Der große Rabbi Mosche Chaim Luzzatto lebte vor ca. 300 Jahren und ist vor allem über seine Schriften über die jüdische Weltanschauung und Ethik bekannt. Sein Werk Messilat Jescharim («Der Weg der Geraden»), welches den Weg des geistigen Wachstums von einem jüdischen Menschen vorzeigt, wurde von Gaon von Wilna hochgeschätzt und wird auch heutzutage überall auf der Welt studiert.
Fortsetzung
Fünftes Kapitel. Welche Momente der Achtsamkeit hinderlich sind und wie man sich vor diesen Momenten schütze
Drei Momente gibt es, die der Achtsamkeit hinderlich sind und ihr im Wege stehen. Das eine ist die Vielgeschäftigkeit, das zweite leichter Sinn und Spottlust, das dritte schlechte Gesellschaft. Nehmen wir sie einzeln vor.
Von der Vielgeschäftigkeit haben wir schon oben gesprochen. Wenn der Mensch mit seinen irdischen Dingen beschäftigt ist, dann sind auch seine Gedanken an die Bande dieser Last geknüpft und werden sich nicht auf die guten Werke richten. In Hinblick hierauf sagen unsere Weisen: Gib dich nicht so viel mit deinen Geschäften ab, beschäftige dich mit der Tora (Pirke Awot 4,12). Freilich, ohne Berufsgeschäfte kann der Mensch nicht leben, aber müssen sie einen solchen Umfang annehmen, dass für seine Pflichten G-tt gegenüber kein Raum mehr übrig bleibt? Darum sollen wir uns bestimmte Stunden für das Torastudium vorbehalten.
Wir haben es bereits gesagt, das ist das Wichtigste, will anders Einer die Achtsamkeit erwerben, wie es im Ausspruch des R. Pinchas steht: die Tora führt zur Achtsamkeit, und ohne sie kann er sie niemals erlangen: „Der Unwissende kann nicht fromm sein“ (Pirke Awot 2,6). G-tt, der den Jezer hora (bösen Trieb) geschaffen, hat auch, wie unsere Weisen sagen, als Heilmittel gegen ihn die Tora geschaffen (Kidduschin 30b), und wenn nun G-tt für diese Krankheit nur dies Heilmittel geschaffen, so kann auch der Mensch von dieser Krankheit nur durch dies Heilmittel genesen.
Wer aber glaubt, auf anderem Wege seine Rettung zu finden, irrt und wird auch am Ende seinen Irrtum einsehen, wenn er in seiner Sündhaftigkeit dahin stirbt.
Denn der Jezer hora ist eben eine furchtbar starke Macht im Menschen und ohne dass der Mensch es merkt, wird er immer stärker und gewinnt die Herrschaft über ihn. Mag Einer nun alle möglichen Wege versuchen, wenn er nicht zu dem Heilmittel greift, das gerade gegen jene Macht erschaffen ist, wenn er nicht zur Tora greift, dann wird er erst dann den hohen Grad seiner Krankheit spüren, wenn er in seiner Sünde stirbt, und seine Seele verloren ist.
Ein Kranker z. B. befragt die Ärzte, sie stellen die richtige Diagnose und verschreiben ihm eine bestimmte Arznei, und er, ohne jede Kenntnis von der Heilkunde, legt die Arznei beiseite und nimmt irgendeine Arznei, die ihm gerade einfällt, nicht wahr, der Kranke müsste sterben?! So ist’s auch in unserem Falle. G-tt allein kennt diesen Krankheitserreger und seine Natur, den Jezer hora, denn er hat ihn geschaffen, und er hat uns mahnend darauf hingewiesen, dass die Arznei gegen ihn die Tora ist, wer dürfte diese Arznei beiseite legen und eine andere nehmen und hoffen, er werde gesunden?!
Wahrlich, ohne dass er es merkt, gewinnt die trübe Materie in ihm von Stufe zu Stufe immer mehr Herrschaft über ihn, bis er so tief gesunken, so weit von der Wahrheit entfernt ist, dass er gar nicht mehr daran denkt, die Wahrheit zu suchen.
