- Beerot Izchak Deutschland - http://beerot.de -

Wochenabschnitt Nizawim – Die Tora ist nicht für Engel

„Denn dieses Gebot, das ich dir heute gebiete – es ist nicht verborgen und nicht fern. Es ist nicht im Himmel… Vielmehr ist es ganz nahe bei dir – in deinem Mund und in deinem Herzen, damit du es ausführst (Dewarim 30,11-14)”.

In der Psychologie spricht man vom „verleugneten Selbst“, d. h. es gibt Facetten der Persönlichkeit, die man verleugnen kann. Es kann Gefühle geben, welche uns so sehr abstoßen, dass wir nicht einmal uns selbst gegenüber zugeben können, dass wir zu etwas so Abscheulichem fähig sind. Solche Gedanken und Gefühle können verdrängt werden, d.h. sie werden im Unterbewusstsein vergraben und kommen, hofft man, nie zum Vorschein.

Ein Gedanke, der im Unterbewusstsein vergraben ist, schlummert aber nicht einfach so vor sich hin. Vielmehr versucht sie, ins Bewusstsein zu dringen. Eine Person muss Energie aufwenden, um die Idee zu unterdrücken, und manchmal entwickelt sie ein oder mehrere Abwehrmechanismen, um die Unterdrückung zu verstärken. Diese Abwehrmechanismen sind oft Ursache für krankhafte psychische Symptome.

Es gibt einen viel effizienteren Weg, mit inakzeptablen Ideen und Gefühlen umzugehen.

Man sollte erkennen, dass der Mensch ein zusammengesetztes Wesen ist, das aus einem im Wesentlichen tierischen Körper und einem G-ttlichen menschlichen Geist besteht. Der Körper hat alle Wünsche und Triebe eines Tieres, und die Aufgabe des Geistes ist es, diese zu beherrschen und im Idealfall diese Energien konstruktiv zu kanalisieren.

Lust kann in das Verlangen nach spirituellen Zielen umgewandelt werden, Zorn kann in Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeit umgewandelt werden, Neid kann in den Wunsch umgewandelt werden, die spirituellen Höhen der Zaddikim zu erreichen, usw. Jeder Impuls kann sublimiert werden, aber anstatt dass die Sublimierung auf einer unterbewussten Ebene stattfindet, kann sie ein bewusster Prozess sein. Solange sich ein Impuls im Unterbewusstsein befindet und der Mensch sich seiner Existenz nicht bewusst ist, findet ein innerer Kampf gegen einen unbekannten Feind statt. Wenn der Gedanke oder das Gefühl ins Bewusstsein aufgenommen werden kann, ist man besser in der Lage, damit umzugehen.

Im Midrasch heißt es, als Mosche [1] in den Himmel aufstieg, um die Tora zu empfangen, hätten die himmlischen Engel Einspruch erhoben und zu G-tt gesagt: „Die Tora ist zu heilig, um sie Sterblichen zu geben, die sie nicht schätzen und verehren werden. Lass die Tora hier bleiben, unter uns.“

G-tt befahl Mosche, das Argument der Engel zu widerlegen.

Mosche sagte: „In der Tora steht: ‚Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren‘. Gilt das auch für euch? Die Tora sagt: Du sollst nicht stehlen. Seid ihr fähig, etwas zu stehlen? Die Tora sagt: „Du sollst nicht morden. Könnt ihr euch gegenseitig umbringen?“ Mit diesem Argument triumphierte Mosche über die Engel und brachte uns die Tora.

Die Pointe dieses Midraschs ist, dass Engel völlig geistig sind und keine Tora brauchen. Gerade wegen der tierischen Komponente im Menschen brauchen wir die Tora. Wenn jemand wissen will, welche Triebe zur menschlichen Natur gehören, braucht er nur die 365 Verbote der Tora zu lesen. Jedes von ihnen ist ein Gebot, etwas zu vermeiden, das unser tierischer Körper begehrt! Warum sollte man also ein Gefühl verleugnen, als ob es bedeutet, dass man dekadent ist? Es gibt keinen Grund, irgendeinen Gedanken oder ein Gefühl zu verleugnen.

Wir müssen nur erkennen, dass diese von unserem tierischen Körper stammen und dass es unsere Pflicht ist, sie zu beherrschen.

Tiferet Jisrael über die Mischna zitiert einen Midrasch, wonach ein König, der von der Größe von Mosche gehört hatte, seine Künstler in das israelitische Lager in der Wüste schickte, um ein Bild von Mosche zu zeichnen. Als sie zurückkehrten, übergab er das Bild seinen Physiognomikern, den Weisen, die den Charakter eines Menschen durch eine Studie seines Gesichts beschreiben konnten. Die Physiognomiker berichteten, dass es sich bei diesem Bild um eine Person handelte, die narzisstisch, arrogant, lüstern und zu den schlimmsten Verhaltensweisen fähig war. Dies war so unvereinbar mit dem, was er über Mosche gehört hatte, dass er beschloss, sich selbst ein Bild zu machen.

Als er Mosche traf, stellte er fest, dass das Bild, das seine Künstler gezeichnet hatten, bis ins kleinste Detail stimmte. Er fragte Mosche, wie sich seine Physiognomiker so sehr irren konnten. Mosche erklärte, dass die Physiognomiker nur die Charaktereigenschaften beschreiben können, mit denen ein Mensch geboren wurde. „All diese Dinge, die sie über mich gesagt haben, sind angeboren. Ich wurde mit all diesen Merkmalen geboren. Aber ich habe sie alle umgewandelt und sie auf positive und wünschenswerte Ziele ausgerichtet“ (Tiferet Jisrael, Ende Kidduschin).

Das ist es, was Mosche den Israeliten sagte. „Die Tora ist nicht im Himmel. Sie ist nicht für Engel bestimmt, die keine unlauteren Impulse haben. Sie ist die Tora für Sterbliche, für Menschen, deren tierischer Körper Wünsche erzeugen kann, die man vielleicht als fremd ablehnen möchte. Das ist aber nicht nötig. Wir haben die Kraft und die Fähigkeiten, unser Verhalten zu beherrschen.”

„Es ist dir sehr nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen, es auszuführen.“

Der Rambam sagt, dass jeder Mensch wie Mosche sein kann. Was er damit meint, ist, dass jeder Mensch in der Lage ist, alle Triebe, die von unserem physischen Körper ausgehen, bewusst zu sublimieren. Es besteht keine Notwendigkeit, irgendeinen Teil des eigenen Selbst zu verleugnen.