Wenn einer eine Grube gräbt

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grube

Staub wirbelte durch die Luft und bedeckte die ganze Gegend, soweit das Auge reichte. Alles war gelb, endlos gelb. Wohin man auch schaute, man sah nur endlose Flächen vom safranfarbenem Staub, der sich auf jeder Düne und jedem Hügel niederliess. Wenn man in den Himmel blickte, musste man unwillkürlich den Blick senken; es war einfach unmöglich, dem starken Strahl der Sonne standhalten zu können.

Eine Karawane von drei Pferden und ihren Reitern durchquerte die Wüste. Nur mit grosser Mühe hoben die Pferde ihre Hufe, ihre Zungen hingen vor Durst heraus. Die Reise von mehreren Tage hatte sie ganz ausgetrocknet.

Einer der Reiter hielt sich eine Hand vor die Augen und versuchte, in die Ferne zu schauen. “Kein Lebenszeichen am Horizont”, meinte er eher enttäuscht.

“Gib nicht so schnell auf, Esra”, entgegnete sein Freund. “Nach meinen Berechnungen sind wir nur noch eine halbe Tagesreise von Bagdad entfernt. “Was sagst Du, Jecheskel?”, sprach der Dritte. “Wir können doch nicht das Risiko eingehen und den Schabbat entweihen? Hast Du vergessen, dass heute Freitag ist?”

“Habe ich gesagt, dass wir am Schabbat reiten sollen, Massoud? Was hältst du von mir?” meinte Jecheskel entrüstet. “Wir werden bis am Mittag reiten. Wenn wir Bagdad vor uns sehen, gut, und wenn nicht – nun, dann werden wir Schabbat in der Wüste feiern.”

Und dies taten sie dann auch. Sie ritten noch einen halben Tag lang weiter, aber ohne ein Zeichen der Zivilisation weit und breit zu sehen. Danach hielten sie ihre Pferde bei einer Quelle an, schlugen Pflöcke in den Boden, und bald stand ihr schnell aufgestelltes Zelt im warmen Wind.

Sie waren alle erfahrene Männer, die sich mit dem Wüstenleben gut auskannten. Es war nicht das erste Mal, dass sie Schabbat an einem unfruchtbaren Platz verbrachten. Aus Erfahrung wussten sie,dass diese leere Wüste, die des Nachts so still und unscheinbar schien, in Wirklichkeit nach Einbruch der tiefen Dunkelheit von Räubern und Banditen belebt war, die unachtsame Reisende überfielen. Deshalb gruben sie eine tiefe Grube und versteckten ihr Geld darin, nach der Meinung von Schmuel (Bawa Mezia 42): “Geld hat keinen Schutz außer in der Erde.”

Nach der Schabbatmahlzeit und dem Singen der Semirot legten sie sich alle schlafen. Schon nach kurzer Zeit herrschte tiefe Stille, und alle waren eingeschlafen.

Aber in Wirklichkeit hatte einer der Partner genau auf diesen Moment gewartet. Vom Moment an, wo sie das Geld in der Erde versteckt hatten, war ein Gedanke in ihm wach geworden. Sobald er ganz sicher war, dass die andern zwei schliefen, erhob er sich.

“Sie werden nie herausfinden, wer es getan hat”, murmelte er vor sich hier. Leise grub er im Sand, bis er das Geld gefunden hatte.Dann suchte er eine neue sichere Stelle, grub dort ein Loch, und verstecke das ganze Geld dort. Seine Freunde schliefen weiter den erholsamen Schlaf des Schabbat.

“Ausgezeichnet”, freute sich der Dieb. “Der ganze Verdienst des letzten Monats wartet auf mich. Nächste Woche werde ich zurückkommen und mir das Ganze holen.”

Die Partner wachten am Sonntagmorgen auf, und machten sich reisefertig. Als sie jedoch in der Erde gruben und feststellten, dass keine einzige Münze zu finden war, waren sie zutiefst erschrocken und entsetzt.

“Einer von uns ist ein Dieb!” riefen sie zusammen aus. Jeder begann, den andern zu verdächtigen.

“Freunde! Halt! Hört auf.” schrie Jecheskel. “Wollen wir einander umbringen wegen ein paar Münzen? Es gibt eine Gerechtigkeit, und es gibt einen Richter!”

“Wie kann der Richter jedoch entscheiden” jammerte Esra, “Richter kennen sich mit dem Gesetz aus, aber es ist nicht ihre Aufgabe, Geheimnisse zu kennen. Wie werden sie uns sagen können, wer von uns drei das Geld genommen hat?”

“Ich habe nicht gesagt, dass wir vor ein Gericht gehen sollen”, erklärte Jecheskel. “Wir werden zum Haus des neuen Rabbi von Baghdad gehen, Raw Josef Chajim, dem Ben Isch Chai. Man sagt, dass der g’ttliche Geist auf ihm ruht. Ich habe auch gehört, dass er in seiner riesigen Weisheit tiefe Geheimnisse gelüftet und viele verborgene Dinge entdeckt hat.”

