Von allen Verdächtigungen, unter denen die Jehudim im zaristischen Russland während des Ersten Weltkrieges zu leiden hatten, war der Spionageverdacht die schwerste. Einzelpersonen und ganze Gemeinden wurden angeklagt, sie stünden mit dem deutschen Feinde in Verbindung. Rabbanim und Mitarbeiter der Gemeinden wurden als Geiseln genommen, um mit ihrem Leben zu garantieren, dass niemand aus ihrer Gemeinde in eine Spionage-Affäre verwickelt war.
Der Chafez Chajim, der den Ersten Weltkrieg als Teil der „Chewle Moschiach“[1] betrachtete, fühlte sich dadurch bestätigt. Der Midrasch sagt, dass die Geschehnisse von Josef und seinen Brüdern eine Vorahnung für die Entwicklungen vor der Ankunft von Maschiach sind. So wie damals der Verdacht von Spionage auf den Kindern Jakows lastete und zuerst Schimon und dann Binjamin als Geiseln genommen wurden, so geschah es auch im Weltkrieg.
Jeschiwa von Chafetz Chaim in Radin
Bei Kriegsausbruch lernten in der Jeschiwa des Chafez Chajim drei Bachurim aus der deutschen Stadt Memel (später das litauische Klaipeda). Nach dem Kriegsrecht hätten sich sämtliche deutsche Staatsbürger den Behörden stellen müssen, die sie ins Innere Russlands, unter anderem nach Sibirien, deportiert hätten.
Aber diese drei Bachurim stellten sich nicht den Behörden. Sie hatten Angst, sie könnten in eine unbekannte Gegend verschickt werden, wo es keine Jehudim geben würde.
Die Leitung der Jeschiwa hatte aus Rücksicht gegenüber diesen verlassenen Jugendlichen nichts dagegen unternommen, obwohl sie sich damit in Gefahr begab. Sie überging die Angelegenheit schweigend und hoffte, in einer so kleinen und stillen Stadt wie Radin würde sich niemand um die Bachurim kümmern.
Im Sommer 1915 traf in Radin ein junger Mensch aus einer nahegelegenen Stadt ein, der sich als Fellhändler ausgab. Er logierte im Hause, in dem sich die Jeschiwabachurim befanden, und befreundete sich mit ihnen. Er kam auch zuweilen in die Jeschiwa, wo er alle mit neugierigen Augen betrachtete. Als ihm bekannt wurde, dass sich in der Jeschiwa Talmidim aus Memel befanden, versprach er ihnen sogar, sie aus Erbarmen mit Geld zu unterstützen.
Am 17. Tamus passierte es, dass der „Fellhändler“ mit den Bachurim außerhalb der Stadt unterwegs war.
Unter den Bachurim befand sich auch Efrajim Leibowitz, einer der Talmidim aus Memel. Auf einem Hügel angelangt, rasteten sie auf einer Wiese. Als sie in ein Gespräch vertieft waren, nahm der „Fellhändler“ ein Papier und steckte es unbeobachtet in die Tasche des Memelers. Zurückgekehrt, verabschiedete er sich freundlich von allen und ging fort.
In der nächsten Nacht trafen Geheimpolizisten und Gendarmen aus Lodz und Wilna ein. Sie umstellten das Haus von Raw Leib Matlis, dem Schwager des Chafez Chajim, wo Efrajim Leibowitz wohnte. Im Verlaufe der Durchsuchung fanden sie in dessen Tasche das gefaltete Papier. Darauf war ein Plan der Kownoer Festung in allen Einzelheiten aufgezeichnet. Der „Fellhändler“, der in der russischen Geheimpolizei arbeiten wollte, hatte diese Falle aufgestellt, um sein Talent unter Beweis zu stellen.
Der Bochur wurde gefesselt nach Wilna gebracht. Den zwei anderen Bachurim gelang es zu flüchten. Efrajim sollte innerhalb von 48 Stunden erschossen werden. Mit großer Mühe und viel Geld konnte dies bis zu einer Gerichtsverhandlung verhindert werden.
Raw Leib Matlis, der ebenfalls verhaftet worden war, wurde erst nach einigen Wochen aus dem Gefängnis wieder entlassen.
Der Schmerz und die Sorge des Chafez Chajim sind leicht zu begreifen. Als die Familie des „Fellhändlers“ mit der Bitte an ihn gelangte, sie nicht zu verfluchen, antwortete er: „Ich verfluche niemanden“. Von da ab aber stand die Jeschiwa unter ständigem Verdacht. Immer wieder erschienen Polizisten und kontrollierten die Ausweispapiere der Bachurim. Unter den Bauern der Gegend kam sogar das Gerücht auf, der „alte Rabbin“ stünde mit den Feinden Russlands in Kontakt, und seine Frau, die wegen ihrer schwachen Gesundheit vor dem Krieg oft nach Karlsbad zur Kur gereist war, stünde persönlich mit fremden Agenten in Verbindung.
