellte eine festliche Mahlzeit und lud alle Menschen ein. Am Dienstag vor der Bar Mitzwa verließen Meir und seine Familie den Wald.
Kaum waren sie in der Stadt angekommen, gingen Meir und Nosson zum Raw der Gemeinde und stellten sich vor. Dort waren gerade der Präsident und die Vorsteher der Gemeinde versammelt. Meir begann, von seinem Leben im Wald zu erzählen, und wie glücklich er sei, jetzt unter Jehudim zu sein, wenigstens für eine kurze Zeit.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis ihn sein Stolz von den allerschönsten Tefillin der Welt erzählen ließ.
„Hier, schaut einmal her”, strahlte er, während er die goldenen Tefillin aus dem speziell angefertigten Samtsäckchen nahm. „Die schönsten Tefillin die je gemacht wurden! Alles vom Besten! Das Pergament von der Haut eines Bären – dem König aller Tiere unserer Gegend! Die Tinte aus reinem Gold – dem kostbarsten Metall auf der Welt! Die Buchstaben vom besten Künstler – Eljakim! Habt Ihr je solch herrliche Tefillin gesehen?”
Meir war so aufgeregt, dass er die Menschen und ihren Gesichtsausdruck gar nicht bemerkt hatte. Er strahlte so – doch dann sah er die andern Gesichter, Schock und Entsetzen stand darauf … und Schweigen!
”Heh heh”, zwang er sich zu einem Lächeln. „Habt Ihr jemals solch … solch … was ist denn los? Warum schaut Ihr mich alle so komisch an? Was habe ich getan?”
Als sich die andern von ihrer Überraschung erholt hatten, fanden sie ihre Sprache wieder und Ausrufe wie „Welch ein Witz!” „Welch fürchterlicher Fehler!” ”Armer Meir!” und Ähnliches wurden laut.
Meir wäre am liebsten in den Boden versunken. Er hatte doch bloß beabsichtigt, dass Nosson eine Mitzwa richtig ausführen konnte, die Mitzwa von Tefillin, auf die allerbeste Art, wie er dies verstand. Jetzt bemitleideten ihn diese Menschen! Einige begannen sogar zu spotten. Aber weshalb?
Der Raw bemerkte die Scham, die Meir überkam, und sandte alle andern Anwesenden hinaus. Nur Meir blieb zurück. Darauf kam der Raw auf Meir zu, legte ihm die Hand auf die Schulter, und bat ihn, sich zu setzen.
„Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll”, fing er an, „ich sehe, dass du alles für die Tefillin deines Sohnes mit der besten Absicht getan hast. Du wolltest eine Mitzwa erfüllen, auf eine Art, die dir am besten erschien. Aber du hast dich trotzdem geirrt. Auch Eljakim hat falsch gehandelt. Ich werde mit ihm reden und ihm sagen, dass er nie wieder Tefillin machen darf. Er ist wohl ein feiner Künstler, aber das bedeutet noch lange nicht, dass er sich mit den Gesetzen von Tefillin auskennt!”
”Aber was kann schon falsch sein?” flehte der enttäuschte Meir. „Ist Pergament von der Haut eines Bären nicht besser als gewöhnliches Pergament? Und …”
”Ich weiß”, unterbrach ihn der Raw, ”aber hör zu. Du weißt, dass deine Tefillin viel Geld gekostet haben, nicht wahr? Und du musst zugeben, dass sich nicht jedermann solche teure Tefillin leisten kann.”
„Ja”, erwiderte Meir, ”Aber…”
„Langsam, Meir. Lass mich aussprechen und ich werde es dir erklären”, fuhr der Raw behutsam fort. Es war nicht einfach, Meirs riesige Enttäuschung mit anzusehen.
„Haschem hat das jüdische Volk mit dem Gebot von Tefillin gekrönt. Im Alter von dreizehn Jahren bekommt jeder seine eigene Krone – ob reich oder arm. In den Tefillin eines Reichen steht nicht mehr geschrieben, als in den Tefillin eines armen Menschens. Alle Tefillin müssen vom Pergament eines koscheren Tieres angefertigt werden. Die Tinte muss schwarz sein, und auf dieselbe besondere Art zubereitet werden. Die Buchstaben sind bei allen genau gleich. Haschem wollte nicht, dass sich der reiche Mann rühmt, dass seine Tefillin besser sind als die seines Nachbarn. Ist das nicht genau das, was du hier getan hast?”
Meir senkte seinen Blick. ”Ja, ich sehe das ein“, murmelte er etwas verlegen.
„Ich werde dir ein Paar koschere Tefillin geben. Ich möchte jedoch vorschlagen, dass die goldenen Tefillin als Kunstwerk verkauft werden, und das Geld für Tzedaka ausgegeben wird. Auf diese Art werden deine guten Absichten zu guten Resultaten führen.”
Meir erhob sich, um zu gehen.
„Halt, da ist noch etwas”, fügte der Raw hinzu, „Du weißt, was dich zu diesem Irrtum gebracht hat. Du hast so weit von deinem Volk entfernt gelebt. Du hast vergessen, wie Jehudim leben sollen. Du musst deine Arbeit im Wald aufgeben und in die Stadt ziehen. Mit deinem Wissen wirst du bestimmt eine neue Arbeit finden. Befolge meinen Rat, Meir, und du wirst so viel glücklicher sein.”
Nach Nossons Bar Mitzwa unternahm Meir den großen Schritt und tat, wie ihm der Raw geheißen hatte. Er war selbst überrascht, wie schnell er – und alle anderen – die Geschichte der goldenen Tefillin vergaßen. Er war zu beschäftigt und zu glücklich mit seinem neuen Leben, als Jehudi unter andern Jehudim. Sein Traum, dass Nosson eines Tages ein echtes jüdisches Leben führen möge, war Wirklichkeit geworden. Er war sogar für ihn in Erfüllung gegangen!
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags “Die Jüdische Zeitung”