Nur wenige Stunden trennten sie noch von Baghdad, aber diese Paar Stunden zogen sich wegen der düsteren Atmosphäre und dem Verdacht, den jeder gegen die andern hegte, sehr in die Länge. Jeder verdächtigte die andern; auch der Dieb tat, als wäre er wütend.

Endlich hatten sie den Stadtrand erreicht. Palmenhaine umringten die Stadt, und boten müden Reisenden willkommenen Schatten. Sie überquerten die Brücke, die den Chidekel (Tigris) überspannte, dessen Wasser still unter der Brücke floss. Auf der anderen Seite angekommen, machten sie sich gleich zum Haus des Rabbi auf.

Raw Josef Chajim hörte sich ihre Geschichte an. Sie schien wirklich wie ein unlösbares Rätsel. Da waren drei Männer, jeder voller Vorwürfe, jeder überzeugt, dass einer der andern zwei der Dieb ist, während er selbst seine absolute Ehrlichkeit bezeugte.

“Ich bin bereit, mein Urteil abzugeben” , verkündete er schließlich, “doch möchte ich Euch zuerst eine Geschichte erzählen.”

„An einem warmen Tag ging eine junge Prinzessin, die zwölfjährige Tochter des Königs, in der Dämmerung hinaus aus dem Palast, um etwas frische Luft zu schnappen. Sie vergnügte sich eine Weile im Obstgarten und genoss die kühle Brise. Der unbeaufsichtigte Spaziergang schien sie zu betören, da sie noch nie zuvor mehr als nur ein paar Schritte vom Palast entfernt allein unterwegs gewesen war.

Bald senkte sich der dunkelblaue Mantel der Nacht über den grossen Garten, und die Tochter des Königs merkte unverhofft, dass sie sich verirrt hatte. Sie fand sich plötzlich an einem ihr total unbekannten Ort auf einer verlassenen Straße wieder. Sie begann zu weinen.

Sie jammerte bitter, als ein vorbeigehender Bettler auf sie zukam,und sie fragte, weshalb sie so verzweifelt sei. Unter Tränen erzählte sie ihm von ihrer Not.

“Du willst zum Palast des Königs gehen?” fragte er. “Kein Problem. lch kenne mich hier gut aus, und werde dich dorthin führen.”

“Wie kommt es, dass Sie sich hier so gut auskennen?” fragte das verlorene Mädchen.“Ich kaufe Eier in den Dörfern, und reise in die Städte, wo ich meine Ware verkaufe”, erwiderte der Bettler. „Ich kenne mich hier aus.“

Die finsteren Straßen, die vor kurzem noch so furchteinflössend erschienen waren, Verwandelten sich in freundliche Wege. Schon nach kurzer Zeit stand das verirrte Kind wieder im Palast ihres Vaters, unverletzt und erleichtert.

Die Prinzessin war sehr gerührt und wusste nicht, wie sie ihrem Wohltäter danken sollte, der sie aus der Finsternis ins Licht gebracht hatte. Plötzlich schwor sie, dass sie, wenn sie einmal heiratsfähig sein wird, nur ihn und niemand anderen heiraten würde.

Der Eierverkäufer lachte. “Dumme Prinzessin, ich wollte Dich doch bloss von den bösen Menschen schützen, die diese Straße heimsuchen. Weshalb ein solches Getue machen?”

“Nein, nein!”, rief die Prinzessin aufgeregt, “Ich werde niemand anderen heiraten!”

“Schön, schön” lachte der Mann. “Eine Prinzessin soll einen mittellosen Bettler heiraten. Ganz schön.”

Die Jahre vergingen. Die Prinzessin, die ein junges Kind gewesen war, als sie sich verirrt hatte, war inzwischen erwachsen geworden.

Könige und Herrscher kamen mit Heiratsanträgen zum Palast, und jeder glaubte, den besten Vorschlag zu haben. Aber die Prinzessin weigerte sich: Sie blieb dem einstigen Eierverkäufer treu, und lehnte alle Vorschläge ab. Aber eines Tages wurde ihr der Sohn eines der mächtigsten Könige der Region als Mann vorgeschlagen, und ihr Vater zwang sie, den jungen Erben zu heiraten.

Nach der königlichen Hochzeit, an der das ganze Volk mitfeierte,verzog sich das junge Paar. Aber unter dem Schleier vergoss die Prinzessin bittere Tränen.“Was ist geschehen?” fragte der erschrockene Prinz.

“Ich bin eine Sünderin”, erwiderte sie traurig. “Heute Abend habe ich mein Versprechen gebrochen!” Unter Schluchzen erzählte sie ihrem jungen Ehemann von dem Versprechen, das sie dem armen Eierverkäufer gegeben hatte.

Der Prinz, der sehr klug war, verstand, dass nichts helfen würde, um sie zu beruhigen. “Du hast recht”, meinte er nach kurzem Überlegen. “Wir müssen den Bettler finden, und von ihm hören, ob er Dich an dein kindliches Versprechen gebunden hält, oder ob er bereit ist, zu verzichten.”

