Das Tischgebet – 2. Teil:
Fortsetzung 2. Beracha
Darum ist auch jetzt noch, auch für uns, die auf anderem Boden angebürgerten Zerstreuten Jisroels, die Tatsache des einst von G-tt gewährten Israellandes‚ des längst verlorenen, und nur für die Zukunft wieder verheißenen, von heiliger Bedeutung. Denn sie ist die Tatsache, die uns G-tt als den Versorger unseres leiblichen Daseins offenbart, und in Besitz und Genuß nur G-ttgewährte Mittel zu seinem Dienste lehnt, und darum findet sie auch in diesen Brachot, im Zusammenhang mit den übrigen Jisroels Wesen begründenden Tatsachen, (Auszug aus Mizrajim, Brit, Tora) die ihr gebührende erste Stelle.
Nach der Aufzählung aller geistigen und leiblichen, nationalen und individuellen Wohltaten, die uns G-tt beständig an jedem Tage, zu jeder Tageszeit (bzw. in jeder Jahreszeit) und in jeder Tagesstunde erweist, erfolgt mit “Für all das danken wir”[1] nochmals ein allgemeiner, abschließender Dank, der auf die als Quelle dienende Schriftstelle Dewarim 8,10 “Du wirst essen und dich sättigen und segnen etc.” Bezug nimmt und die Zuversicht ausspricht, dass dereinst G-ttes Name aus dem Munde aller Lebenden in Gemeinschaft mit uns gesegnet werden wird (wie in der Schemone Esre “und alle Lebenden werden Dich lobpreisen”).
Diese doppelte Dankesbezeugung am Anfang und am Schluß der Beracha, wie sie Berachot 49a gefordert wird, weist darauf hin, dass das Dankbewußtsein G-tt gegenüber in uns von Anfang an vorhanden ist, aus der vollen Gewißheit heraus, dass uns von G-tt nur das Beste für unser Wohl beschieden wird. Wir danken nicht nur am Schluß, erst nachdem wir vernommen, was uns G-tt erwiesen hat, vielmehr schon am Anfang, noch ehe wir von göttlichen Wohltaten gesprochen, bekunden wir mit “wir danken Dir”, dass wir im Innern voll des Dankes sind. In diesem Dank wird, ebenso wie im Dankessegensspruch der Schemone Esre (“Modim”), an den Erinnerungstagen von Chanuka und Purim der Dank für die wunderbare Errettung aus Feindeshand eingefügt. Mit der Schlußberacha “für das Land und für die Ernährung”, die den Segenspruch für „das Land, das die Nahrung spendet“ darstellt, wird dem vorerwähnten Toragebot “du wirst essen und dich sättigen und Haschem deinen G-tt für das gute Land segnen, welches Er dir gegeben” entsprochen.
Übersetzung der 3. Beracha
רחם Erbarme dich, Ewiger, unser G-tt, über Jisroel, dein Volk, und über Jeruschalajim, deine Stadt, und über Zion, die Stätte deiner Herrlichkeit, und über das Reich des Hauses Davids, deines Gesalbten, und über das große und heilige Haus, über das dein Name genannt ist. Unser G-tt, unser Vater, weide uns, ernähre uns, verpflege uns und versorge uns, gib uns Freiheit, und befreie uns, Ewiger, unser G-tt, bald von allen unseren Nöten. Und laß’ uns doch, Ewiger, unser G-tt, nicht bedürfen weder der Gabe von Menschenhand noch ihres Darlehens, sondern nur deiner Hand, der vollen, der offenen, der heiligen und freigiebigen, damit wir nicht beschämt und nicht zu Schanden werden immer und ewig.
