Vor über hundert Jahren gab es in Slutzk einen Jungen, der als der Stadt Unruhestifter bekannt war. Alle kannten Jossele.
Er war klug, ein richtiges Genie, jedoch geriet er immer in Schwierigkeiten. Er konnte sich einfach nicht aufs Lernen konzentrieren. Er ging fast nie in den Cheder, wie die anderen Jungen seines Alters. Stattdessen spielte er mit Katzen, lief Hunden nach und schoss mit seiner Steinschleuder auf Tauben. Ab und zu ging er zum Fluss hinab, wo er mit den ortsansässigen Bauernjungen spielte.
“Jossele! Jossele!” rief seine Mutter laut jeden Morgen, um ihn zu wecken. ”Guten Morgen, Jossele. Es ist Zeit, aufzustehen.”
“Komm’ Jossele, steh’ zeitig auf, nur dieses eine Mal, und gehe in den Cheder”, bat sie ihn.
“Ach, ich bin so müde ”, antwortete er, drehte sich um und verbarg seinen Kopf unter dem Kissen. ”Lass mich ein wenig länger schlafen.”
“Jossele, bitte”, flehte ihn seine Mutter an, ”sei ein braves Kind und gehe in den Cheder. Rebbe Jisroel wird sich so freuen, dich zu sehen!”
Aber Jossele hörte nicht auf seine Mutter.
Ich weiss, was er tun wird,” seufzte seine Mutter, wenn sie sein Zimmer verließ. ”Er wird sich auf der Straße drehen und mit den Tieren spielen, und seine Zeit vergeuden. Oj, Jossele, wann wirst du erwachsen werden und beginnen, ein anständiges Leben zu führen?”
Sie machte sich an ihre Hausarbeit und dachte immerzu, wann wird sich Jossele ändern?
Aber Jossele änderte sich nicht. Er tat genau das, was seine Mutter befürchtet hatte. Er stand spät auf und ging hinaus um zu sehen, was sich in der Nachbarschaft tat.
“He, Josef, Josef! ” rief da einer der Bauernjungen. “Kommst du mit uns spielen?”
Sicher”.
“Gehst du heute nicht in die Schule?”
“Nein, heute bin ich gekommen, um mit euch zu spielen.”
“Gut, ich bin froh, dass du gekommen bist”. Die anderen nickten. “Komm Josef, wir gehen zum Fluss hinunter.”
“Aber es ist kalt,” protestierte Jossele. ”Natürlich ist es kalt”, – lachten sie. ”Aber es ist toll.” Jossele lief mit der Gruppe Jungen zum Fluss. Er schaute zu, wie sie alle einer nach dem andern hineinsprangen, und dann folgte er ihnen. “Brrrr. Es ist eiskalt!” stotterte er, als sein Kopf schließlich wieder über Wasser war.
“Es ist lustig”, lachten sie. ”Kaltes Wasser ist gesund.”
“Josef”, rief einer der Burschen, ”hilfst du uns heute wieder, eine Sandburg zu bauen?”
“Sicher, wenn ihr das möchtet”, erwiderte Jossele.
“Dann gehen wir los und machen eine wie gestern?”
“Ja, prima Idee.”
“Der Fluss ist ein guter Ort, um sich zu vergnügen. Warum kommst du nicht jeden Tag mit uns schwimmen? Komm, wir bauen eine riesige Sandburg.”
Und so verbrachte Jossele seine Tage. Er schwamm im Fluss und baute Burgen aus Sand.
Bis er an einem Freitagmorgen, als er zwölf Jahre alt war, durch die Straßen ging und an einem Haus vorbeikam. Plötzlich vernahm er eine wütende Stimme, die schrie: ”Tewtrewsytf!”
Er verstand die Worte zwar nicht, doch Jossele, dessen Neugierde geweckt war, und der sowieso nichts Besseres zu tun hatte, wollte wissen, was dieser Mann sagte. Er stieg auf einen Baum und schaute durchs Fenster. Im Zimmer sah er einen Vater, der seinem Sohn eine Ohrfeige gab und schrie: ”Ich lasse das nicht zu! Du wirst nicht als ”Pere Adam”, als wilder Mensch, wie Jossele aufwachsen. Nein, ich werde das auf keinen Fall zulassen.”
Jossele war schockiert. So war es also? “Die ganze Stadt Slutzk glaubt, ich sei ein Pere Adam? Alle Eltern wollen, dass ihre Kinder nicht so wie ich werden?” Er fühlte sich ganz fürchterlich. “Ich werde das nicht zulassen. Ich werde es ihnen zeigen. Ich werde mich ändern.”
