Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Zwölftes Kapitel.
Die Methoden, sich die Lauterkeit zu erwerben.
Das rechte Mittel, die Lauterkeit zu erwerben, ist fleißiges Lesen der Aussprüche der Weisen, mögen sie nun halachische Entscheidungen oder ethische Mahnungen betreffen. Ist Einem die Pflicht und die Notwendigkeit der Lauterkeit zum Bewusstsein gekommen, hat er die Tugend der Achtsamkeit und des Eifers dadurch erlangt, dass er die Mittel gewählt, wodurch sie zu erwerben ist und alle Hindernisse von sich fern gehalten, dann fehlt ihm nur noch eins, um zur Lauterkeit zu gelangen: er muss von allen Feinheiten der Mitzwot wissen, um sie alle beobachten zu können.
Es ist also durchaus notwendig, dass er die halachischen Entscheidungen gründlich kennt, damit er weiß, bis wie weit die Verpflichtung in den einzelnen Mitzwot geht.
Zudem vergisst man leicht derartige Feinheiten. So muss man denn in den Büchern, die sich damit beschäftigen, fleißig lesen, um sie im Gedächtnis immer aufzufrischen, dann wird man von selbst dazu geführt, sie auch auszuführen. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Ausbildung der Charaktereigenschaften. Auch hier muss man die ethischen Aussprüche der Autoren der älteren und späteren Zeit lesen. Sonst kann es oft vorkommen, dass man selbst bei dem festesten Vorsatz, es mit der Tugend der Lauterkeit ernst zu nehmen, sich in Einzelheiten vergeht. Einfach, weil man nicht soweit in der Erkenntnis vorgeschritten ist. Der Mensch wird doch nicht als Kundiger geboren, er kann nicht ohne Weiteres Alles wissen. Liest er aber von solchen Dingen, dann wird er aufmerksam gemacht auf das, was er vorher nicht gewusst, lernt das kennen, was er vorher nicht verstanden hat. Auch auf das, was in den Büchern selbst nicht steht. Denn, wenn sein Denken einmal auf eine Sache aufmerksam geworden, dann verbreitet es sich über sie nach allen Richtungen und gewinnt ihr, aus der rechten Quelle schöpfend, immer neue Seiten ab.
Hinderlich endlich sind der besprochenen Tugend alle die Momente, die der Achtsamkeit hinderlich sind. Nur kommt noch hinzu: Unkenntnis in den halachischen Vorschriften und ethisch-religiösen Forderungen. Schon die Weisen sagen: „Ein unwissender Mensch kann nicht fromm sein (Pirke Awot 2,5). Denn wer etwas nicht weiß, der kann es nicht ausüben. Und ferner: „Von der höchsten Bedeutung ist das „Lernen“, denn das führt zur Tat” (Kidduschin 40b).
Dreizehntes Kapitel.
Die Zurückhaltung
Die Zurückhaltung ist der erste Schritt zur Frömmigkeit. Man beachte wohl, daß Alles, was wir bisher erörtert, sich auf das bezieht, was man sich aneignen muss, um ein Gerechter zu sein. Was nun kommt, handelt von dem, was den Menschen zum Frommen macht. Die Zurückhaltung steht in demselben Verhältnis zur Frömmigkeit, wie die Achtsamkeit zum Eifer, es ist die negative Seite „Meide das Böse“ im Verhältnis zur positiven: „Tue das Gute.“ (Tehillim 34,15). Das Wesen der Zurückhaltung ist in dem Satze der Weisen ausgesprochen: „Sei heilig auch in dem, was dir erlaubt ist“ (Jewamot 20a). Das ist auch recht eigentlich der Sinn des Wortes „Zurückhaltung“, es bedeutet, sich zurück- und ferne von einer Sache halten, sich etwas Erlaubtes verbieten, damit man nicht dazu komme, das wirklich Verbotene zu übertreten. Wesentlich ist: von Allem, woraus etwas Böses entstehen könnte, obwohl es jetzt nicht daraus entsteht, und erst recht nicht selbst etwas Böses ist, von alledem soll man sich fern und zurückhalten.
