Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Elfter Abschnitt. Teil 2.
Wohlan! wer sich ein bisschen Vernunft in seinem Hirn bewahrt hat, der wird eine verbotene Speise wie ein Gift ansehen oder wie ein Gericht, in das etwas Giftiges hineingekommen ist. Würde er wohl, wenn ihm dergleichen passiert, es damit leicht nehmen und davon essen? Wenn ihm auch nur die geringste, unbedeutendste Befürchtung bliebe, würde er es doch sicher nicht damit leicht nehmen, und nähme er es damit leicht, so hielte man ihn für einen Narren. Nun ist aber doch die verbotene Speise, wie erwähnt, ein richtiges Gift für Herz und Seele, wer wollte es da, wenn ihm seine Seele lieb ist, leicht nehmen, auch wo nur die Möglichkeit des Verbotenen vorliegt?! Darauf findet das Wort der Schrift Anwendung: „Du tust deiner Begierde Einhalt, wenn dir deine Seele lieb ist“ (So deutet der Verfаsser den Vers in Mischle 23,2 – Anmerkung des Übersetzers).
Wir kommen nun zu den Übertretungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Verkehr ergeben, und besprechen nur die häufig vorkommenden.
Wir verletzen durch Worte, kränken durch eine Beleidigung den Anderen bis aufs Blut, geben Einem, der sich vertrauensvoll an uns wendet, wider besseres Wissen einen schlechten Rat, verleumden, hassen, tragen nach, schwören, lügen, entweihen den G-ttlichen Namen. Wer darf auftreten und sagen: Ich bin frei davon, ich habe mich rein gehalten und mich nicht in diesen Dingen versündigt. Mannigfach und dem oberflächlichen Blicke schier unfassbar sind hier die Nuancen. Da bedarf es großer Anstrengung, will man sich vor ihnen in Acht nehmen.
Schädige und verletze den Nächsten nicht durch ein Wort! Das heißt zunächst: Sage deinem Nächsten nicht mal unter vier Augen ein Wort, das ihn beschämt, natürlich erst recht nicht in Gegenwart Anderer, auch tue ihm nichts an, was ihn beschämen könnte. Wie es im Talmud (Bawa Mezia 58b) heisst: „Ist er ein reuiger Sünder, dann sage ihm nicht, denke daran, was du früher getan! Wenn Krankheiten über Jemanden kommen, dann sprich nicht zu ihm, wie die Freunde zu Ijow: „Bedenke, wo wäre je ein Unschuldiger zu Grunde gegangen, wo wäre ein Frommer vernichtet worden?!“ (Ijow: 4,7). Fordern umherziehende Händler von dir Korn, so sage ihnen nicht: „Geht zu dem und dem, der verkauft Korn”, wenn du bei dir weisst, dass jener sein Korn verkauft hat. Die Weisen betonen (Bawa Mezia 58b): „Eine Schädigung und Verletzung durch Worte ist schlimmer als eine solche in Geldsachen“.
Und nun gar wenn man den Anderen in Gegenwart vieler Zeugen verletzt.
Ausdrücklich steht: „Wer seinen Nächsten durch eine Beleidigung vor vielen Zeugen bis aufs Blut kränkt, hat keinen Anteil am künftigen Leben“ (Pirke Awot 3,11). R. Chisda sagt (Bawa Mezia 59a): „Alle Himmelspforten, die dem Gebete sich öffnen, werden auch einmal geschlossen, nur nicht die Tore des Gebets, das dem blutenden Herzen ein kränkendes Wort abgepresst“. Und R. Eleasar sagt: „Alle Strafen lässt der Heilige, gelobt sei er, durch einen Boten vollziehen, die Kränkung, die man einem Anderen angetan, die straft er mit eigener Hand“. Ferner: „G-tt senkt den Schleier der Liebe über Alles: Nur drei Vergehen, die hält er sich stets gegenwärtig, und eins von ihnen ist: die Kränkung“. Und selbst dort, wo die Schrift das strafende Wort geboten hat: „Zurechtweisen sollst du deinen Nächsten!“ (Wajikra 19,17) – da fügen die Weisen hinzu (Erchin: 16b): „Ich könnte meinen, auch so, dass er die Farbe wechselt, darum heisst es weiter: Du sollst seinetwegen nicht eine Sünde auf dich laden!“ Aus all diesen Aussprüchen ist zu ersehen, wie mannigfach die Nuancen bei diesem Verbote sind, und welch’ schwere Strafe darauf steht.
Gib wider besseres Wissen keinen schlechten Rat!