Jossele wühlte in seiner Tasche und fand ein paar Münzen. Er nahm das Geld und kaufte ein paar Bretzel. Dann lief er ein letztes Mal durch die Straßen und rief alle streunenden Katzen: ”Hier, Kätzchen, ihr spielt gern mit Jossele, und er spielt auch gern mit euch”.
Er fütterte die Katzen und sagte. “So das war’s, Kätzchen. Das ist mein Abschiedsgeschenk. Wir werden einander nicht mehr sehen!”
Dann ging Jossele direkt nach Hause. Als erstes leerte er seine Taschen. Und was hatte Jossele in seinen Taschen? Allen möglichen Kram, den er auf seinen “Wanderungen” aufgelesen und gesammelt hatte; das warf er alles weg.
Dann ging er zu seinem Vater und sagte: ”Vater, ich möchte in die Jeschiwa gehen und lernen.”
Aber Josseles Vater kannte seinen Sohn zu gut, um dies ernst zu nehmen. ’Wer weiss, welchen Unfug Jossele dieses Mal plant?’ dachte er.
“Lass mich in Ruhe mit deinen verrückten Ideen”, erwiderte er. “Geh, spiel mit deinen Freunden, den Katzen und Hunden und Tauben, und lass mich in Ruhe.”
Aber Jossele war hartnäckig und ließ seinen Vater nicht in Ruhe. “Ich will in der Jeschiwa lernen. Und wenn du mich nicht lässt, gehe ich alleine.”
Sein Vater wusste, dass Jossele immer das machte, was er sagte. Er blickte Jossele in die Augen: ’Ich glaube, er meint es dieses Mal wirklich ernst’, dachte er erstaunt.
Nach einigen Minuten, in denen tiefes Schweigen herrschte, fragte Josseles Vater: ”In welche Jeschiwa möchtest du gehen?”
“Nach Woloschin!” antwortete Jossele. Der Vater musste nun doch lachen. ”Woloschin? Weisst du denn nicht, dass ein Bachur, der in Woloschin akzeptiert werden möchte, mindestens zwei Messechtot Gemara können muss? Du kannst ja nicht einmal ein einziges Daf. Du hast nie etwas gelernt.”
Josef begann, mit dem Vater zu diskutieren. ”Ich kann etwas Gemara, und jetzt will ich lernen gehen. Ich will in die Jeschiwa gehen!”
Als der Vater sah, dass Jossele seine Meinung nicht änderte, sagte er zu ihm: ”Gut, nach Schabbat kannst du gehen.” Dann lief er zur Mutter, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. ”Kannst du es glauben? Unser Jossele will in die Jeschiwa lernen gehen! Ich kann es kaum glauben. Ich hoffe, dass es wirklich wahr ist!”
Josseles Mutter war mit den Schabbatvorbereitungen beschäftigt. Als sie später die Schabbatlichter anzündete, dawente sie zu Haschem: ”Ribono schel Olam, möge er seinen ‘Cheschek’ für Tora behalten, er soll immer lernen wollen. Ribono schel Olam, ich habe mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet, hilf ihm.”
Als Schabbat vorbei war und der Vater Hawdala gemacht hatte, half er seinem Sohn beim Packen. Danach gingen sie zu Bett. Doch wenn ihr glaubt, dass Jossele einfach einschlafen konnte, dann habt ihr euch geirrt. So viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. “Soll Ich wirklich in die Jeschiwa gehen? Vielleicht werde ich nicht aufgenommen. Wer wird wohl meine Chawruta sein? Vielleicht sollte ich doch nicht gehen. Wie werde ich erfolgreich werden, wenn ich doch nie etwas gelernt habe?”
Aber dann erinnerte er sich an das, was er durchs Fenster jenes Hauses gehört hatte: ”Du wirst nicht wie ein ‘Pere Adam’ aufwachsen wie Jossele. ” Und er beschloss: “Egal was sein würde, er würde in die Jeschiwa fahren”. Am nächsten Tag stand Jossele sehr früh auf, nahm den Koffer in die Hand, den ihm seine Eltern gepackt hatten und begab sich auf seine Reise. Einen Teil des Wegs ging er zu Fuss, und einen Teil fuhr er auf einem Wagen eines Bauern.
Es dauerte drei Tage, bis er in Woloschin ankam.
In der Stadt fragte er Bachurim: “Wo ist das Haus des Rosch Jeschiwa?”
