Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Elfter Abschnitt. Teil 5.
Der Neid hat eine Schwester: Die Begierde. Sie quält den Menschen bis zu seinem Tode. Nach dem Worte der Weisen: „Keiner stirbt, der auch nur seine Begierde zur Hälfte gestillt hat” (Koheleth Rabba zu 1,13). Die Begierde richtet sich nun vor allem auf zwei Punkte, auf Geld und auf Ehre, und in beiden Beziehungen ist sie etwas sehr Hässliches und bringt über den Menschen viel Unglück.
Das Verlangen nach Geld, das bindet den Menschen mit den Fesseln des Irdischen und legt die Stricke der Arbeitsfrohnde um seine Arme, wie die Schrift sagt: „Wer das Geld liebt, wird des Geldes nicht satt“ (Kohelet 5,9). Es bringt ihn von seinen religiösen Pflichten ab. Wie viele Gebete werden unterlassen, wieviel Mitzwot vergessen, nur weil der Betreffende zu beschäftigt und durch die Fülle seiner Unternehmungen abgespannt war, vom „Lernen“ gar nicht zu reden. Schon die Weisen deuten das Schriftwort: „Sie ist nicht jenseits des Meeres“ (Dewarim 30,13) sie ist nicht bei denen, die über das Meer zu ihren Geschäften fahren (Eruwin 55a). Und in den Sprüchen der Väter: „Wer in zu viel Unternehmungen sich einlässt, kann nicht ein Gelehrter werden“ (Pirke Awot: 2,5).
Das Verlangen nach Geld setzt den Menschen vielen Gefahren aus, und die zahlreichen Sorgen schwächen seine Kraft, auch dann, wenn er viel erworben hat. „Je mehr Habe, desto mehr Sorgen”. (Ebd: 2,7) Es führt dazu, dass er viele Gebote der Thora, ja selbst die natürlichen Gebote der Menschlichkeit übertritt.
Noch schlimmer ist das leidenschaftliche Verlangen nach Ehre.
Man kann vielleicht die Begierde nach Geld und nach anderen Genüssen unterdrücken, aber die Sucht nach Ehre setzt sich durch, unerträglich ist dem Betreffenden der Gedanke, er solle unter seinen Genossen stehen. An dieser Klippe ist so mancher gestrauchelt und zugrunde gegangen.
Jerowam hat sich darum das Jenseits verscherzt. Die Weisen erzählen (Sanhedrin: 102a): G-tt fasste ihn an seinem Gewand und sprach zu ihm: „O, kehre um! Dann werden wir alle im Gan-Eden lustwandeln, ich, du und der Sohn Jischajas???!“ Er aber sagte: „Wer wird dort der Erste sein?“ G-tt antwortete: „Der Sohn Jischajas“. Und Jerowam: „Nein,dann will ich es nicht!“
Der Untergang Korachs und seines ganzen Anhangs hatte seine Ursache nur in der Ehrsucht. Wie es deutlich in der Schrift steht: „Ihr verlangt also auch die Priesterwürde!” (Bamidbar 16,10) Und die Weisen berichten uns, dass das Alles nur davon kam, dass er an Stelle Elizaphans, des Sohnes von Usiel gerne Fürst sein wollte (Bamidbar Rabba 18,2).
Die Kundschafter haben, nach der Meinung unserer Weisen, nur deshalb Verleumdungen über das heilige Land ausgesprochen und über sich und ihr ganzes Geschlecht den Tod gebracht, weil sie befürchteten, ihre ehrenvolle Stellung könnte unter dem Einzug in das Land leiden, sie würden nicht mehr die Fürsten in Jisrael sein, und Andere an ihre Stelle treten. Was war der erste Anlass für die Verfolgungen Davids durch Schaul? Die Ehrsucht! Wie die Schrift berichtet: „Als sie nun heimkamen . . . da hoben die Frauen an und riefen: Schoul hat seine Tausende geschlagen, David aber seine Zehntausende . . . Und Schaul sah von jenem Tage an und weiterhin David scheel an.“ (Schmuel 1 18,6). Joaw hat den Amassa getötet, weil David diesem in Aussicht stellte, er solle allzeit sein Heerführer sein (Schmuel 2: 19,14).