„Einem Blinden sollst du nichts in den Weg legen, worüber er fallen kann“ (Wajikra 19,14), sagt die Schrift. Damit meint sie auch einen, der in einer Sache blind ist. „Wenn er dich fragt, ich bin ein Kohen, darf ich die Tochter von dem da heiraten? dann sage ihm nicht ja, wenn das Gegenteil der Fall ist. Befragt er dich um einen Rat, dann gib ihm nicht einen Rat, der nicht wirklich für ihn der beste ist. Sage ihm nicht: Veräußere doch dein Feld und kauf dir dafür einen Esel, wenn das nur eine List ist, um in den Besitz des Feldes zu kommen. Du entschuldigst dich wohl: der Rat, den ich ihm gebe, ist doch an sich gut! Bedenke aber: es steht daneben: „Fürchten sollst du dich vor deinem G-tte“, und G-tt sieht ins Herz !“ (Sifra zur Stelle). So erkennen wir: Mag man interessiert oder nicht interessiert sein, immer ist man verpflichtet, dem, der um einen Rat bittet, die lautere Wahrheit zu sagen. Die Tora selbst hat schon an solche heimtückischen Diplomaten gedacht. Sie spricht ja nicht von den Toren, die dem Anderen einen Rat geben, von dem sich sofort herausstellt, dass er ins Unglück führt. Sie spricht von solchen, die ihre Schandtaten klug anfangen, die ihrem Nächsten Ratschläge geben, die für den Anderen scheinbar durchaus vorteilhaft sind; nur verläuft die Sache am Ende schlimm für den Anderen und er, der den Rat gegeben, hat davon den Vorteil. Darum sagen die Weisen: Du entschuldigst dich wohl: der Rat, den ich ihm gebe, ist doch an sich gut! Bedenke aber: es steht daneben: fürchten sollst du dich vor deinem G-tte, und G-tt sieht ins Herz! Wieviel wird täglich dagegen gesündigt! Man folgt den Lockungen der Gewinnsucht! Und die Schrift hat doch so schwere Strafe darauf gesetzt: „Verflucht sei, wer den Blinden auf dem Wege irreführt“! (Dewarim 27,18)
Die Pflicht eines redlichen Mannes ist: Wenn einer kommt, um sich mit ihm zu beraten, dann gibt er ihm den Rat, dem er, befände er sich in gleicher Lage, für seine Person folgen würde.
Er zieht nur das in Betracht, was für den Anderen von Vorteil ist, ohne Rücksicht auf irgendein anderes nahe oder fern liegendes Moment. Trifft es sich aber, dass dieser Rat, nach seiner Meinung, ihm selbst zum Schaden gereichen würde, dann soll er das – sofern es geht – dem Anderen freimütig vorstellen, sonst lasse er ganz die Hände davon und verweigere dem Bittenden den Bescheid. Auf keinen Fall lasse er sich in seiner Antwort von anderen Rücksichten leiten, als sie dem Vorteil dessen, der um den Rat ersucht, entsprechen. Freilich, geht dieser offenbar darauf aus, ihm zu schaden, dann ist es nur recht und billig, ihn irrezuführen, nach dem Worte der Schrift: „Mit Krummen musst du krumme Wege gehen“ (Nach Tehillim 18,27). Das Beispiel Chuschais (Schmuel II 15,32ff) lehrt uns genug.
Verleumdung und üble Nachrede:
Wie groß die Sünde ist, das ist bekannt, aber nicht minder, in welch mannigfachen Formen sie vorkommt, wie das ja schon im obenerwähnten Satze (S. 47) zum Ausdruck kam: „Alle sündigen sie durch das Stäubchen der üblen Nachrede.“ Was versteht man unter „dem Stäubchen der üblen Nachrede“ ? Wenn Einer z. B. sagt: Wo kann man immer Feuer finden? Bei dem und dem! (Erchin: 15b[1]) Oder wenn man einen vor Leuten herausstreicht, die ihm feind sind (Erchin: 16a[2])? All das und dergleichen gehört (wenn auch nur als Stäubchen) in Wirklichkeit zur üblen Nachrede, wiewohl es scheinbar ganz unbedeutende Dinge sind und sie mit Verleumdung nichts zu tun haben. Kurz, der Jezerhora hat hier viele Wege zur Verfügung. Als Kriterium mag dir dienen: Woraus nur irgendwie ein Schaden oder eine Ehrenkränkung für den anderen erwachsen kann, ob man es ihm ins Gesicht sagt oder hinter seinem Rücken, das fällt unter den Begriff der üblen Rede, die von G-tt besonders gehasst und verabscheut wird. Wer üble Nachrede treibt, sagen die Weisen, ist wie Einer, der seinen Glauben verleugnet (Erchin: 16b). Und in der Schrift steht: „Wer insgeheim über den Anderen Schlechtes redet, den will ich vertilgen“ (Tehillim: 101,5).
