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Der dreifache Faden – 2. Kapitel – Reisen auf den Flügeln des grossen Adlers

Biographie von Rabbi Mosche Sofer (Chatam Sofer) SZL

geschrieben von seinem Enkel Rabbi Schlomo Sofer SZL
übersetzt von Dr. Leo Prijs SZL

KOMM und vernimm, lieber Leser, einiges über die Ursachen, die dazu geführt haben, dass der Gaon Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, seine Geburtsstadt verließ, um in die Ferne zu wandern und ein Rabbinat zu bekleiden, das seinem Wesen, seiner Würde und seiner Bedeutung durchaus nicht angemessen war.

Sieh, seit den Tagen der Volkswerdung Israels entstanden allen Männern, die sich irgendwie hervortaten, auch erbitterte Gegner, die ihre Ehre in den Staub zu ziehen suchten.

Gewiß, die meisten wußten sie nach ihrem vollen Wert gebührend zu schätzen, priesen sie und erhoben sie; aber es fand sich stets eine Minderheit, die den Großen ihren Ruhm missgönnen und aus lauter Neid ihnen Hindernisse in den Weg zu legen suchte. Selbst unser Lehrer Mosche, das Oberhaupt Israels, war nicht gegen Verleumdungen gefeit, und so stießen je und je große Persönlichkeiten auf Widersacher, die es sich zur traurigen Aufgabe machten, insgeheim oder öffentlich ihren etwaigen Fehlern nachzuspüren. Und so war es auch der Fall beim Mann G-ttes, dem heiligen Rabbi Nathan Adler, auf den ja aller Blicke gerichtet waren, und dessen Aufführung und Handlungsweise im Brennpunkt des Interesses standen.

Es ist bekannt, dass in Frankfurt am Main wie in den übrigen Gegenden Deutschlands seit Urväter Zeiten der sogenannte aschkenasische Ritus maßgebend ist, sowohl im Gebet als auch in sonstigen religiösen Gebräuchen. Rabbi Nathan Adler aber wich von diesem Weg ab; er richtete sich im Gebet nach dem sefardischen Ritus und wich auch sonst vom üblichen Brauchtum ab. Dies war einer der Gründe, warum viele in der Stadt gegen ihn murrten und zu Felde zogen.

Ein weiterer war folgender.

Seine Verehrer und seine Hausleute, Kenner der Lehre und Kenner des Lebens, sowie seine Schüler, wissensreiche Jünglinge — sie alle rühmten ihn über die Maßen und berichteten dabei von seinen übernatürlichen Fähigkeiten, von den Zeichen und Wundern, die er getan und die sie mit eigenen Augen geschaut. Dies erregte bei manchen Widerwillen, denn in Frankfurt am Main war man nicht daran gewöhnt, dass heilige Männer sich auf die geheimen Künste verstanden. Und wenn es auch niemandem schwer fiel, Rabbi Nathan die Beherrschung dieser Wissenschaft zuzutrauen — wussten doch alle, von klein bis groß, um die Größe seiner geistigen Kraft — so schreckte man doch in manchen Kreisen schauernd vor ihm zurück, denn die Kunde der von ihm vollbrachten Dinge wurde ohne sein Wissen und ohne seinen Willen in allen Straßen und Gassen herumgeboten, auch außerhalb der Stadtmauern.

Und damit nicht genug. Einige seiner Schüler gingen entschieden zu weit, in dem sie von sich behaupteten, dass sie, “wenn nicht Propheten, so doch Prophetenjünger” seien; in anmaßender Art und Weise erschreckten sie das Publikum und schüchterten es ein; sie berichteten über ihre angeblichen Träume und Visionen und verstörten damit die Geister. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, dass jenes Vorkommnis noch nicht vergessen war, das mit dem Tode zweier angesehener Menschen endete (wie oben berichtet), und dass die Eltern und Anverwandten der beiden alles in Bewegung setzten, um die Öffentlichkeit gegen Rabbi Nathan und seinen Anhang aufzuwiegeln, so können wir es verstehen, dass sich die Vorsteher schließlich veranlaßt sahen — es war im Jahr 5539 (1779) — in allen Synagogen verkünden zu lassen, dass es von Stund an niemandem erlaubt sei, am «Minjan» (Privat-G-ttesdienst) des Rabbi Nathan teilzunehmen, das in dessen Haus stattfand.

Zuwiderhandlungen zögen unweigerlich die Strafe des Bannes nach sich.

