Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Elfter Abschnitt. Teil 4.
Es folgt der Zorn: Da ist zunächst der Jähzornige.
Über ihn sagen die Weisen: „Wer zornig wird, kann dir als Götzendiener gelten.“ (Schabbat: 105b) Das ist ein Mensch, der über Alles, was ihm wider den Strich geht, in Zorn gerät und so wütend wird, dass er sich selbst nicht kennt und in seinem ruhigen Überlegen getrübt wird. So Einer könnte eine ganze Welt in Trümmer legen, wenn er die Macht dazu hätte, denn die Vernunft hat ihre Herrschaft über ihn verloren, er ist in des Wortes eigentlichster Bedeutung ohne Verstand, wie ein wildes Tier. Von ihm heisst es: „Du zerfleischst dich selbst in deinem Zorne, soll deinetwegen die Erde veröden?!“ (Ijow: 18,4) Wenn ihn der Zorn dazu bringt, ist er imstande, jede menschenmögliche Sünde zu begehen. Er steht dann ausschliesslich im Banne der zornigen Erregung und lässt sich überallhin treiben, wohin diese führt.
Eine andere Gattung des Zornes ist: Der Betreffende gerät nicht über jede unbedeutende Sache, die ihm gegen den Willen geht, in Wut. Kommt er aber einmal in zornige Wallung, dann nimmt sie einen hohen Ausmaß an. Das ist der, über den die Weisen in dem bekannten Ausspruch sagen, dass er schwer zu erzürnen, aber auch schwer zu besänftigen sei (Pirke Awot: 5,11). Auch um ihn steht es sicher schlecht bestellt, denn wenn er zornig ist, kann er das Gefährlichste anrichten, und nachher ist der Schaden nicht mehr gut zu machen.
Wieder eine andere Gattung ist nicht so schlimm: Denn der Betreffende wird nicht so leicht zornig, und wenn er zürnt, dann ist sein Zorn nicht heftig und bleibt in den Grenzen der Vernunft.
Doch er ist von Dauer. Mag darum ein solcher Mensch auch nicht so unvollkommen sein, wie die vorher Genannten, er ist noch nicht „lauter“, nicht einmal „achtsam“. Solange der Zorn in ihm eine Wirkung hinterlässt, gehört er noch zur Kategorie derer, die von der Leidenschaft des Zornes beherrscht werden.
Die unschuldigste Form endlich ist dem eigen, der schwer zu erzürnen, in seiner Erregung gemäßigt ist, nicht an Zerstörung und Vernichtung denkt, und dessen Zorn nur einen Augenblick währt; wenn die natürliche Erregung in ihm entfacht wird, dann meldet sich sofort die Vernunft dagegen; kurz der Mensch, von dem die Weisen sagen, dass er schwer zu erzürnen und leicht zu besänftigen sei. Das ist ein hoher Grad der Tugend. Denn die Natur des Menschen neigt zum Zorne, und wenn er sich nun überwindet, dass er auch im Augenblicke des Zornes nicht eigentlich wütend ist, wenn er sich ferner darin überwindet, dass auch diese geringe Erregung nicht lange verhält, sondern bald verschwindet, so ist das alles lobenswert. „Die Welt“, so sagen die Weisen, in kühner Deutung eines Schriftwortes, „kann nur bestehen durch den, der im Streit den Mund schließt“ (Chullin: 89a nach einer Umdeutung von Ijow: 26,7), d. h. durch den, der auch dann, wenn die natürliche Erregung durchbricht, sich selbst überwindet und den Mund schließt.
Freilich höher als Alle steht Hillel in seiner Sanftmut. Ihn konnte nichts aufbringen. Bei ihm fehlte auch die an und für sich natürliche Zorneswallung. Das erst heißt: völlig frei vom Zorne sein.