Du sollst nicht hassen und nicht nachtragen!
Du töricht Menschenherz! recht schwer wird’s dir, dich vor dieser Leidenschaft zu retten. Denn der Mensch fühlt nur zu sehr die Schmach, die ihm angetan worden, und bitterlich weh tut ihm der Schmerz. Rache ist süss! süßer denn Honig, denn sie allein gibt ihm die Ruhe wieder. Wenn er aber die Kraft besitzt, das zu lassen, wozu die Natur ihn zwingt, sich selbst zu überwinden, und den Mann, der seinen Hass erregt hat, nicht zu hassen, und ihm nichts nachzutragen, auch wenn die Gelegenheit sich ihm bietet, wenn er alles vergessen will und aus seinem Herzen reißt, als wäre es nie gewesen, dann ist er ein Starker und ein Held. An sich ist das nur den Engeln gegeben, denen diese Leidenschaften überhaupt fremd sind, nicht „denen, die in den Lehmhäusern wohnen, denen, deren Fundament im Staube ruht“ (Ijow: 4,19). Aber G-tt hat es einmal befohlen, und die Worte der Schrift sind deutlich genug, sie bedürfen keines Kommentars: „Du sollst den Hass gegen deinen Bruder nicht im Herzen bewahren” (Wajikra 19,17). „Du sollst dich an den Kindern deines Volkes nicht rächen und ihnen nichts nachtragen“ (Wajikra: 19,18).
Der Unterschied zwischen Rache und Nachtragen ist bekannt.
Rache übt der, der Einem die Erfüllung eines Wunsches verweigert, weil dieser ihm einst etwas abgeschlagen oder ihm Böses zugefügt hat. Wer nachträgt, der erweist wohl dem, der ihm Böses angetan, Gutes, aber er erinnert Jenen in irgendeiner Weise an das, was er ihm angetan (Juma: 23a). Der Jezerhora bringt eben das Herz immer wieder in Wallung und macht immer von Neuem den Versuch, ihm irgend eine Spur oder eine Erinnerung zu bewahren, kann es nicht eine lebhafte Erinnerung, so soll es wenigstens eine schwache sein. Darum spricht er etwa so zu dem Menschen: willst du schon dem Manne das geben, was er dir in deiner Not nicht geben wollte, so gib es ihm zum mindesten nicht mit freundlichem Gesicht. Oder: willst du ihm nichts Böses antun, so erweise ihm doch nicht einen grossen Dienst, greife ihm nicht allzustark unter die Arme.
Willst du ihm in reichem Masse helfen, so tue es wenigstens nicht in seiner Gegenwart! Oder: geselle dich nicht wieder zu ihm, sei nicht wieder sein Freund! Wenn du ihm verziehen hast, so dass du ihm dich nicht mehr feindlich zeigst, so genügt das doch! Willst du dich ihm wieder zugesellen, so zeige ihm doch nicht mehr die gleiche Liebe wie früher und so fort. Das sind so Beispiele von der eifrigen Tätigkeit des Jezerhora, wie er das Menschenherz zu betören sucht. Darum hat die Tora einen allgemeinen Grundsatz aufgestellt, in dem Alles enthalten ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ „Wie dich selbst“, da ist kein Unterschied: „Wie dich selbst“, da gibt’s keine Ausnahmen, keine Deutelei noch Verdrehung, genau so wie dich selbst!
Das Schwören:
Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass jeder, der nicht ein ganz gewöhnlicher Mensch ist, sich wohl hütet, den Namen G-ttes umsonst auszusprechen und nun gar noch mit einem Schwur. Aber auch hier gibt es so gewisse Nuancen, vor denen der, der sich rein halten will, auf der Hut sein muss, wenn sie auch nicht so schlimm sind. So sagt R. Eleasar: (Schwuot 36a) „Schon das Nein ist ein Schwur, und das Ja ist ein Schwur.“ Ferner heisst es im Talmud: „Dein Ja sei Ja, dein Nein sei Nein!” (Bawa Mezia 49a).