Noch deutlicher: es gibt drei Abstufungen: Zuerst die Verbote selbst, dann die Zäune darum, das sind die Vorsichtsmaßregeln, die die Weisen in ihren Bestimmungen für alle Jisraeliten getroffen haben, endlich die Erschwerungen, die jeder, der die Tugend der Zurückhaltung üben will, sich auferlegen muss, indem er die Grenzsteine noch mehr in sein eigenes Gebiet rückt und sich noch eigene Zäune erbaut, d. h. dass er das, was an sich erlaubt und der Gesamtheit der Jisraeliten nicht verboten ist, unterlässt, sich davon zurückhält, nur um eine recht große Entfernung zwischen sich und das Böse zu legen.
Man wird freilich fragen: woher nehmen wir das Recht, über die Verbote hinauszugehen?!
Die Weisen tadeln das doch. Sie sagen: „Hast du nicht genug an dem, was die Tora verboten? Du willst dir noch andere Dinge verbieten!“ (Jeruschalmi Nedarim 9,1). Und unsere Alten haben ja in ihrer Weisheit überall dort, wo sie ein Verbot und einen Schutz für notwendig erkannten, es ausgesprochen, und wo sie es unterließen, geschah es, weil das Betreffende erlaubt bleiben und nicht verboten sein sollte?! Wozu sollen wir jetzt neue Vorsichtsmaßregeln treffen, die sie nicht nötig fanden? Dazu kommt, dass es dann kein Halten gibt. Dann kommt man zur dumpfen Askese, genießt nicht das Geringste von dieser Welt, und die Weisen haben doch gelehrt: „Der Mensch wird einst vor G-tt Rechenschaft ablegen müssen über all das, was sein Auge gesehen und er doch nicht genossen, obwohl es ihm erlaubt gewesen und er es sich hätte verschaffen können.” (Jeruschalmi Kidduschin 4,12). Sie finden das angedeutet in dem Schriftwort: „Was irgend meine Augen begehrten, versagte ich ihnen nicht” (Kohelet 2,10).
Die Antwort darauf: Die Zurückhaltung ist sicher notwendig und geboten.
Unsere Weisen haben sie eingeschärft: „Heilig sollt ihr sein, d. h. zurückhaltend sollt ihr sein“ (Torat Kohanim 19,2). Ferner: „Wer Fasttage abhält, wird ein Heiliger genannt, denn wenn schon der Nasir, der sich nur eine Sache entzogen, heilig heißt, um wieviel mehr dieser, der sich Alles versagt“ (Taanit 11a). Ferner: „Der Fromme isst nur soviel er zur Sättigung braucht“, das geht auf Chiskijahu, den König von Juda. Nur zwei Bund Kraut, so erzählt man, und ein Pfund Fleisch pflegte täglich auf seinen Tisch zu kommen, und das Volk sagte spöttisch: „Das nennt man einen König!“ (Pesikta Deraw Kahana ed. Buber S. 59b, nach Mischlej 13,25). Sie erzählen von Rabbi, dem Heiligen[1], er habe auf dem Sterbebett seine zehn Finger emporgehoben und gesprochen: „Herr der Welt, es ist dir offenbar, dass ich mich mit meinen zehn Fingern in der Tora abgemüht, dass aber von den irdischen Genüssen ich nicht einmal soviel genossen, wie auf meinen kleinen Finger geht“ (Ketubot 104a). Ferner: Statt dass du betest: „Oh möchten die Worte der Lehre in mein Inneres dringen,“ bete lieber: „Oh möchte nicht soviel Essen und Trinken in meinen Leib kommen!“ (Jalkut 830) Alle diese Sätze bezeugen die Notwendigkeit und die Pflicht der Zurückhaltung. Freilich müssen wir nun auch die Sätze erklären, die das Gegenteil besagen.
Die Sache ist aber so: es sind da prinzipielle Unterschiede. Es gibt eine Zurückhaltung, die uns geboten ist, und eine andere, vor der wir gewarnt werden, dass sie uns nicht zum Fallstricke werde; sie meint der König Schlomo, wenn er sagt: „Sei nicht allzu fromm!“ (Kohelet 7,16).
Fotsetzung folgt ijH
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Rabbi Jehuda Hanassi, “Rebbi Hakadosch” genannt ↑