Messilat Jescharim – 4 – Über die Methode, die Achtsamkeit zu erwerben

Datum: | Autor: Rabbi Moshe Chaim Luzatto | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Achtsamkeit

Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.

Fortsetzung

Viertes Kapitel: Über die Methode, die Achtsamkeit zu erwerben

Was den Menschen zur Achtsamkeit führt, das ist das Studium der Tora, und das ist es, was Rabbi Pinchas ben Jair im Anfang der obenerwahnten Baraita sagt: Die Tora führt zur Achtsamkeit. Genauer ausgedrückt: Wer achtsam sein will, der wird sich den Ernst der G-ttespflichten vor Augen halten,die dem Menschen auferlegt sind, und die Bedeutsamkeit des Urteils, das einst über ihn gefällt wird, und das lernt er aus den Erzählungen der heiligen Schrift oder aus den Aussprüchen der Weisen, die darauf aufmerksam machen. Freilich gibt es hier Abstufungen. Die Menschen, die sich zur Vollendung durchgerungen, werden durch andere Beweggründe zur Achtsamkeit geführt, als die, die auf einer tieferen Stufe stehen, und diese wieder anders als der Durchschnittsmensch.

Bei den Höchststehenden ist das treibende Moment das Bewusstsein, dass die Vollkommenheit das einzig erstrebenswerte Gut ist und das schlimmste Übel darin besteht, dass man diese Vollkommenheit nur zum Teil oder gar nicht erreicht. Wem das aber zum Bewusstsein gekommen ist und wer sich klar gemacht hat, dass die Mittel, urn diese Vollkommenheit zu erreichen, allein die guten Werke und edlen Charaktereigenschaften sind, der wird es dann niemals mehr mit diesen Mitteln leicht nehmen, er wird ihre Zahl nicht zu verringern suchen, denn er weiss: werden nicht genügend Mittel angewandt, werden sie nicht mit der rechten Kraft und Stärke ins Treffen geführt, dann wird auch nicht die echte Vollkommenheit erreicht, dann fehlt ihr genauso viel, wie er es an der Mühe hat fehlen lassen, dann ist er eben nicht vollkommen. Und gibt es für ihn ein grösseres Leid, einen tieferen Schmerz? Nein, er wird Mittel auf Mittel haufen, um die Vollkommenheit zu erlangen, er wird es mit alien Einzelheiten ernst nehmen, er wird nicht ruhen und rasten aus Furcht, er könnte etwas unterlassen, was ihn zur ersehnten Vollendung führt, dem Worte Salomos folgend: „Heil dem Manne, der stets besorgt ist“ (Mischle 28,14), nach der Deutung unserer Weisen „besorgt um die Erfüllung des Torawortes“ (Berachot 60a). Dann erreicht er endlich die höchste und rühmlichste Stufe, die G-ttesfurcht, er denkt und sorgt ohne Unterlass, es könnte ein Stäubchen der Sünde an ihm haften, und dies ihn die Vollendung rauben, um die er so eifrig bemüht ist.