Das Lügen:
Auch das ist eine schlimme Krankheit, und sie ist weit verbreitet unter den Menschen. Freilich gibt es verschiedene Grade. Da gibt es Menschen, die das Lügen wie ein richtiges Geschäft betreiben. Sie denken sich direkte Lügen aus und gehen damit hausieren, um sich ordentlich ausschwatzen zu können, oder in den Ruf zu kommen, dass sie überaus gescheit seien und vielerlei wüssten. Auf sie geht das Wort: „Ein Greuel dem Herrn sind die lügnerischen Lippen“ (Mischleij 12,22). Ferner: „Eure Lippen reden Lüge, eure Zunge spricht Trug” (Jeschaja 59,3). Und die Weisen haben ihnen das Urteil gesprochen: „Vier Gruppen von Menschen dürfen nicht das Antlitz von G-ttes Herrlichkeit schauen, und eine davon sind die Lügner“ (Sota: 42a). Dann gibt es wieder Menschen, sie sind nicht gerade Lügner, aber sie sind etwas Ähnliches. Die lügen sich etwas im Erzählen zurecht. Sie treiben das Lügen nicht wie ein Geschäft, sie denken sich nicht etwas aus, was niemals passiert ist, aber wenn sie etwas erzählen, dann mischen sie Lügen hinein, wie es ihnen gerade einfällt, und durch die Gewohnheit wird ihnen das zur zweiten Natur. Das sind die Aufschneider, denen man auch nichts glauben kann. “Der Aufschneider”, meinen darum die Weisen (Sanhedrin 89b), “hat seine Strafe selbst verschuldet. Auch wenn er die Wahrheit spricht, hört man ihm nicht zu“. Er hat das Uebel so tief einwurzeln lassen, dass kein Bericht aus seinem Munde kommt, der frei von Lüge ist. Darob klagt der Prophet: „Sie haben ihre Zunge an die Lüge gewöhnt, sie haben sich Mühe gegeben, falsch zu werden“ (Jermijahu 9,4).
Dann gibt es wieder Menschen, die nicht so schwer krank sind, wie die Genannten, die nur lügen, wenn es sich so trifft.
Sie sind nicht an das Lügen gekettet, aber sie haben auch nicht das Streben, sich davon fern zu halten. Oft tun sie es nur im Scherz u. dgl. ohne böse Absicht. Doch der grosse Weise hat uns kundgetan, dass dies alles im Widerspruch steht mit dem Willen G-ttes und der Tugend seiner Frommen. „Das Wort der Lüge“, sagt er, „hasst der Fromme“ (Mischleij: 13,5). Und die Tora spricht es in einem formellen Verbot aus: „Von dem Wort der Lüge halte dich fern!“ (Schemot 23,7). Es heisst nicht: „Hüte dich vor der Lüge!“, sondern: “Von dem Wort der Lüge halte dich fern!“ Das gibt uns zu bedenken, in wie weiter Ferne wir uns davon halten müssen, wie wir es fliehen sollen. Und bekannt ist der Satz: „Der Überrest Israels begeht kein Unrecht, er redet nicht Lüge, noch wird in seinem Munde eine trügerische Zunge gefunden“ (Zephanja: 3,13). Die Weisen aber sagen: „Das Siegel G-ttes ist die Wahrheit” (Schabbat: 55a).
Und wenn der Heilige, gelobt sei Er, sich die Wahrheit zum Siegel gewählt, wie abscheulich muss Ihm da das Gegenteil erscheinen?!