רצה (am Schabbat) Habe Wohlgefallen und rüste uns, Ewiger, unser G-tt, durch deine Gebote und durch das Gebot des siebenten Tages, dieses großen und heiligen Schabbats. Denn dieser Tag, groß und heilig ist er vor dir, an ihm zu feiern und zu ruhen in Liebe nach dem Gebote deines Wohlgefallens. In deinem Wohlgefallen gewähre uns Ruhe, Ewiger, unser G-tt, dass weder Not, Kummer und Seufzen am Tage unserer Ruhe sei. Und lasse uns schauen, Ewiger, unser G-tt, die Tröstung Zions, deiner Stadt, und den Aufbau Jeruschalajims‚ deiner heiligen Stadt; denn du bist der Herr der Hilfe und der Herr des Trostes.
Und erbaue Jeruschalajim, die heilige Stadt, bald, in unseren Tagen. Gesegnet seist du, Ewiger, der in seiner Barmherzigkeit Jeruschalajim erbaut. Amen.
רחם Wie die erste Beracha die ganze Gegenwart als von G-tt gegründet und gespendet erkannte und die zweite die ganze Vergangenheit auf G-ttes Walten zurückgeführt darstellte, so zeigt die dritte Beracha: „Der Jeruschalajum erbaut“[2] kurz benannt, wie auch die ganze Zukunft, die allerfernste wie die nächste Wiederherstellung und Erhaltung unseres Gesamt-und Einzelgeschickes nur von G-tt, dem Allerbarmer, erwartet wird. Sie trägt daher den Charakter einer Bitte.
Diese Bitte um eine von G-tt gesegnete Zukunft wurde im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung den jeweils herrschenden Verhältnissen immer angepaßt. Man betete zur Zeit Davids um den himmlischen Segen für die Erhaltung Jisroels und Jeruschalajims und zur Zeit Schlomos schloß man „das große und heilige Haus G-ttes“ in die Bitte mit ein, sowie die Fortdauer der Herrschaft des Davidshauses (Tur § 188). Hieraus erklärt sich die Reihenfolge in der Aufzählung am Anfang der Beracha, Jisrael, Jeruschalajim, Zion, Herrschaft des Davidshauses und G-tteshaus. Als später Jisrael zerstreut und verbannt und der Tempel zerstört war, wurden die Bitten um Erhaltung in solche um Wiederherstellung verwandelt, wodurch die Beracha ‚den Charakter der Bitte um Tröstung gewann und kurz als נחמה bezeichnet wurde (Berachot 49a). Zu ihren wesentlichen Bestandteilen gehört die Erwähnung von Königreich von Haus Davids, denn „es gibt keinen wahren Trost ohne Wiederaufrichtung des davidischen Königtums und „was nützt uns sonst die Wiedererbauung Jeruschalajims?“ (Awudraham).
So beten wir insbesondere für das Davidshaus, denn „zur Zeit Rechabeams brach Unheil über Israel herein, weil es drei Dinge mißachtete, die Herrschaft G-ttes, die Herrschaft des Davidshauses und das Heiligtum und es wird erst erlöst werden, wenn es in Innigkeit um die Wiedererlangung dieser drei Dinge bittet“ (Raschi zu Hoschea 3,5). Darum beten wir hier um die Wiederaufrichtung des Heiligtums und der Davidsherrschaft, während wir die Bitte um Herbeiführung der G- ttesherrschaft erst in der nächstfolgenden Beracha erwähnen, weil es nicht geziemend ist, neben der G-ttesherrschaft noch eine andere, irdische Herrschaft zu erflehen.
In allen Fassungen, die ihr im Laufe der Geschichte gegeben wurde, enthielt diese Beracha auch die Bitte um persönliche Hilfe und Beistand des Himmels. Denn stets soll die Bitte um die Forterhaltung und Gewährung unserer Einzelexistenz und Unabhängigkeit von uns nur im Zusammenhang mit dem Anliegen um die Gesamtwohlfahrt unseres Volkes zum Ausdruck kommen. Nichts ist in höherem Grade geeignet, unseren sinnlichen Genuß, die Aufnahme von Speise und Trank zur Erhaltung und Fortspinnung des eigenen Lebens zu vergeistigen und zu verklären, als ihre Verknüpfung mit den höchsten, heiligen, nationalen, die jüdische Gesamtheit umfassenden Anliegen.