Die Bachurim waren überrascht, dass ein so junger Knabe den Rosch Jeschiwa suchte, doch zeigten sie ihm das Zimmer. Jossele ging gleich auf die Türe zu und klopfte an. Dann öffnete er die Türe und trat ein.
“Schalom Alechem”, sagte Jossele bescheiden. Reb Chajim erwiderte seine Begrüßung mit “Alechem Schalom”. “Was kann ich für dich tun, mein Kind?”
“Ich möchte in der Jeschiwa lernen,” erwiderte Jossele.
Reb Chajim hatte viele junge Männer gesehen, die in die Jeschiwa kommen wollten, um im Lernen zu ”steigen”, und so fragte er: ”Was kannst du schon?”
Ich, ehm. . . .eh. .. eigentlich kann ich nichts – aber ich weiss, das ich können will. Ich will lernen.”
Reb Chajim blickte ernst in Josseles Augen und sah, dass der Junge eine grosse Zukunft vor sich hatte.
Reb Chajim lächelte, kniff Jossele’s Wange und meinte: ”Wenn du lernen möchtest, dann kannst du es. Komm, du bist in der Jeschiwa akzeptiert.” Ohne weiter zu überlegen, ging Jossele direkt ins Bet Hamidrasch.
Reb Chajim bestimmte einen älteren Bachur, der mit Jossele Mischnajot lernen sollte, und wies einen anderen an, mit ihm Gemara zu lernen. Nach kurzer Zeit war Jossele tief im Lernen vertieft. Mit grossem Fleiss lernte er. In nur drei Monaten konnte er schon im normalen Schiur mit allen andern Jeschiwa Bachurim lernen. Seine Barmizwa feierte er in der Jeschiwa. Alle wussten, dass Jossele ein ‘Matmid’ war, ein guter Schüler. Bis spät in die Nacht saß Jossele bei Kerzenlicht über seine Gemara gebeugt und lernte. Bald gehörte er zur Gruppe, welche ”die Achtzehner” genannt wurden, Bachurim, welche achtzehn Stunden am Tag lernten.
So vergingen mehrere Jahre. Dann kam ein Brief von seiner Mutter. Josseles Vater war ein Schneider, dessen Geschäft bei einem Brand in der Stadt Slutzk abgebrannt worden war. ”Jossele”, schrieb seine Mutter, ”du bist jetzt erwachsen. Du hast viele Jahre mit Lernen verbracht, doch jetzt ist es Zeit, nach Hause zurückzukehren. Komm bitte nach Hause und hilf Deinem Vater. Er braucht dich. Die Familie braucht Dich.”
Josef war sehr erschüttert. Der Gedanke, dass seine Familie solche Not litt, wollte ihm das Herz zerreißen. Was sollte er tun? Jetzt sollte er seine geliebte Gemara schließen und nach Hause gehen?
Er fühlte sich hin und her gerissen. Josef wollte eine solche Entscheidung nicht alleine treffen. Er ging zum Rosch Jeschiwa und zeigte ihm den Brief.
Reb Chajim las den Brief und seufzte. Dann nahm er etwas Geld heraus, das er Jossele mit der Anweisung gab: ”Schicke diese Münzen deiner Mutter. Wir werden versuchen, ihr regelmäßig Geld zu schicken. Aber du bleib hier in der Jeschiwa und lerne weiter.”
Josseles Mutter freute sich, als sie das Geld erhielt, doch war sie viel glücklicher, dass ihr Sohn in der Jeschiwa bleiben und weiterlernen konnte.
Die Zeit verging, und eines Tages erhielt Jossele einen zweiten Brief von seiner Mutter.
“Jossele, die Situation ist schlimmer geworden. Der Vater ist sehr krank. Vielleicht kommst du jetzt nach Hause?”
Sollte er nach Hause fahren, oder in der Jeschiwa verbleiben? Wieder ging er zum Rosch Jeschiwa und zeigte ihm den Brief seiner Mutter. Reb Chajim las den Brief, und seufzte tief.
“Ich kann nicht viel sagen. Aber hör auf mich, und du wirst es nie bereuen. Bleib hier und lerne. Es wird ein Verdienst sein für deinen Vater.”
Und wieder hörte Josef auf Reb Chajim und blieb in der Jeschiwa. Aber es dauerte nicht lange, bis Jossele einen dritten Brief erhielt.
Dieses Mal waren es traurige Nachrichten. Josseles Vater war gestorben.
Bekümmert und sehr traurig überlegte er, ob er wohl richtig gehandelt hatte? War es richtig, dass er hier geblieben war?