Eindringlich hat G-tt die Wahrheit eingeschärft: „Redet die Wahrheit Einer mit dem Anderen!“ (Zecharja: 8,16). „Aufgerichtet in Liebe ist ein Thron, und gekleidet in Wahrheit sitzt er dort“ (Jeschaje: 16,5). „Ich dachte, es ist ja mein Volk, Kinder die nicht lügen.“ (Jeschaje: 63,8) Wir sehen, das Eine hängt vom Andern ab. Und der höchste Ruhm für Jerusalem soll es sein, wenn es genannt wird: Jerusalem, die Stadt der Wahrheit! (Jeschaje: 8,3) Und das Tehillimwort: „Er redet die Wahrheit, wie sie in seinem Inneren lebt“ (Tehillim: 15,2) erläutern die Weisen (Makkot 24a und Raschi das s.v. Rav Safra) durch eine Erzählung von R. Safra: Er hatte einen Gegenstand zu verkaufen. Da kam einer zu ihm, während er das Schema las, und sagte zu ihm: Gib mir den Gegenstand für diese und diese Summe. R. Safra antwortete nicht, weil er sein Gebet nicht unterbrechen konnte, da bot ihm jener, im Glauben, dass er mit dem Kaufpreis nicht zufrieden wäre, eine grössere Summe. Als R. Safra mit seinem Gebet zu Ende war, sagte er zu dem Käufer: Du bekommst die Sache für dein erstes Gebot, denn ich hatte die Absicht, sie dir für diese Summe zu überlassen. Soweit, wollen die Weisen sagen, soll die Wahrheitsliebe gehen. – „Der Gelehrte“, sagen sie an anderer Stelle (Bawa Mezia 23b), „darf nur in drei Fällen von der Wahrheit abweichen: „er darf sein Wissen verleugnen aus Bescheidenheit, seine Liebe aus Keuschheit und, um den Gastgeber vor Belästigung zu schützen, eine freundliche Aufnahme, die er erfahren.“ Eine von den Säulen, auf denen die Welt ruht, ist die Wahrheit. (Pirke Awot: I,3) Wer lügt, untergräbt also das Fundament der Welt und umgekehrt, wer es mit der Wahrheit genau nimmt, der trägt zu ihrer Erhaltung bei. Eine schöne Erzählung kommt im Talmud vor (Sanhedrin: 97a; an anderen Orten lautet die Erzählung etwas anders) von einem Orte, dessen Bewohner wahrheitsliebend waren und über die der Tod darum keine Gewalt hatte. Und weil die Frau eines Rabbi einmal eine Lüge sprach, obwohl in bester Absicht, brachte sie den Tod in die Stadt, daher schickte man sie weg und erst dann kehrte der glückliche Zustand wieder. – Nun, dieser Punkt braucht nicht weiter erörtert zu werden. Das ist so einfach wie ein Axiom, dass jede Lüge verboten ist.
Die Entweihung des G-ttlichen Namens:
Auch hier sind die Nuancen mannigfach und von Bedeutung. Denn die Ehre deines Schöpfers muss dir teuer sein, und in Allem, was du tust, müssen deine Gedanken mit Spannung darauf gerichtet sein, dass es nicht – bewahre der Himmel – zur Entweihung des g-ttlichen Namens komme. Bekannt ist der Satz: (Pirke Awot 4, 4) „Das Versehen wird ebenso hart bestraft wie eine absichtliche Entweihung des G-ttlichen Namens.“ Was heisst aber schon eine Entweihung des heiligen Namens? Raw sagt: „Wenn ich z. B. Fleisch kaufe und nicht sofort bezahle.“ Und R. Jochanan: „Wenn ich z.B. ohne Tora und Tefillin gehe“ (Juma: 86a). Der Sinn ist: Ein Jeder muss nach seiner Stellung und nach der Achtung, die er bei seinen Zeitgenossen geniesst, darauf sehen, dass er nicht etwas tut, was einem Manne, wie er es ist, nicht ziemt. Je bedeutender, je gelehrter er ist, desto genauer muss er es mit seinem G-ttlichen Berufe nehmen. Tut er es nicht, dann wird – bewahre der Himmel – der Name G-ttes durch ihn entweiht. Es ist eben eine Ehre für die Tora, wenn die, die ihrem Studium eifrig obliegen, an der Vervollkommnung ihrer Tugenden eifrig arbeiten. Lässt Einer, der eifrig lernt, es daran fehlen, dann ist er die Veranlassung, dass das Studium missachtet wird. Und das ist eine Entweihung des Namens G-ttes, der uns seine heilige Tora eben zu dem Zwecke gegeben und ihr Studium uns anbefohlen hat, dass wir durch sie zur Vollendung gelangen.
Auch um das Halten der Schabbatot und Festtage ist es nichts Geringes.
Denn die Vorschriften sind zahlreich. Und ein bekannter Satz (Schabbat: 12a) lautet: „Ein weites Gebiet sind die Schabbatgesetze.“ Und selbst die Schabbatbestimmungen der Weisen wenn sie nicht aus der Tora stammen, sind von grundsätzlicher Bedeutung. „Eine Schabbatbestimmung der Weisen, sagen sie, wiege nicht leicht in deinen Augen. Nur die Weisen haben es verboten, sich auf ein Opfertier zu stemmen, und doch disputieren darüber die Grössen der Zeit“. (Chagiga: 16b) Die Einzelheiten und die Diskussionen darüber sind in den Werken der Posskim klargestellt. Sie sind alle gleich verbindlich, alle erfordern die gleiche sorgsame Beachtung.
Fortsetzung folgt ijH.
- Man will damit andeuten: das sind Schlemmer, bei denen geht das Feuer auf dem Herd nicht aus. ↑
-
Man gibt dann dazu Anlass, dass sie über ihn herziehen. ↑
übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)