Dem Memeler halfen alle Bemühungen nichts, zu groß war das ihm angelastete Vergehen.
Als sich die Deutschen Wilna näherten, wurde Efrajim ins innere Russland überführt, und niemand kannte seinen Aufenthaltsort.
Der „Fellhänder“ entging seinem Schicksal nicht. Er blieb in Wilna, das kurze Zeit danach von den Deutschen erobert wurde. Unter den einrückenden Truppen befand sich der Bruder von Efrajim Leibowitz, der Offizier war und als Arzt diente. Er reiste nach Radin, um sich mit seinem Bruder zu treffen. Als er hörte, was seinem Bruder zugestoßen war, schwor er, das Verbrechen zu rächen. Als er nach langem Suchen den „Fellhändler“ fand, zog er eine Pistole hervor und erschoss den Mann an Ort und Stelle.
Der Chafez Chajim und seine Jeschiwa hatten mittlerweile flüchten müssen. Er stellte seine Nachforschungen nach Efrajim nicht ein und suchte überall nach ihm. Mehr als ein Jahr verging, bis am Ende des Sommers 1916 ein Jehudi, ein Lieferant des Gefängnisses in Pausa, ein Gerücht hörte, das von einem jüdischen Jüngling berichtete. Schließlich konnte er mit Leibowitz in Kontakt treten. Dieser bat ihn, dem Chafez Chajim auszurichten, dass er, Efrajim Leibowitz, sich hier im Gefängnis befinde. Der Jehudi erfüllte die Bitte.
Am Schmini Azeret des Jahres 1916 kam ein Telegramm des Inhalts an, dass die Gerichtsverhandlung bald stattfinden würde. Der Chafez Chajim befand sich damals in Sumiatz bei Mohilew. Am nächsten Tage, es war Simchat Tora, schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, als er zur Tora aufgerufen wurde, brach in Tränen aus und sagte: „Ribbono schel Olam, Du bist doch ein Baal Rachamim, warum erlaubst Du, dass Deine Kinder so leiden? Da liegt die Tora, die Efrajim mit so eifrig gelernt hat, und jetzt wird er gequält, ohne dass er eine Sünde begangen hat!“ Alle Anwesenden brachen in Tränen aus, bis der Chafez Chajim seinen Schwiegersohn, Rabbi Zwi Lewinsohn, bat, die Bachurim zu beruhigen, da es Simchat Tora war.
Sofort nach der Tefilo sandte der Chafez Chajim einen Extraboten nach St. Petersburg, um den durch den Beilis-Prozess berühmt gewordenen jüdischen Advokaten Oskar Grusenberg zu bitten, die Verteidigung des Angeklagten zu übernehmen. Zu seiner Enttäuschung weigerte sich dieser aber, angesichts der Schwere der Anklage und der antisemitischen Strömung im Land. Als der Chafez Chajim von der Weigerung Grusenbergs erfuhr, fuhr er persönlich nach St. Petersburg.
Als Grusenberg ihn fragte, ob er bezeugen könne, dass der Angeklagte schuldlos sei, antwortete der Chafez Chajim, dies könne man schon aus dem Umstande sehen, dass er trotz seines Alters die Mühe nicht gescheut habe, nach St. Petersburg zu kommen.
Grusenberg antwortete: „Rebbe, Sie sind jung, denn Sie zeigen mehr Energie und Frische, wenn es darum geht, ein Leben in Jisrael zu retten als wir.“ Und zu seiner Frau, die neben ihm stand, sagte er tief erschüttert auf Russisch: „Würde ein russischer Gelehrter eine solche Reise auf sich nehmen, wenn es darum ginge, diesen Jungen zu retten?“
Grusenberg entschuldigte sich und verließ das Zimmer für kurze Zeit. Da sagte der Chafez Chajim zu seinen Begleitern (Raw Jecheskel Sarna, später Chewroner Rosch Jeschiwa, und Raw Hilel Ginsburg): „Er ist ein guter Mensch. Wäre er doch auch so gut in der Awodat Habore. Es fehlt ihm die jüdische Erziehung. Wenn er in einer Jeschiwa erzogen worden wäre, wer weiß.“
Als Grusenberg wieder hereinkam, sagte er, dass er ablehnen müsse. Er habe unter den gegenwärtigen Umständen nicht die Kraft, vor einem Kriegsgericht zu erscheinen. Aber er habe sich mit einem nichtjüdischen Advokaten in Verbindung gesetzt, der bereit sei, sich des Falles anzunehmen. Es sei außerdem besser, wenn der Advokat kein Jude sei.
Der Prozess fand im Januar 1917 in Witebsk statt, und zwar vor einem Richterkollegium aus drei Generälen. Als Zeugen waren der Chafez Chajim, sein Schwiegersohn Rabbi Zwi Lewinsohn und Rabbi Elchonon Wassermann vorgeladen.