Rabbi Nathan kümmerte sich nicht im Geringsten darum und hielt nach wie vor die Gebetsversammlung in seinem Haus ab, bis ihm ein Edikt des Vorstandes die weitere Aufrechterhaltung eines G-ttesdienstes, sei es in seinem oder in einem anderen Haus, ausdrücklich untersagte. Dadurch war er gezwungen, sich zum Gebet in eine der öffentlichen Synagogen zu begeben. Wenn er weiterhin die kalte Schulter zeigen sollte, so hieß es weiter, müsste man ihn, G-tt behüte, mit dem Bann belegen.

Um dem Erlaß jedoch die persönliche Spitze zu nehmen, faßte man ihn allgemein und verordnete, Rabbi Nathans Ehre zulieb, die Auflösung sämtlicher Privat-G-ttesdienste der Stadt außer demjenigen der Absolventen der Jeschiwa (Talmudhochschule). Unterzeichnet war das Edikt vom gesamten Rabbinat: Rabbi Pinchas Halewi Isch Horowitz (Verfasser des Hafla’ah), Oberrabbiner; Rabbi Nathan Maß, Vorsitzender des Gerichtshofes; Rabbi Jakob Schames; Rabbi Abraham Trier; Rabbi Meir Schiff; Rabbi Sanwel Drach; Rabbi Chajim Josef Gundersheim. Ferner unterschrieben alle Vorsteher der Kehilla, insgesamt 14 Männer[1] [1].

So musste Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, wohl oder übel seinen Privat-G-ttesdienst aufgeben.

Den oberflächlichen Betrachter der Ereignisse muß es mit Verwunderung erfüllen, dass man gar so wenig Rücksicht nahm auf die Person Rabbi Nathans, den man allgemein hochschätzte als einen großen, einen heiligen Mann, auf den der Toravers angewendet werden kann: «Vollkommen einwandfrei bist du, kein Fehl ist an dir.» Wie konnte man nur gegen ihn zum Kampf ausziehen mit Schwert und Lanze?

Am Erstaunlichsten erscheint dabei das Verhalten des Oberrabbiners, des Verfassers des Werkes Hafla’ah, über den mir von Frankfurtern die Überlieferung mitgeteilt wurde, dass er nach seinem Amtsantritt immer dann, wenn sich ihm ein kompliziertes religiöses oder weltliches Problem darbot und er nicht ein noch aus wußte, Rabbi Nathan in seinem Haus aufzusuchen pflegte, um seinen Mund zu befragen und sich mit ihm zu beraten, solange bis Rabbi Nathan in seiner übergroßen Bescheidenheit ihm sagte, es sei nicht schön und nicht passend für einen Oberrabbiner von Frankfurt, seiner Ehre soviel zu vergeben und sich in eigener Person in das Haus eines ganz gewöhnlichen Mitgliedes seiner Gemeinde zu verfügen, um sich mit ihm zu beraten.

«Überhaupt benötigt mein Herr», so fügte er hinzu, «weder mich, noch mein Wissen, noch meinen Rat; wenn es aber trotz alledem der Wille meines Herrn ist, mit mir zu reden, möge er mich doch holen lassen; sei es auch Mitternacht:

prompt werde ich seinem Rufe Folge leisten und gehorsam bei ihm erscheinen.» Daraus ist deutlich ersichtlich, in welchem Maß der Gaon Hafla’ah Rabbi Nathan Adler zugetan war und trotzdem ließ er ihn diesmal im Stich und wurde vom Freund zum Feind; ist dies nicht etwas Merkwürdiges?

Jedoch, wenn wir uns etwas eingehender mit den Hintergründen der Angelegenheit befassen, finden wir die Lösung der Frage. In jenen Zeitläuften erbebte die Erde vom Kampf, der in Polen und Russland gegen die aufstrebende Bewegung der Chassidim geführt wurde. Der heilige Gaon Rabbi Elijahu von Wilna [2], sein Andenken zum Segen, und gleichzeitig mit ihm weitere Größen in Israel sandten an alle größeren jüdischen Gemeinden Rundschreiben, in denen scharf ihre kämpferische Einstellung gegen die Chassidim zum Ausdruck kam, und in denen sie zur Verfolgung der neuen Partei aufforderten, welche die eingeführte Gebetsordnung und sonstige Bräuche abzuändern sich nicht scheuten. Die Rundschreiben waren sehr ausführlich gehalten und handelten über jeden der abgeänderten Bräuche.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit eine Anekdote aus jenen Kämpfen anführen, die ich gehört habe und die mir der Wiedergabe wohl wert erscheint.