Bei denen, die auf einer tieferen Stufe stehen, wird man entsprechend ihrer geistigen und sittlichen Urteilskraft den Ehrgeiz wecken. Es ist ja jedem religiösen Menschen klar, dass die Rangordnung in der wahren, in der künftigen Welt auf Grund der guten Werke aufgestellt wird, dass nur der erhöht wird, der mehr; nur der erniedrigt wird, der weniger aufzuweisen hat, als der Andere. Wird da Einer sich um seine Handlungen nicht kümmern wollen, wird er nachlässig sein, wenn er sicher ist, dass es ihm später leid tun wird, wenn er dann nicht mehr nachholen kann, was er versäumt?! Man hört freilich gedankenlose Menschen, die es sich leicht machen wollen, sagen: Was sollen wir uns quälen mit Frömmigkeiten und Weltflucht, wir sind zufrieden, wenn wir nicht zu den Frevlern gehoren, die im Gehinnom ihre Strafe finden, wir drängen uns gar nicht an den schönsten Platz im Gan-Eden, bekommen wir keinen großen Anteil, so doch einen kleinen, wir sind damit zufrieden und wollen darum keine besondere Last uns auferlegen. Doch eine kleine Frage an diese Leute: Würde es ihnen in dieser doch vergänglichen Welt so leicht ankommen, wenn sie Einen aus ihrem Kreise in höherem Range, mit größeren Ehren bedacht, über sich herrschen sahen oder gar einen von ihren Bedienten oder Armen, die sie missachten, auf die sie herabsehen, würde sie das nicht grämen, würde ihr Blut nicht in Wallung kommen?! Kein Zweifel! Wir sehen es ja, wie alle Mühe des Menschen darauf ausgeht, sich möglichst über Alle zu erheben, und sich seinen Platz unter den Großen zu suchen, class aller Ehrgeiz darauf gerichtet ist, und wenn Einer ruhig im Dunkel bleibt, während sein Genosse immer höher steigt, so tut er’s, weiler’s eben nicht andern kann, es mag ihn innerlich wohl wurmen. Und wenn es ihnen nun so schwer wird, einen niederen Rang einzunehmen, wo es sich nur um eine eingebildete und lächerliche Rangfolge handelt, wo das Unten nur zum Schein und das Oben nur eitel und trügerisch ist; wie werden sie es dort ertragen konnen, in jener Welt der wahren Rangordnung und der ewigen Ehren, sich auf einer tieferen Stufe wiederzufinden, als sie die Männer einnehmen, die jetzt unter ihnen stehen?! Jetzt kennen sie freilich noch nicht jene Welt und die Schätzung, die dort gilt, daher kümmern sie sich nicht um sie, aber einst werden sie sie in ihrem wahren Werte erkennen, und Schmerz und Scham wird sie erfassen. Gross wird dann der Schmerz und ewig sein; nicht wahr? Die Bescheidenheit, die sie zur Schau tragen, um den Ernst der G-ttespflichten leicht zu nehmen, sie ist nur eine schmeichlerische Lüge, mit der sie der böse Trieb betrügt, daran ist kein wahres Wort. Würden sie der Sache auf den Grund gehen, so würde dieser Selbstbetrug keinen Augenblick standhalten, aber weil sie das garnicht versuchen und betrogen sein wollen, bleiben sie in der Selbsttäuschung befangen, bis zu dem Augenblick, wo ihnen die Wahrheit nichts mehr nutzt, wo sie, was sie verdorben haben, nicht mehr gut machen können. So sagt auch der König Salomo ges. Andenkens: „Alles was deine Hand zu tun vermag mit deiner Kraft, das tue; denn weder Tun, noch Berechnung, noch Erkenntnis, noch Weisheit gibt’s in dem Scheol, wohin du gehen wirst.“ (Koheleth 9,10). D.h. solange der Mensch lebt, richtet sich an ihn G-ttes Befehl, hat er die freie Wahl. Was er nicht tut, so lange diese Kraft ihm von seinem Schöpfer überliefert ist, das kann er nicht mehr im Grab und im Scheol tun. Wer nicht zu Lebzeiten viele gute Werke vollbracht hat, der kann sie später nicht vollbringen; und wer sich nicht über seine Handlungen Rechenschaft abgelegt hat, für den ist dann keine Zeit, eine Berechnung anzustellen, und wer in dieser Welt keine Erkenntnis angenommen, der wird sie nicht im Grabe gewinnen. Das sagt die Schrift: „Denn weder Tun, noch Berechnung, noch Erkenntnis gibt’s in dem Scheol, wohin du gehen wirst.“