Rechtsanwalt Oskar Grusenberg
Am Tage des Prozesses wurde auf die Bitte des Chafez Chajim in sämtlichen Jeschiwot Russlands Tehillim gesagt, und in seiner eigenen Jeschiwa fastete man.
Im Prozess wurde vom Chafez Chajim verlangt, zu schwören. Er antwortete: „Mein ganzes Leben habe ich keine Unwahrheit gesagt, aber schwören kann ich nicht, selbst wenn es wahr ist.“
Nach der Zeugenaussage des Chafez Chajim klärte der nichtjüdische Verteidiger das Gericht über die Persönlichkeit des Zeugen auf. Als Beispiel erzählte er die Geschichte, wie der Chafez Chajim einmal in Warschau von einem Menschen angehalten wurde, der ihn bat, eine Note von fünf Rubeln zu wechseln. Als der Chafez Chajim seine Geldtasche hervorzog, entriss der Mann sie ihm und suchte das Weite. „Der Raw konnte ihm nur nachrufen, dass er ihm verzeihe. Zu seinen Begleitern sagte er: „Bestimmt hat die Not ihn dazu gezwungen. Wenn es ihm besser geht, wird er es bereuen. Warum soll er sein Brot als Raub verzehren?“
Im Anschluss an diese Geschichte entspann sich zwischen dem Gerichtspräsidenten und dem Verteidiger folgende Diskussion: Herr Advokat, glauben Sie selber an diese Geschichte?“
Der Anwalt antwortete: „Nein, Herr Richter, meiner Meinung nach ist es nur ein Märchen.“
„Warum erzählen Sie dann dieses Märchen?“
„Entschuldigen Sie, Herr Richter, aber können Sie mir erklären, warum das Volk solche Geschichten nicht über Sie erzählt? Glauben Sie nicht, dass die Entstehung von Märchen über gewisse Menschen ein Beweis für ihre Größe ist?“
Der Ankläger versuchte die Zeugenaussage des Chafez Chajim mit dem Hinweis zu entkräften, dass sich der Angeklagte gerade darum unter die Hut eines solchen von den Jehudim verehrten Mannes begeben habe, da er glaube, dieser werde ihn schon schützen können. Im weiteren führte er pathetisch an, wie durch die Einnahme der Kownoer Festung russische Leben vernichtet wurden, und er malte ein Bild von den trauernden Hinterbliebenen und der Schande Russlands. Deshalb verlange er die Todesstrafe.
Nach der Urteilsberatung verlas der Gerichtspräsident das Urteil.
Der Angeklagte wurde zum Tod verurteilt, doch wurde die Strafe unter Berücksichtigung seiner Jugend zu zwölf Jahren Zwangsarbeit umgewandelt. Der Jeschiwabachur fiel in Ohnmacht, und die Anwesenden brachen in Tränen aus. Wie konnte ein so schwacher Jüngling die Strafe überstehen.
Russischer Zar Nikolaus II j”sch
Die Talmidim berieten, wie sie das Urteil vor dem Chafez Chajim verbergen könnten. Sie fürchteten, dass er vor Kummer krank werden würde. So erzählte man ihm zuerst, Efrajim sei zu zwei Jahren verurteilt worden. Der Chafez Chajim bemerkte aber, dass man ihm etwas verbergen wollte, und verlangte, dass man ihm sofort die ganze Wahrheit mitteilen solle.
Als ihm diese gesagt wurde und alle in Tränen ausbrachen, dankte der Chafez Chajim zuerst Haschem, dass Efrajim vom Tode gerettet wurde. Danach suchte er die Anwesenden zu beruhigen und zu trösten. „Sie haben ihn zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Welche Idioten! Wissen sie denn, ob sie noch zehn Monate an der Macht sind? Wissen sie denn, ob sie in zehn Wochen noch an der Macht sind? Soweit sehen sie nicht!“
So geschah es auch. Zwei Monate danach, am 22. Adar 5677 (1917) wurde Zar Nikolaus gestürzt.
Die Regierung Kerensky, die nun an die Macht kam, befreite, dank der Intervention Grusenbergs, Efrajim sofort.
Provisorisches Kabinett von Kerensky, welches die Zarenregierung ablöste
Rabbi Boruch Ber, der berühmte Rosch Jeschiwa von Kamenitz, war anwesend, als man seinem großen Rebben, Raw Chajim Brisker, die Bemerkung des Chafez Chajim mitteilte. Er berichtete, dass dieser darauf geantwortet habe:
„Der Chafez Chajim hat Nikolaus von seinem Thron gestürzt. Aber es werden andere an seiner Stelle kommen, die noch ärger sind, als er es gewesen ist.“
Reb Chaim Brisker
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