Haben wir durch Überschätzung von Besitz und Genuß unsere nationale Selbständigkeit, unser Land und unser Tempelheiligtum eingebüßt, so sühnen wir dieses Unrecht dadurch, dass wir seit Jahrtausenden uns keinen Genuß gestatten, uns von keinem Mahle gesättigt erheben, ohne dieser Ideale wehmütig zu gedenken und um ihre Wiederherstellung zu bitten. Während der Gesättigte sonst leicht geneigt ist, die Not des Einzelnen und gar der Gesamtheit zu vergessen, weckt hier die Befriedigung unseres Körpers die Bitte um das Erbarmen G-ttes über Israel als sein Volk. Indem wir aber gleichzeitig auch um Erbarmen für Jeruschalajim, Zion, das davidische Königtum und die heilige Tempelstätte bitten, sprechen wir damit den Gedanken von der innigen Verbundenheit unseres Geschickes mit diesen nationalen Gütern aus.
Diese persönlichen Bitten nehmen daher die Mitte der Beracha ein und münden wieder in das Nationalgebet für Jeruschalajim: “und erbaue Jeruschalajim, die heilige Stadt”[3]. Sie enthalten u. a. den Wunsch, dass uns G-tt versorgen möge aus seiner „vollen, offenen, heiligen und freigebigen Hand“, worin der Gegensatz zu der aus Menschenhand gewährten Gabe angedeutet ist, die gar oft unzureichend oder nur einem bestimmten Bevorzugten zugedacht ist, oder unlauter erworben oder endlich nur ungern gespendet wird. Die Schlußberacha ist dem Aufbau Jeruschalajims gewidmet und betont, dass G-tt es “ mit seiner Barmherzigkeit“ aufbaut, weil einst der Wiederaufbau Jeruschalajims der besonderen g-ttlichen barmherzigen Liebe bedürfen wird. Nach Beendigung dieser Beracha spreche man (ausnahmsweise) auch auf die eigene Beracha “Omen”, weil hier der Schluß der von der Tora gebotenen Berachot ist und die nächste nicht mehr Torageboten ist.
In dieser „Beracha des Trostes“ soll am Schabbat die Bedeutung des Tages erwähnt werden, was im Abschnitt רצה והחליצנו der eingeschaltet wird, geschieht (Berachot 49a). Jedoch nicht deswegen, wie Awudraham bemerkt, weil man am Schabbat in höherem Maße trostbedürftig sei, sondern weil Schabbat der „Tag der Lust“ ist, soll seine Erwähnung mit dem Gedächtnis von Jeruschalajim verknüpft werden, wie es in Tehillim auch bei jeder anderen Freude gefordert wird, das Andenken Jeruschalajims an ihre Spitze zu erheben (Tehillim 157, 6). Nach anderen Erklärern sei der Schabbat als der Abglanz der künftigen Welt bereits unser Trost und sei deshalb in der Trostberacha hervorzuheben, während endlich nach einer dritten Auffassung diese Hervorhebung hier zu erfolgen hat, weil der Trost um Zion einst am Schabbat sich verwirklichen wird.