Der Durchschnittsmensch endlich wird durch die Vorstellung von Lohn und Strafe auf den rechten Weg geführt. Wenn er bedenkt, wie G-ttes Richterspruch sich auf Alles bezieht, dann wird er ständig in Unruhe und Sorge sein. Wer darf da glauben, er wurde bestehen, er würde freigesprochen von seinem Schöpfer, wenn Er das Kleine wie das Grosse mit richtendem Blick mustert? Unsere Weisen haben schon bemerkt: „Er kündet dem Menschen sein Gesprach“ (Amos 4,13), d. h.auch die losen Worte, die zwischen Mann und Frau gefallen,halt man dem Menschen vor am Tage des Gerichts“ (Chagiga 5 b). Und an anderer Stelle schließen sie aus einem Schriftwort: G-tt geht mit seinen Frommen streng ins Gericht und weicht nicht ab, auch nicht um Haaresbreite  (Jebamoth 121 b). Abraham, der von seinem Schöpfer so geliebt wurde, dass Er ihn „mein Freund Abraham“ (Jeschaja 41,8) nennt, er entging seiner Strafe nicht, und nur, weiler es mit seinen Worten nicht genau genommen: weil er gesprochen: „Wie kann ich es wissen, dass ich das Land besitzen werde“, sprach zu ihm Gott: „Bei Deinem Leben! Wissen sollst du, dass Fremdlinge sein werden deine Nachkommen in einem Lande, das nicht ihnen gehört“ (Bereschith Rabba Kapitel 46). Weil er mit Abimelech ein Bündnis geschlossen, ohne den Befehl G-ttes abzuwarten, sprach G-tt zu ihm: Bei deinem Leben, deine Kinder sollen sieben Menschenalter auf Freuden warten. (ibid. 64, 4). Weil Jakob bei den Worten Rachels: „Gib mir Kinder“ seinem Zorn freien Lauf ließ, sprach G-tt zu ihm, so berichtet der Midrasch: ist das eine Art, wie man den Niedergebeugten Antwort gibt? Bei deinem Leben: Deine Söhne sollen einst vor ihrem Sohne sich beugen (ibid, 71,7). Und weil er Dina in einem Verschlag verbarg, damit sie Esau nicht zur Gattin nehme, weil er gegen seinen Bruder, wenn auch sicher in der besten Absicht, sich lieblos gezeigt, sprach G-tt zu ihm, so berichtet der Midrasch: Dem Freunde die Liebe versagen?! Du wolltest sie nicht einem Beschnittenen geben, so wurde sie von einem Unbeschnittenen genommen, du wolltest sie nicht in Ehren verheiraten, so hat sie in Schande geheiratet (ibid. 80,5). Weil Josef zum Obermundschenk sagte: „Möchtest du mich nur im Gedächtnis behalten, wenn es dir wohlgehen wird“, wurden ihm noch zwei Jahre zugelegt (89,3). Und weil Josef seinen Vater ohne G-ttes Erlaubnis einbalsamiert hatte, oder weil er — wie andere meinen — still blieb, wenn er die Worte hörte: „Unser Vater, dein Knecht“, darum starb er vor seinen Brüdern (ibid. 100.3). Weil David die Worte der Tora Gesänge genannt, wurde er bestraft, er beging einen Fehler bei der Einholung der Lade, Ussa starb und seine Freude wurde ihm gestört (Sota 36 a). Weil Michal es David vorhielt, dass er auf der Straße vor der Bundeslade getanzt, blieb sie zur Strafe lange kinderlos und bezahlte ihr einziges Kind mit dem Leben (Sam. 6,20—23). Weil Chiskijahu den Satrapen des Königs von Babylon seine Schatzkammer gezeigt, mussten seine Söhne als Verschnittene im Palaste dieses Königs dienen (II Könige 20, 14—18). Und so konnten wir noch Vieles beibringen. Unsere Weisen erzählen ferner: Wenn Rabbi Jochanan an den folgenden Vers kam, dann brach er immer in Tränen aus: „Ich werde an Euch herantreten, um Gericht zu halten und ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer, die Ehebrecher und die Meineidigen, gegen die, die den Tagelöhner in seinem Lohn, oder Witwen und Waisen übervorteilen, und die ohne Scheu vor mir Fremdlinge bedrücken, ebenso spricht der Herr der Heerscharen: „Kann ein Knecht bestehen?”, so meinte Rabbi, dem man die geringen Vergehen so schwer angerechnet, wie die großen (Chagiga 6 a)? Nun kann es sicherlich nicht der Sinn dieses Ausspruches sein, dass die Strafe für beiderlei Vergehen die gleiche ist, denn G-tt zahlt Maß um Maß. Der Sinn ist vielmehr, dass auch die geringen gewogen werden, ebensogut wie die großen, dass über die großen nicht die geringen vergessen werden, und der Richter vor ihnen nicht die Augen schließt, ebenso wenig wie vor den großen. Vielmehr blickt und achtet er auf alle in gleicher Weise, die Strafe bemisst er freilich später nach der Höhe des Vergehens. Das sagt auch der König Salomo: „Alle Werke bringt G-tt vor seinen Richterstuhl, Gutes wie Böses“ (Kohelet 12, 14), d. h. wie G-tt keine gute Handlung vergisst, und ist sie noch so unbedeutend, so vergisst er auch keine böse Handlung, sie mag noch so geringfügig sein. Das soll ein Protest sein gegen die, die sich selbst betrügen wollen und sich einreden, dass der Heilige, gelobt sei Er, die leichten Vergehen nicht zählt und nicht Rechnung darüber abnimmt. Und unsere Weisen sagen: Wenn dir der böse Trieb sagt: Sündige, G-tt wird dir schon vergeben, so höre nicht auf ihn (Chagiga 16 a). Und wie könnte es auch anders sein? G-tt ist doch ein G-tt der Wahrheit, wie es unser Lehrer Mosche s. A. ausgesprochen: „Ein Fels ist Er, Sein Tun vollkommen, ja alle Seine Wege sind Gerechtigkeit, ein G-tt der Treue, ohne Fehl, und gerade ist er und gerecht (Dwarim 82,4).“

Und wenn G-tt die Gerechtigkeit will, so ware es ebensogut ein Vergehen gegen die Gerechtigkeit, würde Er vor der Schuld das Auge verschließen, als verschlösse Er es vor dem Verdienste. Will Er die Gerechtigkeit, dann muss er jedem vergelten nach seinen Wegen und nach der Frucht seiner Handlungen, aufs Genaueste vergelten zum Guten oder zum Bösen. Er ist eben ein G-tt der Treue, ohne Fehl, gerecht und gerade den Frommen gegenüber, wie den Bösen. Das ist Seine Weise, Er richtet über Alles, jedes Vergehen strafft Er, da gibt es kein Entrinnen.