Als der Wilnaer Gaon und die größten seiner Schüler auszogen, um den Chassidismus zu verfolgen und jenen großen schwerwiegenden Bannfluch über die Anhänger dieser Richtung verhängten und mit ihrer Unterschrift bestätigten, da geschah es, dass sie auch zu einem Gaon kamen, «jung an Jahren, aber Vater an Weisheit», zu Rabbi Salman Woloschin, sein Andenken zum Segen, der zu den Lieblingsschülern des Wilnaer Gaon gehörte. Ihn baten sie, er möge den besagten Bannspruch mitunterzeichnen, Er leistete jedoch dieser Aufforderung keine Folge, worüber sie sich sehr wunderten.

«Nachdem unser großer Meister, sagten sie, «mit dem Beispiel vorangegangen ist, wer würde ihm nicht folgen?» Er aber antwortete ihnen: «Hört doch meine Worte! In unserer heiligen Tora heißt es bei der Opferung Jitzchaks: Da rief ein Engel G-ttes vom Himmel ihm zu: «Strecke nicht deine Hand aus nach dem Knaben und tue ihm nicht das Geringste.» Dies ist insofern erstaunlich, als nicht einzusehen ist, wieso sich plötzlich ein Engel an unseren Erzvater Abraham wendet. War es denn ein Engel gewesen, der ihm befohlen hatte, seinen Sohn zu opfern, sodass er jetzt den Befehl zurückziehen könnte ?

Hat nicht vielmehr unser Erzvater Abraham, Friede mit ihm, von G-tt selbst vernommen :

«Nimm deinen Sohn und bringe ihn zum Ganzopfer dar»? Wie konnte also Abraham jetzt einem Engel folgen und dem Knaben nichts zuleide tun? Wenn nun Abraham trotzdem die Worte des Engels für verbindlich gehalten hat, so können wir daraus entnehmen, dass, um einen Menschen nicht opfern zu müssen, auch die Erlaubnis eines Engels hinreicht; der Befehl, einen Menschen zu opfern, muß hingegen vom Heiligen, gelobt sei Er, selbst ausgesprochen werden, um Gültigkeit zu besitzen.

So ist es auch in unserem Fall. Wenn auch unser Lehrer Rabbi Elijahu einem Engel des G-ttes der Heerscharen gleicht — um einen Menschen gleichsam zu opfern, hinzurichten, bedarf es eines Befehles von G-tt selbst.» Dies waren seine klaren, reinen Worte. Und als die Sache seinem Lehrer, dem heiligen Gaon, zu Ohren kam, drangen die Worte seines Schülers in sein Herz und er zog fürderhin seine Hand von den Auseinandersetzungen zurück und beteiligte sich nicht mehr aktiv an ihnen.

Am meisten fürchteten sich und zitterten zu jener Zeit die Großen Israels deshalb vor jeder Änderung und Neuerung,

weil die berüchtigte Sekte des Sabbatai Zwi, sein Name möge ausgelöscht werden, dazumals noch ihre verderbliche Tätigkeit in Polen und Deutschland entfaltete und die Anhänger dieser Bewegung sich wie die Chassidim viel mit Kabbala und Zahlenmystik befassten. Es sah so aus, als hätten sich die Sabbatianer den Mantel des Chassidismus umgeworfen, um damit ihrer Gesinnung, die freilich von der chassidischen sehr verschieden war, vor der Außenwelt zu verhüllen. Man sah es ihnen nicht mehr an, dass das Bitterwasser der Abtrünnigkeit in ihr Inneres gekommen war. Es war nicht mehr erkennbar, ob einer der Sekte Sabbatai Zwis angehörte, deren Wurzel Gift und Wermut trieb, oder ob er zu den Chassidim gehörte, in deren Herz der wahre Glaube verankert war. Daher die besondere Furcht vor den Sabbatianern.

Nachdem man nun in der Aufführung der Leute um Rabbi Nathan Adler, sein Andenken zum Segen, in mancher Hinsicht Ähnlichkeit mit derjenigen der Chassidim wahrnahm, war man keinesfalls gewillt, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sondern man suchte die Männer an ihrem Tun vollständig zu hindern. In Prag untersagte der Gerichtshof zu jener Zeit aus ähnlichen Erwägungen heraus jede Beschäftigung mit der Kabbala.

Da infolge dieser Entwicklung Streit und Hader zwischen den Anhängern Rabbi Nathans und den gemeindetreuen Leuten nicht zu vermeiden war, zögerte Rabbi Nathan nicht lange und verließ seine Heimatstadt, als eine ehrenvolle Berufung ihm die Möglichkeit eröffnete, an der höchsten Stelle einer prachtvollen und machtvollen Gemeinde, die Boskowitz damals war, ein neues Wirkungsfeld zu finden.

Fortsetzung folgt ijH

  1. sie sind aufgezählt im Buch Frankfurter Rabbinen von Rabbiner M. Horovitz, Frankfurt am Main 1882 ff. Teil IV, S. 46 Anmerkung [3]