Doch wenn er sich mit der Tora beschäftigt, wenn er ihre Wege sieht, ihre Gebote und Mahnungen liest, dann wird schliesslich in ihm wieder jenes Streben rege, das ihn auf den rechten Weg führt. Das meinen die Weisen mit den Worten: Ach hätten sie doch mich ver-lassen und nur auf meine Tora geachtet! Das Licht, das sie ausstrahlt, hätte sie zum Guten zurückgeführt (Talmud Jer. Chag. 1, 7). Und wie für die Tora, so soll man sich auch Stunden zu dem Zwecke vorbehalten, sich über seine Handlungen Rechnung abzulegen und an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten, wie das bereits oben besprochen ist. Von den bestimmten Stunden abgesehen, alle Zeit, die er von seinen Geschäften erübrigen kann, wird der Weise nicht vertrödeln, er wird sie sofort in Beschlag legen, um sich mit seiner Seele zu beschäftigen und der Vervollkommnung in seinem wahren Berufe.
Dies erste behandelte Hindernis, die Vielgeschäftigkeit
kommt am Häufigsten in Betracht, aber es ist auch am leichtesten zu umgehen.
Das zweite aber, Leichtsinn und Spottlust, das ist schwer zu vermeiden für den, der sich das angewöhnt hat.
Wer ihnen verfallen ist, dem geht es wie dem, der ins Meer geraten, furchtbar schwer ist da die Rettung. Denn der Leichtsinn richtet den Verstand zu Grunde, dass er gar keiner vernünftigen Erwägung fähig ist, der Betreffende ist wie ein Betrunkener, wie ein Narr, dem man keine Überlegung beibringen, den man nicht führen kann, denn er nimmt keine Führung an. Das meint der König Schlomo s. A.: „Vom Leichtsinn sprach ich: er ist Torheit, von der Ausgelassenheit was kann die schaffen?“ (Kohelet 2,2). Und unsere Weisen sagen: „Der Leichtsinn und ausgelassenes Wesen bringen den Menschen bis zum geschlechtlichen Vergehen (Pirke Awot 3,18).
Jedem, der sich nur zu einem Glauben bekennt, erscheint doch ein geschlechtliches Vergehen als etwas Furchtbares, schon der Gedanke an die Schwere des Verbrechens, an die Größe der Strafe, der in jedem lebendig ist, hält Einen davon ab, und dennoch: Leichtsinn und ausgelassenes Wesen bringen Einen so ganz allmählich und unbemerkt immer mehr dazu, dass Schritt für Schritt die Furcht von ihm weicht und er dazu gelangt, das Verbrechen selbst zu begehen. Es ist damit umgekehrt, wie mit der Achtsamkeit. Diese besteht darin, dass man auf eine bestimmte Sache seine Aufmerksamkeit konzentriert, der Leichtsinn geht gerade darauf aus, alles vernünftige Denken und Überlegen von sich abzuschütteln, so dass keine G-ttesfürchtige Regung mehr im Herzen auftauchen kann.
Ja etwas ganz Schlimmes und Verderbliches ist es um die Spottlust.
Wie ein Schild, den man mit Oel bestrichen, alle Pfeile abgleiten und zur Erde fallen lässt, dass sie nicht in den Leib des Menschen dringen, so die Spottlust und der Widerspruchsgeist gegenüber der Ermahnung. Mit einem spöttischen Wort, mit einem Scherz wirft er die ganze Fülle von frommen Regungen und Gefühlen über Bord, die ihm ganz von selbst im Herzen aufsteigen, wenn er allerlei sieht und hört, was zur Selbstprüfung anregt, und in Folge seiner Spottlust fällt dies nun alles zu Boden und bleibt ohne jede Wirkung. Nicht weil die Regungen zu schwach wären, nicht weil es ihm an Verstand fehlt, sondern nur diese Spottlust ist’s, die jede Ermahnung zur G-ttesfurcht wirkungslos macht. Der Prophet Jesajah erhebt darum den Mahnruf : „Darum treibt nicht Gespött, damit Eure Fesseln nicht noch drückender werden” (Jes. 28, 22). Er erkannte, dass ihr Spott es war, der seinen Strafreden jede Wirkung nahm und den Sündern jede Hoffnung raubte. Und unsere Weisen sagen: (Awoda Sara 18b) Der Spötter bringt selbst Leiden über sich, nach dem Worte der Schrift: „Für die Spötter stehen Strafgerichte bereits” (Mischle 19,29). Und das ist nur natürlich.