Freilich erhebt sich da die Frage: Was soll denn dann die Liebe Gottes, wenn Er doch mit jedem Vergehen streng ins Gericht geht? Die Antwort: Sicherlich beruht auf der Liebe Gottes der Bestand der Welt, ohne sie wäre er gar nicht denkbar, und trotzdem kommt das strenge Recht nicht zu kurz. Und das ist so zu verstehen: Nach dem Prinzip des strengen Rechts müsste den Sünder unmittelbar nach der Tat ohne Verzögerung die Strafe treffen, die Strafe müsste ihn ferner mit der ganzen Wucht des g-ttlichen Zornes treffen, wie es dem, der sich gegen G-ttes Befehl auflehnt, gebührt, und drittens müsste die Sünde gar nicht gut zu machen sein. In der Tat, wie kann man eigentlich gut machen, was man begangen hat, wenn das Verbrechen bereits geschehen ist? Es hat Einer gemordet, hat die Ehe gebrochen, wie kann er das wieder gut machen, kann er die Tat aus der Welt schaflfen? Aber die Liebe Gottes, die hebt diese drei erwähnten Momente auf. Dem Sünder wird eine Frist gewährt, er wird nicht sofort von der Erde getilgt, die Strafe trifft ihn nicht bis zur Vernichtung, und in umfassender Liebe wird die Rückkehr den Sundern ermöglicht, die Aufhebung des Willensaktes wird für die Aufhebung der Tat genommen: wenn der, der zur Umkehr bereit ist, sein Vergehen einsieht und bekennt und über seine Schlechtigkeit sich klar wird und völlig bereut und den sehnlichsten Wunsch hat, dass die Sache nie geschehen wäre und sich tief darüber grämt, dass sie geschehen ist und sie in Zukunft lässt und meidet, dann wird diese Aufhebung seines Willensaktes ihm angerechnet, es ist so, als wäre es nie geschehen, es ist ihm vergeben. Das meint die Schrift mit den Worten: „Deine Schuld ist geschwunden und deine Sünde vergeben“ (Jeschaja 6,7), die Schuld ist völlig aus der Welt geschwunden, vollig aufgehoben infolge des Grames und der Reue um das Vergangene.

Dieser Ausfluss der Liebe entspringt sicher nicht dem Prinzip des strengen Rechts, aber es bleibt immer eben nur Liebe, es hebt nicht das Recht vollig auf. Man kann die Sache ja auch so auffassen: Fur den Willensakt, der zur Zeit der Sünde vorhanden war und für den Genuss, den sie ihm bereitet, tritt jetzt die Reue ein und der Schmerz. Die Frist bedeutet keine Nachsicht gegenüber der Sünde, sondern nur eine kleine Duldung, um dem Sünder die Gelegenheit zugeben, wieder gut zu machen. So ist es auch mit anderen Akten der g-ttlichen Liebe, dass um des Sohnes willen der Vater geschont wird (Sanhedrin 104 a), u. a. was die Weisen erwähnen, sie sind ein Ausfluss der Liebe, aber sie sind kein Gegenbeweis, sie widersprechen nicht wirklich dem Prinzip des strengen Rechts, sie haben an und fur sich ihre gute Bedeutung, doch dass Vergehen ohne Weiteres übersehen würden oder unbeachtet blieben, das wäre gegen jedes Recht. Dann gäbe es ja keine Gerechtigkeit, kein wahres Gericht. Darum kann das nicht möglich sein. Und wenn dem Sünder einer der obenerwähnten Wege zu seiner Rettung nicht offen steht, dann tritt unweigerlich das strenge Recht in Kraft. Wie unsere Weisen sagen: er ist langmütig, aber er treibt seine Schuld ein (Jeruschlami Taanith 2,1). Darum bleibt dem, der die Augen offen hält, keine Ausrede, er brauche nicht so achtsam auf seine Handlungen zu sein, er brauche es mit ihnen nicht so genau zu nehmen.— Und wer diese Gesichtspunkte im Auge behält, der wird sich die Achtsamkeit aneignen, wenn es ihm ernst ist um sein Seelenheil.

Fortseztung folgt ijH

übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)

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