Kurz, das Verlangen nach Ehre ist für das Menschenherz ein stärkeres Motiv als jede andere Lust und Leidenschaft auf Erden.
Wäre dies Verlangen nicht, dann würde jeder damit zufrieden sein, bloss seinen Hunger zu stillen, sich nur so zu kleiden, dass er seine Blöße deckt, und in einer Wohnung zu hausen, die ihn vor dem Unbill des Wetters schützt; die Beschaffung seines Unterhalts würde ihm leicht fallen, er brauchte sich in keiner Weise abzuquälen, Reichtümer anzusammeln. Nur weil der Eine nicht hinter dem Anderen zurückstehen will, lädt er sich selbst diese unerträgliche Last auf, diese unsägliche Mühe. Darum sagen die Weisen: „Neid, Sinnenlust und Ehrsucht bringen den Menschen von der Welt” (Pirke Awot 4,21). Darum warnen sie uns: „Strebe nicht nach einer hohen Stellung, habe kein Verlangen nach Ehren“ (Pirke Awot 5,8). Wieviele gibt es, die vom Hunger gequält werden, sich soweit erniedrigen, von der allgemeinen Wohltätigkeit zu leben, aber eine Arbeit, die ihnen nicht vornehm genug erscheint, wollen sie nicht in die Hand nehmen?! Kann man sich eine größere Torheit denken?! Lieber wollen sie müssig gehen, und dadurch womöglich versumpfen, lasterhaft werden, sich an fremdem Gut vergreifen, in allerlei Sünden geraten! Und alles das, nur um ihrer Stellung nichts zu vergeben, und ihre eingebildete Ehre nicht anzutasten. Unsere Weisen aber, die durch ihre Lehren uns stets auf die rechten Wege führen,
haben gesagt: „Liebe die Arbeit und hasse die Würde“ (Ebds. 1,10) Und ferner: „Zieh einem Kadaver auf freiem Markte das Fell ab, lass dir nicht einfallen, zu sagen: „Ich bin ein großer Mann, ich bin ein Kohen!” (Pessachim 113a) Desgleichen: „Ergreife lieber einen Beruf, der für dich nicht passt, als dass du deinen Mitmenschen zur Last fällst! (Bawa Basra: 110a)
Kurz, das Verlangen nach Ehre ist einer der gefährlichsten Fallstricke für den Menschen.
Er kann unmöglich seinem Schöpfer ein treuer Diener sein, solange er auf seine eigene Ehre ängstlich bedacht ist. Seine Torheit bringt ihn ganz von selbst dazu, es dann mit der Ehre G-ttes nicht so genau zu nehmen. Das meint der König David: „Ich will gering geachtet sein – noch mehr als diesmal – und bescheiden von mir denken!“ (Schmuel II: 7,22). Die wahre Ehre besteht darin, die rechte Kenntnis von der Tora zu erlangen. Wie die Weisen sagen: „Ehre gibt nur die Tora, denn es heisst: „Ehre werden die Weisen erlangen“. (Pirke Awot: 6,8 nach Mischlej 3,35) Alles Andere ist nur eingebildete Ehre, eitel Tand und Unnütz. Wer lauter werden will, der muss in dieser Hinsicht sich völlig rein und lauter halten. Dann wird es ihm glücken.
Ich habe im Vorangegangenen eine Reihe von Einzelheiten gebracht, in denen die Tugend der Lauterkeit sich bewähren muss. Was von ihnen gesagt wurde, ist nun auf alle anderen Mitzwot und Charaktereigenschaften zu übertragen. „Zu dem, was der Weise gehört hat, fügt er eigenes Wissen, wer verständig ist, gewinnt neue Wege.“(Mischlej 1,5). Es soll nun nicht geleugnet werden, dass es dem Menschen ein wenig Mühe macht, diese Lauterkeit zu erlangen. Trotzdem meine ich, es ist nicht so schwer, wie es zuerst erscheint. Der Vorsatz ist da schwerer als die Ausführung. Legt man es sich in seinem Innern zurecht, hat man den festen, andauernden Willen, zu denen zu gehören, die diese Tugend besitzen, dann wird es Einem durch ein bisschen Gewöhnung viel leichter, als man es sich hat träumen lassen. Die Erfahrung bestätigt diese Wahrheit.
Fortsetzung folgt ijH.
Übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)