Voll Kummer ging er langsam zu seinem Rosch Jeschiwa und zeigte ihm den Brief. Reb Chajim las den Brief und weinte zusammen mit Jossele. Nach einigen Minuten sagte er: ”Bleibe hier und sitze ‘Schiwa’. Schick deiner Mutter einen Brief, um sie zu trösten. Und nach der Schiwa-Woche geh zurück ins Bet Midrasch.
Und das tat Jossele. Er sass Schiwa in seinem Zimmer und schrieb seiner Mutter tröstende Worte. Am Ende der Woche kehrte er ins Bet Hamidrasch zurück und lernte weiter.
Jahre vergingen. Eines Tages wurde in der Jeschiwa bekannt, dass der grosse Raw der Stadt Slutzk, ein alter Mann von etwa neunzig Jahren, niftar geworden war. Die Stadt suchte einen neuen Raw. Eine Delegation war gekommen, um sich mit Reb Chajim zu beraten. Sie baten ihn, ihnen jemanden zu nennen, der das Amt des Raws ihrer Stadt übernehmen konnte. Er müsse jedoch mit den Verhältnissen vertraut sein und ein grosser Talmid Chacham sein, um die Stelle des grossen Raw einzunehmen.
Reb Chajim ließ Jossele rufen. Als er ins Zimmer kam, erhob sich Reb Chajim vor ihm und forderte ihn auf, sich neben ihn zu setzen. Die Männer waren erstaunt. Wer war dieser junge Bachur, den Reb Chajim so ehrte?
Dann wandte sich Reb Chajim an die Versammelten, und sagte: “Erinnert Ihr euch, dass es einmal einen Unruhestifter namens Jossele in eurer Stadt gegeben hat?”
Natürlich erinnern wir uns. Wer kann das vergessen? Er fütterte die Hühner in meinem Hof.”
Mosche, erinnerst du dich, wieviele Fensterscheiben er in meinem Haus einschlug, dieser Junge? Wenn ich es mir recht überlege, muss ich aber sagen, dass ich ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen habe. Eines Tages war er einfach verschwunden.”
Reb Chajim zeigte auf Josef und sagte: ”Hier ist er, der beste Bachur in der Jeschiwa, unser bester Schüler, ein Musterbeispiel für unsere Jeschiwa, der Iluj der Jeschiwa Woloschin.”
Die Männer staunten nur noch.
Seid ihr bereit, ihn als Raw eurer Stadt anzunehmen?” fragte Reb Chajim.
“Wie glücklich wir sind, dass wir die Ehre haben, einen so hervorragenden Raw in unsere Stadt zu bringen! Natürlich sind wir damit einverstanden. Wenn der Rosch Jeschiwa ihn als Kandidaten vorschlägt, wie können wir anders denken!”
Die Nachricht verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt, dass der neue Raw der Stadt der einstige Jossele von Slutzk sei.
Die ganze Stadt Slutzk sprach von nichts anderem. ”Hast Du gehört? Wir bekommen einen neuen Raw! Erinnerst du dich an Jossele? Reb Chajim sagt, er wird unser Raw werden!”
Josef verabschiedete sich von seinen Freunden in der Jeschiwa. Reb Chajim begleitete ihn ein wenig, und bevor er ihn gehen ließ, wandte er sich an ihn und sagte: ”Jossele, erinnerst du dich an den ersten Brief, den du mir gezeigt hast, als das Geschäft deines Vaters niederbrannte? Du sollst wissen, Jossele, dass es eine ”Maase Satan” war. Der Jezer Hara war nicht sehr glücklich. Ein böser Junge hatte aufgehört, böse zu sein und beschlossen, seinen Lebensweg zu ändern, und gut zu werden und sich dem Toralernen zu widmen.”
Jossele, man wollte dich prüfen. Man gab dir ein ‘Nisajon’, um zu sehen, ob du dein Lernen aufgeben wirst. Aber du, Jossele, bliebst in der Jeschiwa und hast weiter gelernt.”
Dann kam der zweite, noch größere Nisajon. Dieses Mal war dein Vater krank geworden. Aber auch diese Prüfung hast du bestanden. Du bist in der Jeschiwa geblieben, und hast dein Lernen nicht unterbrochen.”
Aber der ‘Satan’ hat nicht aufgegeben. Er kam als ‘Malach Hamawet’ und nahm deinen Vater von dieser Welt. Dies war die allerschwerste Prüfung. Aber Jossele, du hast auch diesen schwersten Nisajon bestanden. Und jetzt, Jossele, gehe zurück in deine Stadt Slutzk und verbreite dort das Licht der Tora. Und dein Vater wird im Himmel grossen Nachat von dir haben.”