Denn, wer aus eigenem Nachdenken und aus dem Studium die rechten Regungen schöpft, bei dem bedarf es keiner körperlichen Heimsuchung, er findet den Rückweg von seinen Sünden auch ohnedies. Wenn er so liest und hört, ethisch-religiöse Erörterungen und Ermahnungen, dann kommen ihm ganz von selbst Gedanken der Reue und Busse. Für die Spötter aber, die mit ihrem Spott sich gegen die Wirkung der Strafreden wappnen, für die gibt es kein anderes Mittel als die Strafgerichte, die werden sie mit ihrem Gespött nicht so abschütteln können, wie die Ermahnungen. Und weil die Spottlust so schlimme Folgen hat, hat der bewährte Richter eine so schwere Strafe darauf gesetzt. „Hart wird die Spottlust bestraft, zuerst kommen Leiden, dann die Vernichtung.“ (Awoda Sara 18b).
Das dritte Hindernis endlich ist die Gesellschaft von dummen und schlechten Menschen:
„Wer es mit Toren hält,dem geht es übel“ (Mischle 18,20). Wir erleben es oft genug: Selbst Leute, die ein klares Bewusstsein von den Pflichten gegen G-tt haben und von der Bedeutung der Achtsamkeit, werden laut und lassen sich Übertretungen zuschulden kommen, nur damit die Anderen sich nicht über sie lustig machen, oder um ihre Gesellschaft nicht entbehren zu müssen. Und Schlomo warnt: „Mit absonderlich gearteten Menschen lasse dich nicht ein“ (Mischle 24,21). Und wenn dir einer sagt, man soll doch umgänglich mit Menschen sein, dann antworte ihm, jawohl, mit Menschen,die sich menschlich geben, aber nicht mit Menschen, die sich wie Tiere benehmen. Und eine andere Mahnung von Schlomo lautet: „Geh dem Toren aus dem Wege“ (Mischle 14,7). Und der König David sagt: „Heil dem Manne, der nicht im Rate der Frevler wandelt, noch auf dem Wege der Sünder steht, noch auf dem Sitze der Spötter sitzt“ (Tehillim 1,1). Und zu diesen Worten bemerken die Weisen: Wenn er mit ihnen geht, dann bleibt er auch stehen, und am Ende setzt er sich zu ihnen (Awoda Sara 18b). Und David rühmt sich: „Ich saß nicht bei falschen Menschen, ich hasse die Versammlung der Bösen”).
Darum sorge ein Jeder, dass er sich rein erhalte und sich läutere; er bleibe den Wegen fern, die die stumpfe Masse einschlägt, wenn sie den vergänglichen Nichtigkeiten sich ergibt, und lenke seinen Schritt zu den Höfen G-ttes, zu den Stätten seiner Herrlichkeit, wie David es am Schluss des oben zitierten Psalmes ausspricht: Ich wasche in Unschuld meine Hände und schreite um Deinen Altar, o G-tt!
Und trifft er einmal auf eine Gesellschaft, die seiner spottet, dann soll er sich an den Spott nicht kehren, er mag dem Spötter mit gleicher Münze zahlen und ihn verachten.
Gesetzt den Fall, er könnte an einem Geschäft viel Geld verdienen, würde er sich da in seinen Unternehmungen beeinflussen lassen von dem Spott der Freunde? Und wo es seine Seele gilt, da Sollte der Spott ihn einschüchtern?! Nein, „sei dreist wie ein Panther“, mahnen unsere Weisen, „wenn es gilt, den Willen deines Vaters im Himmel zu vollstrecken“ (Pirke Awot (5,20). Und David spricht: „Ich rede von Deinen “Satzungen vor Königen, ich schäme mich nicht“ (Tehillim 119,46). Die meisten Könige denken nur an ihre Macht und ihre Vergnügungen, und wenn sie zusammen kommen, dann reden sie nur davon, und David als König hätte sich ihrer Gesellschaft eigentlich schämen müssen, von der Tora und der religiösen Vertiefung zu reden, anstatt in ihre Unterhaltung einzustimmen; aber er kümmert sich nicht darum, er lässt sich von diesem Tand nicht betören, er hatte eben die Wahrheit erfasst, und darum verkündet er: „ich rede von Deinen Satzungen vor Königen, ich schäme mich nicht.“ Und Jesaja spricht das Gleiche aus: „Darum mache ich mein Antlitz zum Kieselstein, ich weiss, dass ich mich nicht schämen darf!“ (Jesaja 50, 7).
Fortsetzung folgt ijH
übersetzt von Dr. J. Wohlgemuth (1906)