Das junge Paar fuhr viele Stunden in ihrer hübschen Kutsche, bis sie die Hütte des Mannes in einem Vorort der Stadt fanden. Sie klopften laut an und weckten ihn aus dem Schlaf.

“Die Prinzessin ist zu mir gekommen?” Der Bettler stand ganz entsetzt vor ihnen. “Hat das königliche Paar keinen besseren Platz für ihre Übernachtung finden können, als meine armselige Hütte?”

Die Prinzessin erklärte den Grund ihres Kommens. Als er die Worte der Prinzessin hörte, war der Bettler sehr gerührt von der edlen Natur der Prinzessin. Er erklärte sogleich: “Ich annulliere den Schwur der damals zwölfjährigen Prinzessin. Ich erhebe keinerlei Ansprüche.

Ein schwerer Stein rollte vom Herzen der Prinzessin; das letzte Hindernis auf dem Weg zu ihrem Glück war beseitigt. Jetzt gab es nichts, das ihre Freude hätte stören können.

Die Räder der Kutsche waren gerade wieder ins Rollen gekommen, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein neues Hindernis erschien: ein Hindernis in Form einer Bande Räuber, die der königlichen Kutsche während Stunden gefolgt war, und auf den Moment gewartet hatte, da sie die wertvollen Hochzeitsgeschenke stehlen konnten.

Die gezückten Schwerter und der mörderische Ausdruck in den Augen der Räuber ließen keine Zweifel. Bräutigam und Braut flehten um ihr Leben. Unter Tränen erzählte die Prinzessin dem Räuberhäuptling, weshalb sie an diesen Ort gekommen waren, von ihrem Versprechen, und wie sie dem alten Bettler treu geblieben war, der sie vor so langer Zeit beschützt hatte.

Das grausame Herz des Bandenfiihrers taute auf; die Geschichte der Prinzessin hatte längst verloren geglaubte Gefühle in ihm erweckt. Er befreite die Braut und Bräutigam und ließ sie ziehen, ohne auch nur ein einziges Goldstück von ihnen zu nehmen!

“Wisst Ihr”, wandte sich nun Reb Josef Chajim an die drei Händler. “Ich habe mich schon immer gewundert: Wer ist der wahre Held der Geschichte? Ist es die Prinzessin, die ihr Versprechen gegenüber dem armseligen Bettler halten wollte, der ihr nur eine kurze Zeit lang geholfen hatte? Oder ist es vielleicht der Bettler selbst, der die Chance hätte wahrnehmen können und sein schweres Leben gegen den Reichtum des Schwiegersohns des Königs hätte eintauschen können?

“Oder vielleicht”, und nun schaute Reb Josef Chajim die drei mit durchdringendem Blick an, “war es der Bandenführer, der die grösste Heldentat getan hat? Er hätte ein riesiges Lösegeld fordern können; der König hätte bestimmt sein Vermögen hergegeben, um seine geliebte Tochter und ihren jungen Ehemann auszulösen;nichts wäre ihm zu viel gewesen. Mit einer Handbewegung gab der Räuber alles auf, und nahm nicht einmal ihr Geld!“

„Nun, da drei weise Händler, von den Angesehensten in Bagdad, zu mir gekommen seid, habe ich gedacht, dass jetzt die Zeit gekommen ist, um mir Klarheit in dieser Sache zu verschaffen. Was hält ihr von der Geschichte?”

Die Männer saßen tief in Gedanken versunken da. Raw Josef Chajim hatte ein klares Bild gezeichnet, eines, das sie fast hypnotisiert hatte. Die Geschichte schien von den Wänden zu widerhallen,und in ihrer Phantasie konnten sie das deutliche Bild der Prinzessin und der Räuber sehen, dunkle Gassen, luxuriöse Kutschen…

Dann unterbrach die Stimme von Massoud die Stille.

“Die Prinzessin ist ganz bestimmt nicht die Heldin; sie war bloss ein törichtes Kind. Sie hat gar nichts Besonderes getan. Der Bettler war klug. Er wusste, wo er hingehörte. Er hatte nichts im königlichen Palast zu suchen.“

“Aber”, fuhr Massoud fort, “der Räuberhäuptling ist ganz bestimmt ein Mann, den man bewundern muss. Das Paar war ihm ausgeliefert. Er hatte sie ganz in seiner Macht. Auch wenn er sie nicht töten wollte, hätte er ohne weiteres ihr Geld nehmen können, und doch hat er nichts davon berührt!”

Gib’s zu, Du Missetäter”, rief Raw Josef Chaiim. “Du bist der Dieb! Du hast das Geld Deiner Partner gestohlen. Du denkst an nichts anderes als Geld!”

Die Stimme des Händlers zitterte. “Unser Rabbi ist ein Mann G’ttes. Sie haben in Ihrer Prophezeiung gesehen, wie ich das Geld aus der einen Grube genommen habe, und es in einer neugegrabenen versteckt habe.”

“Nein, ich sah nichts durch Prophezeiung”, erwiderte der Raw, “Du hast die Grube selbst gegraben – mit Deinen eigenen Worten!

Mit Erlaubnis des DJZ-Verlags

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