Selbst da, wo es sich um eine Mizwa handelt, dürfen wir nach dem Gebot unserer Weisen nicht in Zorn geraten. Nicht einmal der Lehrer gegenüber seinem Schüler und der Vater gegenüber seinem Sohne. Natürlich soll er ihn züchtigen, aber ohne zornige Erregung und nur mit der Absicht, ihn auf den richtigen Weg zu leiten (Schabbat: 105b). Er sollte ihm nur ein zorniges Gesicht zeigen, ohne wirklich zornig zu sein. Wie Schlomo sagt: „Lass deinen Geist nicht in Aufruhr kommen durch das Zürnen” (Kohelet 7,9). Und ferner heißt es: „Den Toren erschlägt der Zorn“ (Ijow: 5,2). Und die Weisen sagen: „In drei Situationen erkennt man den wahren Charakter eines Menschen: Beim Gelage, im geschäftlichen Verkehr und in seinem Zorne“ (Eruwin: 65b).
Der Neid: Auch er ist ein Beweis von Dummheit und Unbildung: Der Neidische gewinnt nichts für seine Person und tut dem Beneideten keinen Abbruch, er schadet höchstens sich selbst, wie es in dem eben erwähnten Spruch heisst: „Den Einfältigen tötet der Neid.“
Der eine geht in seiner Torheit so weit, dass er jedes mal, wenn dem Nächsten etwas Gutes widerfährt, sich Gedanken macht, sich sorgt und grämt. Und aus Ärger über das, was er beim Anderen sieht, hat er keine Freude an den Gütern, die er besitzt. Das meint der weise König: „Wie Knochenfrass, so ist der Neid.“ (Mischlej: 14,30)
Ein Anderer wieder empfindet zwar den Ärger und den Schmerz nicht so stark, aber etwas Ärger spürt er doch, er wird zum mindesten missgestimmt, wenn Einer, der nicht zu seinen engsten Freunden gehört, zu einer höheren Stellung gelangt. Der Ärger steigert sich noch, wenn ihn mit dem Betreffenden keine besondere Freundschaft verbindet, oder wenn er gar aus einem fremden Lande eingewandert ist. Mit dem Munde reden sie dann wohl so, als freuten sie sich und dankten G-tt für sein Glück, aber mit dem Herzen sind sie nicht dabei. Und das trifft man häufig genug und bei den meisten Menschen. Sie sind nicht geradezu von Neid besessen, aber sie können sich doch nicht seiner ganz erwehren. Und nun gar, wenn ein Konkurrent Glück hat, jeder hasst nun einmal seinen Konkurrenten (Bereschit Rabba: Kap. 19,4), oder wenn der Konkurrent mehr vom Glücke begünstigt ist! Sie bedenken alle das Eine nicht: Keiner bekommt auch nur einen Faden von dem, was dem Anderen bestimmt ist (Joma: 38b), und was ein Jeder hat, das stammt Alles von G-tt, wie er es nach Seinem wunderbaren Ratschluß und Seiner uns verborgenen Weisheit eingerichtet hat. Sie haben also nicht den geringsten Grund, sich über das Glück der Anderen zu ärgern. In diesem Sinne hat der Prophet für die künftige Zeit geweissagt: Damit das Glück Jisraels vollkommen sei, werde G-tt diesen hässlichen Charakterzug aus unserem Herzen reißen. Dann wird der Eine keinen Ärger empfinden über das Glück des Anderen, und wer Erfolg hat, wird seine Person und seinen Besitz nicht vor dem Neid zu verbergen brauchen. „Es weicht der Neid von Ephraim und die Feinde von Jehuda werden ausgetilgt. Ephraim beneidet nicht mehr Jehuda und Jehuda wird nicht Ephraim befehden.“ (Jeschaja: 11,13) Es herrscht der selige Frieden der Engel. Die freuen sich alle ihres Dienstes, wie ihn ein Jeder an seiner Stelle verrichtet. Keine Spur von Neid hat Einer gegen den Anderen. Sie alle sehen eben klar, und froh ihres Loses jauchzen sie über das Gut, das sie besitzen.
Fortsetzung folgt ijH.
Übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)