Du sollst bleiben a Jid – das Buch von Rav Itzchak Silber – Vorwort

Datum: | Autor: Rav Itzchak Silber | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag

Mit Genehmigung von Harav Hagaon Benzion Silber schlite 

Vorwort

Niemals hatte ich vor, meine Erinnerungen zu schreiben. Ich meinte, dass es unschön ist, sich selbst darzustellen. In Privatgesprächen jedoch und in Vorträgen vor dem Publikum, kam es ja vor, dass ich Menschen und Ereignisse erwähnte, welche, wie es schien, (dem Zuhörer) viel beibringen konnten. Meine Gesprächspartner und Zuhörer versuchten mich zu überzeugen, dass die von mir geschilderten Ereignisse und Schicksale einen tiefen Eindruck machten und dass es schade wäre, wenn sie nicht zum Allgemeingut würden. Letzten Endes kam ich zur Einsicht, dass es wirklich wichtig ist.

Und wie kam es dazu, dass ich zu erzählen begann? Im Jahre 1972 kam ich nach Israel. Im selben Jahr bot man mir und noch zwei anderen Repatrianten „aus Russland“ an, nach Amerika zu fahren, um an einem Wohltätigkeitsdinner teilzunehmen, in dessen Rahmen Geld für das System der religiösen Bildung in Israel gesammelt wurde. Unsere Anwesenheit sollte zeigen, dass religiöse Schulen u.a. auch um der wachsenden Zahl der Kinder der neuen Repatrianten willen unterstützt werden müssen. Ich sagte zu. In Amerika fragte mich Rav Pinchas Taitz (mein Cousin, über ihn wird noch die Rede sein): „Möchtest du mit einem der klügsten Menschen der Welt sprechen?“ – und brachte mich zu Rav Itzchak Hutner, das Andenken des Gerechten zum Segen.

Rav Itzchak Hutner ist eine der größten jüdischen Autoritäten der Gegenwart. Unter den hervorragenden Persönlichkeiten unserer Zeit finden sich einige seiner Schüler, u.a. der in Israel lebende Rav Mosche Schapiro, ein tiefer Kenner des Talmuds und der jüdischen Weltanschauung, dessen Meinung großes Interesse und Respekt entgegen gebracht wird.

Ich kam bei Rav Hutner für zehn Minuten vorbei. Und blieb wahrscheinlich länger als eine halbe Stunde. Dieses Treffen veränderte vieles in meinem Leben und meinem Verhalten.

Rav Hutner wollte wissen, wie ich denn meine Kinder (in der Sowjetunion – als religiöse Juden) groß- und erzog. Ich begann zu erzählen, scheute mich aber, zu viel zu sprechen. Ob es gut ist, dachte ich, bei diesem großen Menschen zu Gast zu sein und über sich selbst zu schwatzen. Ich dachte mir: „wahrscheinlich rede ich Überflüssiges“, und entschuldigte mich – „verzeiht mir, Rebbe, dass ich viel rede“. Er rief aber aus: „Glaubt mir – wenn nicht die Scham, hätte ich geweint.  Erzählt, erzählt und erzählt allen!“.

Seither begann ich, zu erzählen. Wenn nicht der Rav, hätte ich niemals etwas erzählt. Früher schwieg ich. Sogar zuhause wusste man nicht um Einzelheiten, z.B. über das Lager. Als ich aus Amerika zurückkam und meine Frau mich hörte, wunderte sie sich: „Wieso hast du angefangen, alles zu erzählen?“ Es war aber Rav Hutner, der mir sagte: „Erzählt!“ Und ich sehe, dass er Recht hatte.

Was bleibt in unserem Gedächtnis? Was kommt zum Vorschein, wenn man sich zu erinnern beginnt? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht mehr jung, kam in Kasan im Jahre 1917 zur Welt. Und das Erste, woran ich mich aus der Kindheit erinnere, ist eine Handlung, die zu einem großen Unglück hätte führen können, aber erfreulicherweise ohne Folgen blieb.

Meine Eltern waren meine ersten und einzigen Lehrer, die Tora mit mir lernten. Ich war noch ganz klein, als ich las, dass zwischen uns Juden und G-tt ein Bund existiert. Der Vers, in welchem G-tt Awraham erscheint und sagt: „Und Ich werde Meinen Bund zwischen Mir und dir und zwischen deinen Nachkommen nach dir für ihre Geschlechter zum ewigen Bund aufrecht halten“ (Bereschit 17,7, Übersetzung hier und weiter von Rav Sch.R.Hirsch), erstaunte mich.  Ich fragte, was es bedeutet, und die Eltern erklärten mir, dass das einzige Volk, welches den Glauben an den einzigen G-tt nicht verlassen wird, die Juden sind. Danach  steht: „Und ich werde dir und deinen Nachkommen nach dir das Land deines Aufenthaltes, das ganze Land Kenaan, zum ewigen Eigentum geben“.

–      Bedeutet das, dass ich irgendwann in Eretz Jisrael leben werde?“, fragte ich.

Damals, in den zwanziger Jahren, schien es undenkbar! Aber die Eltern erwiderten: „du wirst!“ – und ich beschloss, zu handeln. Falls die Eltern Gründe haben, warum sie zaudern, so habe ich solche Gründe nicht, und habe nach Erhalt einer solchen Zusicherung von G-tt nicht vor, zu zögern.

Ich erfuhr von Passanten, wo sich das Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten befindet, ging dorthin und fragte nach dem Vorgesetzten. Ich komme zu ihm und sage:

–      Erlauben Sie mir, zu meinem Großvater nach Litauen (Litauen war damals noch nicht Teil der Sowjetunion), Stadt Raguva des Panevezher Bezirks auszureisen. Der Familienname ist Schapiro.

–      Was willst du in Litauen, Junge?

Ich  antwortete arglos:

–      Ich werde nach Palästina fahren müssen, und dorthin lässt man einen von Russland nicht ausreisen. Deswegen möchte ich nach Litauen fahren, und von dort – nach Palästina.

Der Vorgesetzte kritzelte etwas auf dem Papier.

–     Und wer sind deine Vater und Mutter? Für solch eine Erziehung muss man einsperren!

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich von dort weggelaufen bin. Erst  nach vielen Jahren verstand ich, welcher Gefahr ich Vater und Mutter aussetzte. Nur durch ein Wunder kann man es erklären, dass sie nicht verhaftet wurden. Und ich möchte hier meine Schuld bekennen. Ich handelte falsch. Aber ich war jung und naiv, ich war acht Jahre alt. Den Eltern, ihr Andenken zum Segen, habe ich von diesem Ereignis nicht erzählt.

Fortsetzung: Teil 1, Kapitel 1.

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