Im Wortlaut dieser Einschaltung ist vor allem der Ausdruck והחליצנו bedeutsam. Unter Hinweis auf die Schriftstelle יחליץ ועצמותיך (Jeschaja: 58, 15) setzt der Midrasch (Wajikra Rabba c. 34) die vierfache Bedeutung des Stammes חלץ als ausziehen, rüsten, retten und Ruhe gewähren auseinander und weist daraufhin, dass aus dieser Bedeutung das Gebet רצה והחליצנו entstanden sei. Das bedeutet, erläutert Awudraham, dass Israel durch das Verdienst des treu behüteten Schabbat einst gerettet werden und zur Ruhe gelangen wird und mit Kraft gerüstet in das verheißene Land ziehen wird. Ebenso weist eine andere Midraschstelle im Anschluß an Tehillim 60,7 darauf hin, dass die Ruhe, deren sich die Widersacher G-ttes noch erfreuen dürfen, einst seinen Lieblingen auf Grund des Schabbat-Gebotes gewährt werden wird, weshalb am Schabbat רצה והחליצנו gesprochen werde. So bedeutet uns Schabbat zugleich Rüstung und Ruhe! Er gibt dem Geist die Sammlung und verleiht Körper und Seele die nachwirkende Ruhe, er „rüstet dich mit Kraft“ – und befreit und rettet daher die G-tteslieblinge, wenn sie Feindschaft und Haß zu Boden drücken will, „sodass Ruhe zu Teil wird deinen Lieblingen.“ Diese Gedanken sind es, die im רצה והחליצנו zum Ausdruck gelangen.
An Neumond und Festtagen wird an dieser Stelle der Abschnitt יעלה ויבא eingefügt, weil er „ebenso wie die dritte Beracha בונה ירושלים Bitten und Gebete enthält“ (Tosfot Schabbat 24a), während die früheren Teile Dankesbekundungen enthalten.
ברוך Gesegnet seist du, Ewiger, unser G-tt, König der Welt, G-tt, unser Vater, unser König, unser Fürst, unser Schöpfer, unser Erlöser, unser Bildner, unser Heiliger, der Heilige Jakobs, unser Hirt, der Hirt Israels, der König, der gut ist und allen Gutes erweist, denn an jedem Tag hat er Gutes erwiesen, erweist er Gutes und wird uns Gutes erweisen. Er hat uns wohlgetan, er tut uns wohl, er wird uns wohltun für immer in Gunst, Gnade und Barmherzigkeit, und in reichem Maße Rettung und Glück, Segen und Hilfe, Trost, Verpflegung und Versorgung, Erbarmen, Leben, Frieden und alles Gute, und an allem Guten lasse er es uns nicht fehlen.
ברוך Die vierte Beracha des Tischgebetes wurde erst von Rabbi Gamliel in Jawne eingeführt, nachdem die Römer die Erlaubnis erteilt hatten, die jahrelang frei umhergelegenen Leichen der Abertausenden endlich zu bestatten, die bei dem von Barkochba geleiteten Aufstand unter Hadrian in Beitar von den Römern niedergemetzelt worden waren. Da sprachen die Weisen den Segenspruch, dessen Kerngedanke lautete: הטוב והמטיב, Allgütiger, dass du die Leichen, nicht verwesen ließest, und allen Wohltuender, dass du sie bestattet werden ließest (Berachot 48b). Diesen Dank schlossen sie an das Tisch-gebet an, weil es das Gebet ist, das in froher und dankbarer Stimmung gesprochen wird (Awudraham) oder, nach anderer Auffassung, weil „damals, als Beitar zerstört wurde, das stolze Horn Israels zutiefst gefallen war und es erst wieder sich erheben wird, wenn einst der Davidsproß erscheinen wird, darum knüpfe man diese Beracha an die vorhergehende, ירושלים בונה, in der um sein Erscheinen gebetet wird.“ Durch diese Verbindung soll somit für alle Zeiten dem Volke die Warnung gegenwärtig gehalten werden, nie wieder durch eigene Macht die Wiederherstellung der nationalen Selbständigkeit zu versuchen, wie es Barkochba in unheilvoller Verirrung getan hatte, vielmehr die nationale Zukunft ganz allein der g-ttlichen Waltung anheimzustellen. Daher betont diese Beracha nachdrücklich, dass G-tt, und nur G-tt allein in aller Vergangenheit und Gegenwart alles Gute, dessen wir uns freuten und freuen, gespendet hat und spendet und er allein es ist, von dem wir, was wir Gutes erhoffen, in aller Zukunft zu erwarten haben.